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Sonntag, 25. November 2012, 08:57

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Für einen Sonntag waren sie schon früh aufgestanden. Das Wetter war hervorragend und Gwen sah dem Tag erwartungsvoll entgegen. Endlich wieder für ihre Familie und speziell ihren Sohn da zu sein, erfüllte sie mit Vorfreude.

»Ich habe eine Überraschung für meinen Großen.« Erwartungsvoll sah Gwen ihren Sohn an, der immer noch lustlos an seinem Nutella Brötchen herumkaute. Phil verzog keine Miene. Gwen traf diese Reaktion unerwartet und direkt. Sie hatte gehofft, Phil würde sich freuen und neugierig nachfragen, aber das Gegenteil war der Fall. So ging das nun schon die ganze Woche. Kaum ein Wort hatte sie aus Phil herausgebracht, seit Paul starb. Es schien so, als wenn er in seiner eigenen Welt leben würde, als wenn der Kontakt zur Außenwelt unterbrochen war. Das einzige Interesse, welches Phil zeigte, war es, an seinem Computer zu spielen. Hier konnte er sich stundenlang zurückziehen und verbrachte seine Zeit, aber zu Gwen war der Kontakt abgerissen.

Gwen trank ihren Kaffee aus und legte nach: »Willst Du gar nicht wissen, wohin wir heute fahren?«

Phil schob den letzten Bissen seines Brötchens in den Mund und stand auf. »Wir können gleich los, ich putze mir nur noch die Zähne«, verkündete er gleichgültig.

Verwundert schaute Gwen Phil hinterher, als er oben am Treppenabsatz verschwand. Kopfschüttelnd räumte sie den Küchentisch ab.

Alles war vorbereitet und sie hatte so sehr gehofft, ihrem Sohn eine Freude zu machen. Er aber zeigte nicht den Funken eines Interesses wohin es ging. Wortlos und lustlos stieg Phil, mit seinem iPod und den Kopfhörern auf den Ohren, ins Auto.

Während sie die Tür zuschlug und um den Wagen herumging, murmelte Gwen: »Bitte sehr, der Herr, bloß kein Wort reden!«

Sie gab Gas.

Beth stand abfahrbereit schon am Fahrbahnrand und erwartete ungeduldig ihre Tochter. Als sie den schwarzen Touareg ankommen sah, winkte sie Gwen zu. Kaum kam der Wagen zum Stehen, flog die hintere Tür auf und Phil sprang heraus, um seiner Oma um den Hals zu fallen.

Mit Argusaugen beobachtete Gwen das Geschehen und saß wie angewurzelt am Steuer. Nach endlosen Sekunden stellte sie den Wagen ab, und half ihrer Mutter beim Einsteigen. Phil war schon wieder auf der Rückbank und lächelte vor sich hin, als Gwen in den Wagen stieg, um das Trio zu ihrem eigentlichen Ziel zu chauffieren.

»Und? Freust Du Dich schon, Phil?«, fragte Beth neugierig.

»Weißt Du, wohin wir fahren?«, fragte Phil scheinheilig.

Verwundert schaute Beth Gwen an, bevor sie antwortete. »Zu den Haien und Kraken, ins Sea Life. Das magst Du doch, oder?«

»Klasse! Da waren wir schon so lange nicht mehr!«

Gwen erkannte ihren Sohn nicht wieder. Die letzte Woche brachte er ihr gegenüber kaum ein Wort heraus. Mit seiner Oma schien die Situation eine ganz andere zu sein. Er plapperte ungebremst vor sich hin und erzählte fast die gesamte Fahrt lang über seine letzte Woche und seine Erlebnisse. Nach neunzig Minuten erreichten sie den Timmendorfer Strand und das Sea Life. Es war bitterkalt, aber die Sonne war ihnen wohl gesonnen. Minus zehn Grad zeigte das Thermometer heute Morgen bei der Abfahrt und es mochte kaum wärmer geworden sein. Die Sonne hatte einfach keine Kraft mehr, um die Luft entsprechend aufzuheizen. Der Winter kam unaufhaltsam mit großen Schritten.

