Читать книгу ICH, DIE FRAU DES TALIBAN - Dimitra Mantheakis - Страница 14

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Zu Hause half Nina mir, mich hinzulegen. Dann besorgte sie die Antibiotika, die der Arzt verordnet hatte, und einige Vorräte. Nach ihrer Rückkehr richtete sie sich im Nebenzimmer ein, weil sie mich nicht allein lassen wollte. Was würde ich nur ohne sie tun?, dachte ich. Irgendwann drückte sie auf den Knopf des Anrufbeantworters, um die Nachrichten abzuhören, vielleicht in der Hoffnung, dass Peter angerufen hatte. Doch das war nicht der Fall. Ich hörte nur die Stimme meiner Mutter, die fragte, ob es mir gut gehe, und die charmanten Witzeleien einiger Freunde, die sich mit mir treffen wollten. Weder Nina noch ich gaben einen Kommentar ab. Es hatte keine Bedeutung mehr, ob Peter anrief oder nicht; es war ohnehin zu spät.

Meine Freundin blieb einige Tage bei mir. Ich stand tief in ihrer Schuld. Sie hatte mich davor bewahrt, mir etwas anzutun, mich für die Fehler zu bestrafen, die Handlungen nach sich zogen, die nach meiner Religion und meiner Moral als schwere Sünden galten. Ich hatte schon bitter bereut, was ich getan hatte, und bat Gott, mir zu vergeben, ohne dies jedoch nur einen Augenblick für möglich zu halten.

Als das Semester wieder anfing, bestand Nina mit besonderem Nachdruck darauf, dass ich meine Vorlesungen besuchte. Ich sei es mir selbst, meinen Eltern, meinem Leben schuldig, sagte sie. Ich erkannte die Logik ihrer Argumente an und nahm langsam wieder die alte Routine auf; ohne Begeisterung, ohne Freude kam ich verbissen meinen Pflichten nach. Ich hatte meinen Appetit verloren, mein Gesicht hatte eine seltsam graue Farbe, meine Augen waren ständig von riesigen dunklen Ringen umkränzt. Meine Freunde fragten mich, ob ich krank sei, doch ich winkte gleichgültig ab. Ich wollte keine Erklärungen abgeben über das, was mir passiert war. Irgendwann erzählte ich ihnen, dass meine Beziehung mit Peter beendet war. Und sie bewahrten eine taktvolle Haltung und vermieden es, mir gegenüber irgendetwas zu erwähnen, das mich möglicherweise aufregen könnte.

Die Zeit verging. Ich tat, was ich tun musste, und zehrte dabei von Energievorräten, deren Vorhandensein ich nicht einmal geahnt hatte. Nur Nina bemerkte meinen fragilen Seelenzustand. Manchmal schalt sie liebevoll mit mir. Sie wollte nicht, dass ich mich den Ängsten, den Schuldgefühlen und der Verzweiflung ergab. So erfand sie laufend neue Aktivitäten, um mich beschäftigt zu halten, und erinnerte mich ständig an meine Familie, die ich, wie sie wusste, über alles liebte. Sie versuchte, mir Gründe zum Weiterleben aufzuzeigen. Ich hatte das Gefühl, mich durch ein widerstrebendes, feindliches und emotional steriles Leben kämpfen zu müssen. Nach unzähligen Diskussionen überzeugte Nina mich, dass mein Unglück mich nicht zu sehr verbittern, meinen Glauben an das Leben nicht beeinträchtigen dürfe. Trotz all meiner Sünden, die, wie sie behauptete, für Frauen in der ganzen Welt etwas vollkommen Normales seien, dürfe ich nicht zulassen, dass die unverdorbene geistige Unschuld und Reinheit, mit denen ich den Menschen bis vor kurzem begegnet war, verletzt würden. Im Gegenteil, sie müssten mich stärken, mich widerstandsfähiger und entschlossener machen. Würde ich es jemals schaffen? Würden die Depressionen aufhören, mir die Eingeweide zu zerfressen, die Bitterkeit, ihr Gift in mein Blut zu tröpfeln? Später einmal, hoffte ich. Im Moment war es sehr schwer.

