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Samstag, 17. November 2012, 23:59

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»Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf«, zählte Gwendolyn Fisher begeistert an und zusammen mit Elisabeth Robinson und Stefan Schick beendeten sie gemeinsam den Countdown, »vier, drei, zwei, eins!«

Dann stimmten alle anderen Gäste mit ein und sie sangen zusammen: »Happyyy Bööörthday, tooo you – Happy Bööörthday to youuuuu.«

Paul Fisher bekam bei den schrägen Tönen eine Gänsehaut, aber er lächelte tapfer, als er seine Freunde singen hörte. Es war schön sie wiederzusehen und alle waren sie an seinem Ehrentage der Einladung gefolgt. In seinen sechsundvierzigsten Geburtstag hineinzufeiern war Gwendolyns Idee, oder Gwen, wie sie eigentlich von allen genannt wurde. Sie hatte immer so tolle Ideen und war jederzeit für eine Überraschung gut, dachte Paul und sah verliebt in ihr Gesicht. Die jugendliche Ausstrahlung seiner Frau lag sicherlich an ihren grünen Augen, die voller Begeisterung wie Smaragde leuchteten. Sie war von Anfang an Pauls Traumfrau gewesen, seit er ihrem Lächeln und ihren Blicken bei ihrer ersten Begegnung erlegen war. Gwen warf ihre langen, lockigen, roten Haare zurück, als sie ihrem Mann um den Hals fiel. Paul konnte sich kaum auf den Beinen halten, als Gwen ihm einen Geburtstagskuss auf den Mund drückte, um den ihn jeder anwesende Mann beneidete.

Gwen lachte aus vollem Halse: »Nun bist Du schon in Deinem siebenundvierzigsten Lebensjahr, Du alter Sack, während ich erst zweiundvierzig bin!«

Die Partygäste amüsierten sich, obwohl sie den Spruch jedes Jahr hören mussten. Es war Gwens spezielle Art die Fakten zu interpretieren und positiv für sich zu deuten. Sie war ein Naturtalent für Frohsinn und Freude.

»Ich will auch gratulieren«, zwängte sich Phillip durch die Gruppe auf seinen Vater zu und schlang seine Arme um ihn. »Alles Gute zum Geburtstag, Papa. Bleib, wie Du bist, so liebe ich Dich.« Paul schluckte schwer bei der Umarmung seines vierzehnjährigen Sohnes, der von allen nur Phil genannt werden wollte. Er erinnerte ihn so sehr an sich selbst, als er noch klein war, und gleichermaßen sah er in ihm viel von seiner Frau. Den vorwitzigen, schelmischen Blick und die wachen blauen Augen hatte er von seinem Vater, die unverkennbaren roten Haare von seiner Mutter. Er selber hatte sich vor einigen Jahren mit sich selbst auf eine Glatze geeinigt, als seine Haare grau wurden und auszufallen begannen. Das war zumindest sehr pflegeleicht, überlegte Paul, und es wirkte in den Augen seines Sohnes auch ›cool‹. Ein bisschen wie der Held in ›Stirb langsam‹, hatte er immer wieder gesagt. Paul lächelte bei dem Gedanken daran.

»Nun macht mal Platz für eure alte Mutter!« Eigentlich hieß sie Elisabeth, aber der Name war ihr zu altmodisch gewesen, daher nannten sie alle nur Beth oder auch mal Lisbeth, wenn es sein musste. Sie schlängelte sich, trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre noch gewandt durch die Menge und erreichte ihren Schwiegersohn. Sie neigte sich zu seinem Ohr. »In meinem Alter verträgt man es schlecht, wenn die Kinder einem Sorgen bereiten. Daher bleibst Du am besten gesund und munter, damit wir noch viele, schöne Partys zusammen feiern können.« Dann küsste sie ihn auf die Wange.

»Nun lasst uns endlich mal anstoßen, bevor wir verdursten!«, schlug Michael Peters vor und hob sein Glas. Dr. Peters war ein langjähriger Freund der Familie und arbeitete schon viele Jahre mit Gwen im Landeskriminalamt Kiel zusammen. Er war in der forensischen Abteilung mit der Untersuchung von Tatorten und Hinweisen betraut. Gwen war mittlerweile zu einer Kriminalhauptkommissarin befördert worden und zusammen mit ihrem Kollegen, Kriminaloberkommissar Stefan Schick, waren die beiden ein eingespieltes Team.

Alle drei prosteten Paul zu, als dieser plötzlich kraftlos und unerwartet zu Boden sank.

»Paul, was ist mit Dir?«, schrie Gwen und versuchte den fallenden Körper noch aufzuhalten. Aber die neunzig Kilogramm glitten unaufhaltsam zu Boden, wo Paul regungslos liegen blieb. Die umherstehenden Gäste waren wie paralysiert, als sich Michael als erster der Situation bewusst wurde und neben Paul auf die Knie sank. Sofort schüttelte er ihn an den Schultern: »Paul, kannst Du mich hören?«

Michael legte sein Ohr an Pauls Nase und beobachtete, ob sich der Brustkorb noch bewegte. Die Gäste um ihn herum wagten selber kaum zu atmen. Nach einigen Sekunden formten seine Lippen ein langsames ›Schei…ße‹, dann richtete sich Michael auf und war in seinem Element. Er hatte solche Situationen schon viele Male erlebt.