Nachdem sie den Wagen in einer Seitenstraße abgestellt hatten, gingen sie zu dritt zum Eingang. Hinter der Düne konnte man die Wellen hören, die sich unermüdlich den Weg an den Strand bahnten. Gwen hatte jetzt schon das Gefühl, dass sie viele Anläufe brauchen würde, um wieder zu ihrem Sohn zu finden. Vielleicht stand auch Phils Eindruck, seine Mutter hätte eine Affäre mit Dr. Peters, ihrer Beziehung im Wege. Mit dieser fixen Idee würde sie alsbald einmal aufräumen müssen, aber nicht heute und nicht in Gegenwart von Beth, überlegte sich Gwen, während sie sich in der Schlange am Eingang anstellten.

Nachdem sie den Eingang passiert hatten, steuerte Phil geradewegs auf die ersten Aquarien zu und zerrte seine Oma am Arm mit sich. »Komm Oma, lass uns zu ›Speedy‹ gehen!«

›Speedy‹ war eine der Attraktionen im Sea Life und Phil war verrückt nach ihr. Die kleine Meeresschildkröte hatte es ihm wirklich angetan. Er konnte stundenlang vor dem Aquarium stehen und ›Speedy‹ beim Dahingleiten zusehen. Gwen hätte zu gerne wissen wollen, was in dem kleinen Kopf ihres Sohnes vorging.

»Hey, ist das nicht toll, wie ›Speedy‹ im Wasser ihre Bahnen zieht?«, versuchte Gwen ein Gespräch zustande zu bringen. »Ich wette, so lange kannst Du nicht die Luft unter Wasser anhalten!«

»Wenn Du mal mit mir ins Schwimmbad gegangen wärst, so wie Papa, dann wüsstest Du, wie gut ich schon schwimmen und vor allem tauchen kann!«

Rumms! So war das nicht geplant, dachte Gwen. Das tat wirklich weh, aber es war einfach nicht genug Zeit für ihre Karriere, ihren Mann und ihren Sohn gewesen. Sie hatte Prioritäten setzen müssen, die sich nun als falsch herausstellten. Aber es war immer noch genügend Zeit die Dinge zu ändern. Gwen tat einen Schritt näher an ihren Sohn heran und ging in die Hocke.

»Du hast Recht Phil, ich habe zu wenig Zeit mit Dir verbracht, und das tut mir sehr, sehr leid, aber wir müssen jetzt zusammenhalten. Wir haben doch nur noch uns beide.«

Die Sekunden vergingen, Phil starrte weiterhin auf diese kleine Meeresschildkröte und ließ keine Gefühlsregung erkennen.

»Du, ich habe eine tolle Idee. Im LKA ist zurzeit nicht so viel zu tun und ich habe alle großen Fälle abgearbeitet. Ich kann es leicht einrichten mehr zu Hause zu sein und wir unternehmen dann einfach was zusammen. Irgendetwas, wozu Du Lust hast. Vielleicht können wir auch ins Schwimmbad gehen, wenn Du magst? Na, wie klingt das?«

Wieder verstrichen die Sekunden, die Gwen wie endlose Minuten oder sogar Stunden vorkamen. Dann endlich antwortete Phil leise und verhalten: »Ja, das wäre toll.«

Das war alles, formulierte Gwen innerlich die Frage, kam dann aber zu der Erkenntnis, dass es immerhin ein Anfang war.

»Toll! Das freut mich!« Sie nahm Phil in den Arm, drückte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange, den er sich aber sofort wieder abwischte, und stand auf. »So, und wohin geht es nun? Du entscheidest! Es ist heute Dein Tag, Phil.«

Während Gwen aufstand, vibrierte ihr Handy. Ob sie rangehen sollte oder lieber nicht? Es ist hoffentlich nichts Dienstliches, überlegte sie, während sie ihr Handy aus der engen Hosentasche herausfischte. Der Name auf dem Display verhieß nichts Gutes. Es war ihr Kollege. Ein Anruf an einen Sonntag auf ihrem Diensttelefon machte Gwen nervös. Gab es vielleicht wieder einen neuen Fall? Sie hatte gerade noch versprochen mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen und nun könnte sich dieses Vorhaben schon wieder in Wohlgefallen auflösen. Hin-und hergerissen drückte sie die grüne Taste, um das Gespräch anzunehmen.

