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Dienstag, 20. November 2012, 18:30

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»Ich bin zu Hause«, schallte Gwens Stimme durch ihr sonst so lebhaftes Heim. Heute war alles ruhig. Gwen hing ihren Mantel an die Garderobe und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Sie liebte den Duft des frisch gebrühten Kaffees nach einem langen Arbeitstag. Sie blickte auf die Uhr, die schon nach 18:00 Uhr zeigte und wunderte sich, dass ihre Mutter sich bisher gar nicht bemerkbar gemacht hatte.

Beth war ein Familienmensch. Als junges Mädchen lebte sie mit ihrem Mann Eric in Irland. Beide hatten große Pläne. Sie wollten mindestens drei Kinder haben und alle sollten zusammen unter einem Dach wohnen. So hatte es sich Elisabeth immer vorgestellt. Als Eric von seinem damaligen Arbeitgeber ein Angebot bekam nach Deutschland zu gehen, griffen sie sofort zu. Beth wurde schwanger und alles war perfekt, bis zu jenem trüben Dezembertag, der Eric das Leben kostete. Es waren noch knapp sechs Wochen bis zu Gwendolyns Geburt, als Eric abends auf vereister Fahrbahn von der Straße abgekommen war und seine Fahrt sowie sein Leben an einer uralten Eiche endeten. Beth war damals in einer ähnlichen Situation wie Gwen heute und sorgte sich um ihre Zukunft. Was soll werden? Wie würden sie über die Runden kommen? Wie konnte sie die Betreuung des Neugeborenen sicherstellen? Zugegeben, Phil war mittlerweile aus dem Gröbsten raus, aber doch waren bei Gwen die gleichen Gedanken im Spiel gewesen, als sich Beths Vergangenheit im Tode von Paul wiederholte. Beth war damals in der glücklichen Situation gewesen, dass ihre eigene Mutter eingesprungen war, um die Betreuung von Gwen zu übernehmen, während Beth arbeiten ging und das bitter nötige Geld nach Hause brachte. Beth war all die Jahre für ihre Tochter dagewesen und versuchte, ihr ein möglichst sorgenfreies Leben zu bereiten. Die Umstände waren nicht immer die besten und einen neuen Lebenspartner hatte Beth nie mehr gefunden. Umso mehr freute sie sich, als Paul in Gwens Leben trat und auch Gwen schwanger wurde. Die Aussicht darauf Oma zu werden, spornte sie richtig an. Lisbeth war immer ein Teil der Familie geblieben und so war es auch nicht verwunderlich, dass sie die Betreuung von Phil übernehmen durfte. Auch später, als Phil in die Schule kam, war Beth für ihren Enkel da, holte ihn von der Schule ab und kochte Mittagessen. Sie war trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre noch fit und beweglich und konnte Phil noch immer das Wasser reichen. Durch Pauls Tod änderte sich alles für Gwen, das wusste Beth nur zu gut und sie stand ihrer Tochter immer zur Seite. Sie war halt ein Familienmensch, auf den man zählen konnte.

»Mutti? Beth? Bist Du da?« Irritiert ging Gwen um die Kochinsel der Küche herum und trat durch das Esszimmer ins Wohnzimmer. »Ach hier bist Du«, flüsterte Gwen, als sie ihre Mutter schlafend auf der Couch vorfand. Sie stellte ihren Kaffeebecher auf dem Couchtisch ab und setzte sich neben ihre Mutter, bevor sie sie behutsam weckte. »Hey, Mutti, ich bin wieder zu Hause. Du hast geschlafen. Ist alles okay? Ist Phil oben?« Beth öffnete noch ganz verschlafen ihre Augen und freute sich, ihre Tochter zu sehen.

»Ja, er war den ganzen Tag in seinem Zimmer. Er hat gespielt, gelesen und war am Computer. Irgendwie wollte er heute nicht nochmal raus oder etwas unternehmen. Er war nicht einmal für ein Eis zu begeistern.« Traurig nahm Gwen ihre Mutter in den Arm.

»Nein, er trauert auf seine Weise. Ich kann ihn gut verstehen und schaue mal nach ihm.«

»Es wird auch Zeit, dass ich nach Hause komme. Ich packe kurz zusammen und lasse euch noch den Abend zusammen. Gib meinem Enkel ein Küsschen von mir. Wir sehen uns morgen.« Gwen drückte ihre Mutter, gab ihr einen Kuss auf die Wange und ging mit einem mulmigen Gefühl nach oben, um nach ihrem Sohn zu sehen.

Gwen achtete immer auf die Privatsphäre ihres Sohnes. Dies war eine ungeschriebene Übereinkunft, die sie getroffen hatten. Wenn er sich zurückziehen wollte, so konnte er dies tun, wann immer er wollte. Ohne Wenn und Aber. Keine Nachfragen. Jeder hatte mal einen schlechten Tag und brauchte seine Ruhe. Die letzten Tage war Phil immer sofort in seinem Zimmer verschwunden, ohne dass er einen Versuch unternommen hätte mit seiner Mutter zu sprechen. Und Beth hatte offensichtlich heute auch keinen Erfolg gehabt, zu ihrem einzigen Enkel vorzudringen. Gwen verharrte einen Augenblick vor der Tür und überlegte, ob sie ungefragt eintreten sollte. Die Tür war nur angelehnt und aus Phils Zimmer kam kein Laut. Nur ein schwacher Lichtschein drang in den Korridor, der nur von einem Nachtlicht an der Treppe und aus dem Esszimmer im Parterre erleuchtet wurde. Gwen haderte mit sich selbst, gab sich dann aber einen Ruck, klopfte kurz an und trat ein. Phil lag auf dem Bett und las. Nur seine Nachttischlampe ließ den kleinen Raum in einem gelblichen Licht erscheinen. Das Zimmer war einfach eingerichtet. Es gab einen Kleiderschrank, einen Schreibtisch, an dem Phil seine Schularbeiten machen konnte und auf dem sein Computer stand. Daneben das Bett und ein Nachttisch. Alles wunschgemäß bei IKEA erstanden. Phil mochte die witzigen Namen der Möbelstücke, hatte er seine Vorliebe für IKEA Möbel einmal begründet.