»Stefan, ruf sofort den Notarzt an!«, kommandierte er. »Sie sollen sich beeilen, er hat wahrscheinlich einen Herzinfarkt!«

»Gwen, Du kommst gleich mit! Zieh Dir eine Jacke an und Beth, bitte versorge die Gäste und bleibe bei Phil, bis wir uns aus dem Krankenhaus melden. Und jetzt bitte alle Mann raus hier!« Michael, riss Pauls Hemd auf, fing unmittelbar mit der Herzdruckmassage an, um den Kreislauf seines Freundes aufrecht zu erhalten. Er musste die Zeit überbrücken, bis der Rettungswagen kam.

♦♦♦

Dr. Peters kannte das Notarztteam sehr gut, welches nach wenigen Minuten ins Wohnzimmer kam. Er rief ihnen aus der Entfernung zu, ohne die Herzdruckmassage zu unterbrechen: »Den Defi, schnell!« Er wusste, dass Paul bei seinen ehemaligen Kollegen in guten Händen war und konnte in diesem Moment nichts weiter für ihn tun. Ein Defibrillator, der den Herzrhythmus durch einen gezielten Stromstoß wieder in geordnete Bahnen bringen würde, war das Einzige, was nun noch helfen konnte. Da war sich Michael sicher.

Als die Sanitäter übernommen hatten, stand er auf und umarmte Gwen. Atemlos beobachteten sie die Bemühungen der Ärzte. Hoffnung keimte in Gwens Augen auf, als die Notärzte in Hektik ausbrachen.

»Wir haben wieder einen Puls!«, jubelte der jüngere der beiden Ärzte. »Er muss sofort ins Krankenhaus!«

Auf dem Weg zum Krankenwagen rief Michael Gwen zu: »Steig vorne ein, ich bleibe hinten bei Deinem Mann!« Während Gwen nach vorne hastete, rief Michael zu Stefan: »Wir fahren ins Bundeswehrkrankenhaus, das ist am nächsten.« Er ergänzte seine Anweisungen: »Halte Du uns im Streifenwagen den Weg frei!«

Stefan rannte zu seinem Ford Focus Turnier, in dem er direkt nach Beendigung seiner Schicht zu Pauls Geburtstag gefahren war. Er schaltete das Blaulicht ein und wartete mit laufendem Motor, dass sich auch der Notarztwagen endlich in Bewegung setzte.

Sie verließen Gwens Grundstück über die Schottereinfahrt und fuhren zunächst links in Richtung Hauptstraße. Warum musste Gwen auch so weit ab vom Schuss wohnen, grübelte Stefan, während er an die Kreuzung heranfuhr, um nach rechts abzubiegen. Er blickte in den Rückspiegel. Sie waren hinter ihm.

Gar keine Frage, dies war eine wunderschöne Gegend, ein paar Kilometer nordöstlich von Kiel, aber am Arsch der Welt. Nichts als Felder, Wanderwege und Ruhe, hatte ihm Gwen einmal vorgeschwärmt. Jetzt hätten sie sich bestimmt ein Krankenhaus in der Nähe gewünscht und nicht knapp acht Kilometer entfernt. Sie waren alleine auf der Hauptstraße und Stefan gab Gas. Er war nicht mal fünfzig Jahre alt, hoffentlich überlebt er das, überlegte Stefan, während er im Rückspiegel den Krankenwagen sah. Er fixierte die zwei Fernlichter, die mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zu rasten. Krampfhaft hielt Stefan das Lenkrad seiner Barbarix umklammert während die Lichter immer näher kamen. Barbarix, so nannten er und Gwen liebevoll ihren blau-weißen Streifenwagen. Sie beide waren ungefähr im gleichen Alter und unterhielten sich oft, während sie zusammen auf Streife waren. Irgendwann erzählte ihm Gwen, dass sie in ihren Kindheitstagen ein Fan von Barbapappa war. Eine Sendung, die regelmäßig im Kinderprogramm lief. Barbarix war darin der schlaue Blaue. Irgendwie passte dies zu ihnen, meinte Gwen, und so tauften sie ihr Gefährt einfach Barbarix. Zusammen hatten sie schon viele aufregende Zeiten erlebt und auch viele schwierige Fälle gelöst. Sie waren beide ebenso schlau, wie damals Barbarix.