»Gwen Fisher …«, antwortete sie und fügte amüsiert hinzu, »… ist zurzeit mit ihrer Familie auf einem Ausflug und nicht zu erreichen. Bitte hinterlassen sie eine Nachricht nach dem Signalton. Piep!« Danach verstummte sie und konnte ihr Lachen nur schwer zurückhalten.

»Hey Gwen, das ist ja eine tolle Begrüßung – Du kannst ruhig mit mir sprechen, ich rufe privat an.«

»Da bin ich aber erleichtert. Ich dachte schon, es würde wieder einen Fall geben. Gerade habe ich meinem Sohn erklärt, dass ich nun wieder etwas mehr Zeit für ihn habe und schon klingelt mein Diensttelefon.«

»Das tut mir leid, ich wollte Dich nicht erschrecken. Sorry. Ihr seid auf einem Ausflug? Wo denn?«

»Im Sea Life am Timmendorfer Strand. Phil sieht hier immer gerne der Schildkröte ›Speedy‹ zu und gleich werden wir wohl wieder den Seepferdchen und ›Nemo‹ einen Besuch abstatten.«

»Und? Wie kommt er mit der neuen Situation klar?«, erkundigte sich Stefan.

Gwen wandte sich um, entfernte sich ein paar Schritte von Phil und senkte ihre Stimme.

»Er ist immer noch sehr in sich selbst gekehrt und redet kaum ein Wort mit mir. Mit meiner Mutter scheint er prima klar zu kommen. Als wir sie vorhin abgeholt hatten, war er wie ausgewechselt. Ich hoffe nur, dass er sich mir bald wieder anvertraut.«

Stefan überlegte kurz, ob er ihr offen entgegnen sollte, dass ihr Sohn auch in der Vergangenheit mehr mit seinem Vater unternahm als mit ihr. Bis zur Normalität würde es ein langer Weg werden. Er entschied sich dagegen und versuchte Gwen eher Mut zu machen. »Ich bin mir sicher, dass Du mit etwas Geduld und Deiner bezaubernden Art bald eine Brücke zu ihm schlagen wirst.«

Gwen schluckte schwer, als sie seine liebevollen Worte vernahm. Dann aber sagte sie sich, dass Stefan ein Kollege war und ihr Mann vor gerade einmal einer Woche verstarb. Sie musste sich zusammenreißen und nicht gleich dem Nächstbesten in die Arme fallen. Sie würde das alleine hinbekommen.

»Auf der Rückfahrt könnt ihr ja noch zu McDonalds gehen, oder?«, schlug Stefan vor. »Das lieben doch alle Kinder!«

»Das ist eine hervorragende Idee, zumal ich für heute Abend noch gar nichts zu essen vorbereitet habe.«

»Dann sehen wir uns morgen wieder im LKA? Ich freue mich auf Dich! Halt die Ohren steif. Du schaffst das schon!«

»Ja, mache ich. Ich freue mich auch schon. Tschüss!«

Die letzten Worte hauchte Gwen geradezu ins Telefon, fast unfähig weitere Abschiedsworte zu finden, und legte auf.

Sie drehte sich wieder zu Phil und ihrer Mutter um und bemerkte dabei zu spät, dass ihr Sohn dem Ende des Telefonates zugehört hatte. Enttäuschung und Eifersucht lag in seiner Stimme, als er murmelte: »Du bist gar nicht gerne mit uns zusammen und freust Dich schon wieder mehr auf die Arbeit, als die Zeit hier mit mir zu verbringen.« Dann wandte er sich ab und ging schnurstracks in Richtung Seepferdchen.