Er sah so traurig aus, dachte Gwen und sie ahnte, dass das Buch nur vorgeschoben war. Bestimmt war Phil noch kurz vorher am Computer gewesen, der noch leise vor sich hin surrte und auf Befehle wartete. Das Licht des Computerbildschirms und die Nachttischlampe ergaben eine schummrige Beleuchtung, die Unbehagen in Gwen aufsteigen ließ. Trotzdem setzte sie sich auf die Bettkante zu ihrem Sohn und sah aus dem Fenster ins Dunkel. Der Novemberabend hatte sich schon über die Felder gelegt und die vor Phils Fenster stehende Eiche wurde durch den Mond nur schemenhaft beleuchtet. Ein Schauer lief Gwen über den Rücken und sie blickte zu ihrem Sohn.

»Hey, wie geht es meinem Großen?«, fragte sie nach einer Weile und legte ihre Hand auf seine Beine.

»Hmhm, okay!« Phil lag zusammengekauert auf der Seite und machte keine Anstalten gesprächiger zu werden.

»Wie war Dein Tag? Hast Du etwas Spannendes erlebt?« Er schüttelte nur den Kopf. Sanft strich Gwen über seine Waden und kitzelte ihn an der Fußsohle. Phil zog die Füße schreckhaft zurück.

»Lass das! Ich will jetzt nicht!«, fauchte er. Gwen legte ihre Stirn in Falten und versuchte seine Reaktion zu deuten. Sie atmete tief ein und wieder aus.

»Ich mache schon mal etwas Leckeres zum Abendessen. Komm bitte runter, wenn Du bereit bist.«

Warum musste alles nur so schwierig sein, ging es ihr durch den Kopf. Hoffentlich würde er sich in den nächsten Tagen wieder fangen. Lange könnte sie das gewiss nicht durchhalten. Gwen stieß sich mit den Händen vom Bett ab und stand auf. Sie blickte zu ihrem Sohn, der, im Buch vertieft, regungslos auf seinem Bett lag und überlegte, was sie sagen sollte. Es fielen ihr nicht die richtigen Worte ein, also schwieg sie. Sie verließ das Zimmer und lehnte die Tür wieder an.

Beth war mittlerweile schon gegangen. Sie wollte nicht jeden Abend zum Essen bleiben. Auch wollte sie ihrer Tochter nicht zur Last fallen. Gwen hatte dies niemals so empfunden, aber sie wollte keinen Streit mit ihrer Mutter, also schwieg sie. Während die Milch für den Kakao in der Mikrowelle heiß wurde und Gwen die Eier in die Pfanne schlug, um Rührei zu machen, hörte sie von oben wieder diese seltsamen Geräusche aus Phils Zimmer dringen, die sie in den letzten Tagen schon oft gehört hatte. Phil war wieder bei seiner Lieblingsbeschäftigung, wenn er sich abreagieren musste. Er spielte am Computer. Gwen wusste, dass dies für Phil seine Art der Entspannung war. Sie selber konnte dem Computer überhaupt nichts abgewinnen. Im LKA machte sie nur das Nötigste und zu Hause hatte sie eigentlich gar keine Lust, sich auch noch vor einen Computer zu setzen. Viel lieber las sie Bücher zur Entspannung oder schaute etwas fern. Überhaupt war ihr die ganze Computerwelt nicht so ganz geheuer. Vielleicht lag es genau an dieser Angst und ihrem Unverständnis dieser Technik gegenüber, dass sie es ablehnte, sich auch nur etwas mehr als notwendig mit ihr auseinanderzusetzen. Wie oft hatte ihr Sohn schon davon gesprochen, dass sie an einem Computerkurs an der Volkshochschule teilnehmen sollte, aber dazu war es niemals gekommen. Sie hatte ja Paul. Er kümmerte sich um alle Belange im Bereich der Unterhaltungselektronik und der Computerwelt. Für Gwen war es nur wichtig, dass die Dinge funktionierten. Wie und warum war ihr gleich. Nun stand sie da mit einem Computer, den sie gerade einmal einschalten konnte, der ihr aber sonst nicht weiterhalf. Paul war nicht mehr da. Gwen merkte, wie ihr auf einmal wieder die Luft zum Atmen wegblieb, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und wie ihre Hände zu zittern anfingen. Sie musste sich setzen und ihre Tränen der Trauer flossen nun ungebremst. Ein leises Schluchzen war alles, was ihrer Kehle entsprang. Sie wollte unter gar keinen Umständen Phil auf den Plan rufen. Sie musste nun stark sein. Aber das konnte sie nicht. Nicht in diesem Moment. Sie schloss ihre Augen und träumte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Das Klingeln der Mikrowelle rief Gwen in die Gegenwart zurück. Sie trocknete ihre Tränen, atmete tief durch und rief mit belegter Stimme: »Phil, das Essen ist fertig! Kommst Du?«

Mord im ersten Leben

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