Selbst meiner Familie antwortete ich nur noch einsilbig. Die Details, mit denen ich sie bis dahin überschüttet hatte, blieben aus. Sollte die enge Bindung mit den Meinen sich gelockert haben?

Nein, die wirkliche Ursache lag woanders. Die unsagbare Freude über den Zauber, den ich erlebt hatte, in Verbindung mit einer inneren Furcht vor gewalttätigen, aber gerechtfertigten Reaktionen von ihrer Seite, hatte mich isoliert. So behielt ich mein Geheimnis hermetisch verschlossen in meinem Innern. Unter meinen Lieben gab es, so glaubte ich, niemanden, der mich verstehen würde, der meine Leidenschaft nachempfinden könnte, meine Sorge, den schwierigen Weg, den ich gewählt hatte, als ich die Grenze überschritt und mich in einen Ausländer verliebte.

Meine Mutter, stets taktvoll, kommentierte mein Verhalten nicht, obwohl sie die Veränderung bemerkt haben musste. Meine Großeltern ließen sich ebenfalls nichts anmerken, während mein Vater ohnehin selten anrief, sich immer kurz fasste und sachlich, ohne überflüssige Gefühlsbekundungen mit mir sprach. Ich war allerdings sicher, dass mein Bruder Nabil wusste, dass mit mir etwas nicht stimmte. Bei seinen letzten Anrufen fragte er mich nachdrücklich, ob ich seine Hilfe brauchte, und versicherte mir, er würde sofort zu mir kommen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und beruhigte ihn, ich sei einfach vom Studium müde und gestresst, nichts anderes. Er schien mir zu glauben. Ich hoffte es jedenfalls, denn ich wollte meine Familie auf keinen Fall aufregen.

Drei Monate später geschah etwas sehr Unangenehmes. Ich war mit einer Freundin zum Einkaufen bei Harrod’s, als ich plötzlich auf Bill stieß, der in Begleitung eines hübschen, dunkelhäutigen Mädchens war. Als sich unsere Blicke kreuzten und ich zum Sprechen ansetzte, wandte er sich ab und entfernte sich. Meine Freundin, die ihn ebenfalls kannte, wunderte sich.

„Nanu, was ist denn in den gefahren? Ist der nicht ganz bei Trost?“, fragte sie mich.

„Kümmere dich nicht drum“, sagte ich und versuchte, meinen Unmut hinter einer Maske eisiger Gleichgültigkeit zu verbergen.

Als ich zu Hause war, rief ich Nina an und beschrieb ihr die Szene.

„Dieser Esel!“, kommentierte meine Freundin empört. „Er ist es nicht wert, dass du dich mit ihm beschäftigst.“

Es war das letzte Mal, dass ich ihn – oder Peter - in London sah oder von ihm hörte.

Inzwischen verlief mein Leben im gleichen einförmigen Rhythmus: Studium, Krankenhaus, seltene Treffen mit Freunden. Nichts davon machte mir wirklich Freude. Ich hatte an nichts mehr Interesse, fand nichts faszinierend oder packend wie früher. Oft war ich wegen meiner Schwäche auf mich selbst wütend. Aber so sehr ich auch versuchte, mich zusammenzunehmen, nichts war mehr wie zuvor. Ich begann, Heimweh nach meinem Land und meiner Familie zu bekommen, und der Gedanke, alles hinzuwerfen und nach Hause zurückzukehren, drängte sich mir immer häufiger auf.