Die nächsten Stunden grübelte Gwen vor sich hin und trottete ihrem Sohn und ihrer Mutter in einigem Abstand hinterher. Phil hatte in der Vergangenheit schon immer viel mehr mit seinem Vater, als mit ihr unternommen. Sollte dies etwa das Problem sein, welchem sich Gwen nun gegenübersah? Warum hatte sie es nur soweit kommen lassen? Die beiden Männer hatten einfach mehr gemeinsame Interessen, solche ›Männerdinge‹, sinnierte Gwen. Aber trotzdem hätte sie sich mehr mit einbringen müssen. Vielleicht hätte sie auch mehr Vorschläge für gemeinsame Unternehmungen oder Kinobesuche machen sollen. Aber stattdessen war sie mehr in ihrer Arbeit vertieft gewesen und war oft spät nach Hause gekommen. Es war kaum noch Zeit, um Abendbrot zu machen und ihr Sohn musste dann schon wieder ins Bett. Am Wochenende hatte sie viel im Haushalt zu tun und wenn sie einmal eine Stunde oder auch zwei für sich selber hatte, liebte sie es zu lesen oder auch einmal nichts zu tun. So vergingen die Jahre in immer dem gleichen Trott und sie bemerkte nicht einmal, wie die Bindung zwischen Vater und Sohn immer stärker wurde. Und auf einmal ist alles anders, beendete Gwen ihre Gedanken und schaute auf die Uhr. Sie ging wieder schneller und schloss zu Phil und Beth auf.

»Wir müssen so langsam wieder an die Heimfahrt denken. Habt ihr Hunger? Wollen wir vielleicht noch bei McDonalds in Eutin einen Stopp einlegen?«

Gwen beobachtete Phil genau und ihr fiel ein Stein vom Herzen als er lächelnd erwiderte: »Ich habe Hunger auf einen Cheeseburger!«

»Das ist doch prima! Und Du Mutti? Hast Du auch Hunger auf einen BigMac oder so?«

»Du kennst mich doch Gwen, ich mache mir nichts aus dem Burgerzeug, aber ich komme gerne mit. Es gibt doch mittlerweile auch leckere Salate, oder?«

»Aber klar!«, erwiderte Gwen rasch. Sie war froh, dass die Idee ihres Kollegen so guten Anklang gefunden hatte.

»Und Phil, auf dem Weg dahin, kannst Du Dir schon mal überlegen, was Dir der Weihnachtsmann Schönes bringen könnte. Es ist schließlich nur noch einen Monat bis zum 24. Dezember und die Zeit wird rasend schnell vergehen.«

Der Halt bei McDonalds befriedigte alle Wünsche. Phil bekam seinen Cheeseburger, Beth hatte ihren Salat und Gwen genehmigte sich einen Wrap. Gesättigt und träge setzten sie sich wieder ins Auto und Gwen startete den Motor. Es dauerte keine zehn Minuten, bis Phil auf der Rücksitzbank eingeschlafen war. Das gleichmäßige Vibrieren des Motors und der monotone Klang ließen Phil immer schnell einschlafen. Das wusste Gwen noch aus den Tagen, als sie Phil im Kinderwagen herumgefahren hatte. Manchmal, wenn er nicht einschlafen wollte, war dies die einzige Möglichkeit, ihn doch noch zum Schlafen zu bewegen. Der Kinderwagen war Vergangenheit und heute übernahm jegliches motorisierte Fahrzeug diese Aufgabe. Bus, Bahn, Auto oder Flugzeug waren alle gleich gut, wenn es darum ging, Phil müde zu machen. Gwen schaute lächelnd in den Rückspiegel und sah, wie der Kopf ihres Sohnes unkontrolliert von einer Seite auf die andere nickte. Ein untrügliches Zeichen von tiefem Schlaf.

Gegen 18:30 Uhr setzte Gwen ihre Mutter an deren Wohnung ab. Sie umarmten sich herzlich. »Wir sehen uns«, gab sie Beth mit auf den Weg und drückte ihr zum Abschied noch einen Kuss auf die Wange.

Zu Hause angekommen, bog Gwen vorsichtig in die Einfahrt ihres Hauses ein. Der Kies knirschte unter den Reifen und Phil regte sich auf der Rückbank. Er schlug die Augen auf und bemerkte, dass er fast den gesamten Heimweg verschlafen hatte.

»Wo ist Oma? Du hättest mich wecken sollen! Ich wollte mich doch verabschieden!«

Kaum kam der Wagen zum Stehen, öffnete Phil die Tür und sprang heraus. Gwen hatte Mühe schnell hinterher zu kommen und die Haustüre aufzuschließen. Ohne ein weiteres Wort quetschte sich Phil durch die sich öffnende Tür, streifte die Schuhe von den Füßen und verschwand nach oben in sein Zimmer.

Gwen atmete tief ein und wieder aus.

Nachdem Gwen sich selber umgezogen und etwas akklimatisiert hatte, klopfte sie behutsam an die Zimmertür ihres Sohnes und trat ein. Phil war schon wieder am Computer und spielte.

»Hey, mein Großer, hat Dir der Tag gefallen?«

»Hmmhm – war ganz okay«, gab sich Phil wortkarg.

Gwen wagte einen weiteren Versuch. »So etwas müssen wir unbedingt bald mal wieder machen. Ich bin gerne mit Dir unterwegs. Das war toll!«

»Hmmhm, wenn Du das sagst.«

Oje, das würde anstrengend werden, dachte Gwen, und entgegnete: »Ja, sage ich!« Sie wollte überzeugender klingen, was ihr in dem Moment aber leider nicht gelang. »Ich finde das toll, wenn wir etwas zusammen unternehmen.«

Nach einer Pause gab Phil zu: »Ich auch Mama.« Phil wirkte, als wenn er mit sich ringen würde, kam dann aber doch auf den Punkt. »Du warst nie diejenige, die sich um unsere gemeinsame Freizeit gekümmert hatte. Das hatte immer Papa gemacht.«

So deutlich wollte Gwen das auch nicht zu hören bekommen, aber sie entschied, nicht gleich zu antworten, sondern ihn weiterreden zu lassen.

»Ich brauche jemanden, der sich Zeit für mich nimmt, mit mir etwas unternimmt, und für mich da ist.« Pause. Gerade wollte Gwen antworten, als Phil wieder das Wort ergriff. Diesmal langsamer sprechend und mit einem Kloß im Hals. »Da Papa nun nicht mehr da ist, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll.« Phil standen die Tränen in den Augen, aber er schluckte sein Leid herunter. Indianer kennen schließlich keinen Schmerz und Jungs heulen nicht! Das ist nur was für Mädchen, hatte ihm sein Vater eingebläut.

Gwen nahm Phil in den Arm und tröstete ihn. »Ich bin bei Dir und ich bin für Dich da – und Oma auch. Es gibt jetzt nur noch uns drei und wir werden zusammenhalten. Ich habe Dir heute im Sea Life schon gesagt, dass zurzeit im LKA weniger zu tun ist und ich früher Feierabend machen werde, als in der Vergangenheit. Ich habe euch beide zu sehr vernachlässigt und mich zu viel um meinen Job und meine Karriere gekümmert, aber jetzt kommst Du zuerst, mein Schatz!« Mit diesen Worten schloss Gwen ihren Sohn noch fester in die Arme.