Dann kam eines Tages das böse Erwachen durch einen Anruf, der mich erschütterte. Mein Bruder teilte mir mit, dass unser Vater bei der Explosion einer Mine schwer an der Brust verletzt wurde. Seine Begleiter wurden getötet, und er war nur davongekommen, weil er ein wenig hinter den anderen gegangen war. Sein Zustand war kritisch, und mein Bruder bat mich, nach Kabul zu kommen, wenn ich ihn noch lebend sehen wolle. Ich müsse über Pakistan fliegen, denn der Flughafen von Kabul sei wegen der dauernden Angriffe der Aufständischen nicht sicher. Dort werde er mich mit dem Auto abholen, um mich nach Hause zu bringen. Als ich aufgelegt hatte, fühlte ich, wie die Beine unter mir nachgaben. „Lieber Gott, bestrafe meine Familie nicht für meine Sünden“, betete ich weinend.

Wie versteinert vor Schreck überließ ich wieder Nina alle Vorbereitungen – Flug, Tickets, Koffer, Schließen der Wohnung. In meinem Unglück schätzte ich mich dennoch glücklich, dass diese einmalige Frau vom ersten Moment an meiner Seite war, ein Fels in der Brandung bei jeder tragischen Wende, die mein Leben nahm.

Bis zum Tag meiner Abreise blieb der Zustand meines Vaters unverändert kritisch, wenn auch stabil. Er rang auf der Intensivstation des Krankenhauses mit dem Tode; Nabil war Tag und Nacht an seiner Seite und pflegte ihn zusammen mit seinen Kollegen, wie meine Mutter mir mitteilte. Meine Angst war unbeschreiblich. Ich fürchtete sehr, ihn nicht mehr lebend anzutreffen.

Als Nina, die ihre Traurigkeit nicht verbergen konnte, mich zum Flughafen brachte und mit ihrer gewohnten Effizienz für mein Gepäck sorgte und mir die Bordkarte übergab, spürte ich einen fast körperlichen Schmerz. Zum ersten Mal nach der Geschichte mit Peter dachte ich zurück an die herrlichen, unbeschwerten Augenblicke während meines Aufenthalts in diesem schönen Land, das mich mit offenen Armen aufgenommen hatte, als wäre es meine Heimat. Es hatte mich meinen Wert als selbstständiges Individuum gelehrt, indem es mir täglich zeigte, welche besondere Position die Frauen in der Gesellschaft einnehmen und wie sehr das andere Geschlecht sie im Vergleich zu meiner Heimat und anderen muslimischen Ländern respektiert und ehrt. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich mich von meinen Träumen verabschiedete, in wenigen Jahren Ärztin zu sein, meine Kinder an Peters Seite großzuziehen, wie er mir ständig versichert hatte, als wir noch zusammen waren, und die uneigennützige, wunderbare Freundschaft mit dieser einzigartigen Person fortzuführen, die Nina hieß. Wie die Dinge sich entwickelt hatten, hielt ich es für unwahrscheinlich, dass ich sie je wiedersehen würde.

Als die Lautsprecheransage zum Abflug aufrief, fielen wir uns weinend in die Arme und sagten ein letztes Lebewohl, wobei wir uns versprachen, dass wir immer in Verbindung bleiben würden. Auf dem Weg zum Ausgang sah ich eine Gruppe junger Leute auf mich zueilen. Gerührt erkannte ich die ganze verrückte Clique, die geschlossen gekommen war, um mich zu verabschieden; sie winkten mir zu, bis ich um die Ecke biegen musste.

Mein Herz war schwer, schwerer als die Wolken, die den Himmel bedeckten, als ich ins Flugzeug stieg und meinen Platz am Fenster einnahm. Ein Kapitel meines Lebens war abgeschlossen. Ein Kapitel, in dessen Verlauf ich viel erlebt, viel gelernt und viel verloren hatte. Nun begann eine neue Phase meines Lebens mit düsteren Vorzeichen, in die ich traurig, enttäuscht, mit hängenden Flügeln eintrat. Ich musste die Kraft finden, gegen mein Kismet anzukämpfen, um mein Unglück abzuwenden und die schmerzlichen Ereignisse, die mein bisheriges ungetrübtes, privilegiertes Leben verdunkelten, umzukehren.

ICH, DIE FRAU DES TALIBAN

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