»Versprochen?«

»Versprochen! So und nun darfst Du noch etwas spielen und dann geht’s ins Bett.«

Dies ließ sich Phil nicht zweimal sagen. Nachdem seine Mutter das Zimmer verlassen hatte, startete er eine Suchmaschine im Internet und überlegte kurz, bevor er die Worte ›Fantasie‹, ›virtuell‹ und ›Chat‹ eintippte, und die Suche startete. Es dauerte nur einen Augenblick, bis die Treffer angezeigt wurden. Der erste Treffer stellte sich als kostenpflichtiges Angebot heraus und Phil klickte den zweiten an. ›SecondLife‹, nie gehört, dachte Phil und schaute sich fasziniert die realitätsnahen Avatare an, die man als Spielfiguren auswählen konnte. Die virtuelle Welt auf der Einstiegsseite machte ihm sofort Lust auf mehr. Er klickte sich durch die Seite und inspizierte fasziniert alle verfügbaren Bilder und Videos. Die Darstellungen der Figuren auf den Bildern und in den Videos hatten eines gemeinsam. Sie alle waren glücklich, gesund, schön und auch irgendwie cool und sexy. ›Meine Welt – Meine Vorstellungskraft‹ – das war der Werbeslogan, der sich durch alle Beispiele zog und Phil in seinen Bann nahm. Mit offenem Mund starrte er die fantasievoll gestalteten Avatare an, die sich in den Beispielvideos sehr natürlich bewegten und versuchten, ihm einen Eindruck zu vermitteln, was ihn nach einer Registrierung erwarten würde. Alles war hier so persönlich, aber auch so anonym zugleich. Beim Betrachten der Seite vergaß Phil die Zeit und sehnte sich schon in diese Welt hinein, um seinem Alltag zu entfliehen. Dort im anderen Leben würde er bestimmt jemanden treffen, der seine Situation und seine Probleme verstehen würde. Das alles, ohne seine wirkliche Identität preiszugeben.

Das war genau das Richtige, entschied Phil schließlich und klickte auf ›Anmelden‹. Nun brauchte er noch einen Namen für seinen Avatar in der virtuellen Welt. Phil zögerte nicht lange und tippte ›Phil Fisher‹ ein. Dann wählte er eine der männlichen Standardfiguren, die einen tollen Eindruck machte. Groß und schlank, mit Jeans und T-Shirt bekleidet – fast so, wie im richtigen Leben – beurteilte Phil seine Auswahl. Er hatte zwar noch nicht ganz so viele Muskeln, noch keinen Bart und auch war er in Wirklichkeit wesentlich jünger, aber er sollte ja seiner Vorstellungskraft freien Lauf lassen. Und so wird er bestimmt einmal aussehen, wenn er groß ist, hoffte er.

Nach Eingabe seines Geburtsdatums und einer E-Mail-Adresse war er registriert und befand sich Sekunden später in der schönen neuen Welt. Wie wunderbar das hier alles war. Es hatte ein wenig was von ›Alice im Wunderland‹. Vorsichtig bewegte er seine Figur in dem funkelnden und blinkenden Bereich, welcher den Neuankömmlingen vorbehalten war, um nicht mit anderen gerade erst entstandenen Wesen zusammenzustoßen.

Schon nach einigen Schritten war es dann passiert. Er rempelte eine junge Frau an. »Autsch!«, sagte Phil. Nichts passierte. Aber dann nach einer Weile, öffnete sich ein kleines Fenster. Darin stand zu lesen:

[Alina B]: Hi, bist Du auch neu hier? Ganz schön schwierig sich hier zu bewegen, ohne jemanden über den Haufen zu rennen.

Phil war verdutzt. Das ging ja richtig schnell, um mit jemandem in Kontakt zu kommen, stellte er fest. Zaghaft legte er seine Finger auf die Tastatur und antwortete hinter der blinkenden Eingabemarkierung.

[Phil Fisher]: Ja, stimmt.

»Phil, es ist Zeit für die Heia. Putz bitte Deine Zähne. Ich komme gleich hoch und möchte Dich dann im Bett sehen!«

Mist, einen besseren Zeitpunkt hätte sie sich nicht aussuchen können, ärgerte er sich innerlich, der die Zeit ganz vergessen hatte und tippte schnell noch die Worte:

[Phil Fisher]: Ich muss ins Bett. Gute Nacht.

[Alina B]: Du bist ja höflich. Gute Nacht.

Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Die kennt mich doch gar nicht und ist so freundlich zu mir. Vielleicht sehe ich sie ja nächstes Mal wieder, machte sich Phil Hoffnungen, denn Alina war richtig süß gewesen. Dann huschte er ins Badezimmer und putzte sich die Zähne.

Mord im ersten Leben

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