Dieser Idiot wird sich noch umbringen, grollte Stefan zu sich selbst, als er merkte, dass der Wagen hinter ihnen mit einer irren Geschwindigkeit dabei war, den Notarztwagen und ihn selbst zu überholen. Im Bruchteil einer Sekunde war der Wagen an ihnen vorbeigeschossen. Ein roter Porsche, war ja klar, dachte Stefan und schrie aufgebracht dem davonbrausenden Wagen hinterher: »Du Penner, muss das denn sein?«

Da bremste dieser abrupt ab, als wenn er es gehört hätte, und bog scharf links in die Seitenstraße ein, wo er sich plötzlich einem Kleintransporter gegenüber sah. Nur eine Vollbremsung der beiden Wagen konnte einen Zusammenstoß vermeiden. Reifen quietschten und eine graublaue stinkende Wolke von verbranntem Gummi umgab die beiden Fahrzeuge, als sie zum Stillstand kamen.

Stefan riss erschrocken die Augen auf und erfasste im Bruchteil einer Sekunde die Situation. Er erkannte wie der rote Porsche und ein weißer Lieferwagen mit Aufschrift an den Seiten, im Abstand von nur wenigen Metern voreinander, zum Stillstand gekommen waren. Beide Fahrer saßen erschrocken in ihren Fahrzeugen und schienen unverletzt. Seine Ladung wird der Transporter erst einmal neu sortieren dürfen, dachte Stefan und offensichtlich brauchten sie seine Hilfe im Moment nicht. Gerne wäre Stefan ausgestiegen, um dem Porschefahrer seine Meinung zu sagen, aber dazu war jetzt keine Zeit. Sein Freund brauchte dringend einen Arzt. Das war das Wichtigste. Stefan deutete dem Notarzt hinter ihm durch ein Handzeichen aus dem Fenster an, dass sie weiterfahren würden und gab Gas.

♦♦♦

Die verbleibende Fahrt zum Krankenhaus dauerte keine zehn Minuten. Mit quietschenden Reifen kamen der Streifenwagen und der Notarztwagen vor der Notaufnahme zum Stehen. Die Ärzte im Bundeswehrkrankenhaus waren informiert und warteten bereits. Mit sorgenvoller Miene entstieg Gwen dem Wagen und stolperte hektisch in Richtung Eingang der Notaufnahme. Dr. Michael Peters öffnete die hinteren Türen des Notarztwagens, lief zu Gwen und nahm sie in die Arme. Er drückte sie fest an sich und sie wandten sich von ihrem Mann ab, der bereits auf der Trage und auf dem Weg in den Untersuchungsraum war.

»Du musst nun sehr tapfer sein, Gwen«, flüsterte Michael und fuhr fort. »Dein Mann hatte während der Fahrt einen weiteren Herzstillstand erlitten. Wir konnten nichts mehr tun und die letzte Hoffnung liegt bei den Ärzten hier im Krankenhaus.«

Gwen ließ ihren Gefühlen freien Lauf und schluchzte laut auf. Michael drückte sie noch fester an sich und strich ihr mit einer Hand über ihr langes Haar. Gwen konnte ihre Tränen nicht mehr halten und sackte in Michaels Armen zusammen. Mehrere Minuten standen sie so da und Michael versuchte, Gwen durch sanfte Worte und Streicheln ihres Nackens zu beruhigen.

»Lasst uns doch reingehen, ihr erkältet euch noch«, sagte Stefan und mit den Worten: »Ich fahre kurz den Wagen auf den Parkplatz«, verschwand er auch gleich wieder.

Minuten darauf trafen sich Michael, Gwen und Stefan im Warteraum wieder. Es war ein kalter und steril wirkender Raum. Ohne Atmosphäre und das Weiß an den Wänden war alles andere als beruhigend. Lediglich das Bild eines Sonnenunterganges hing an einer Seite des Raumes, der ansonsten nur mit Plastikstühlen an den Wänden und einem Tisch in der Ecke bestückt war.

Gwen hatte sich etwas beruhigt und wandte sich mit fragendem Blick an Stefan.

»Was soll nur werden, wenn Paul jetzt stirbt? Wie soll ich ohne ihn weiterleben? Was wird aus Phil? Wie soll ich das alleine alles unter einen Hut bringen?«

Stefan trat einen Schritt auf Gwen zu und umarmte sie. »Soweit muss es nicht kommen Gwen, die Ärzte bemühen sich um Paul so gut es geht. Du darfst die Hoffnung nicht verlieren.«

Stefans Worte waren noch nicht ganz ausgesprochen, als sich die Tür zum Untersuchungszimmer öffnete und ein Arzt mit Unheil verkündender Miene herauskam. Stefan und Michael ahnten nichts Gutes, für Gwen war es bereits in diesem Moment Gewissheit. »Neeeeeiiiiiin!«, schrie sie auf und ihre Beine versagten ihren Dienst. Stefan fing sie gerade noch auf, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Er setzte sie auf dem nächsten Stuhl ab. Der Arzt nickte Dr. Peters zu, um Gwens Vermutung wortlos zu bestätigen. Dann wandte er sich an Gwen, die ihr Bewusstsein gerade noch behalten konnte.

»Es tut mir sehr leid, Frau Fisher, wir konnten nichts mehr tun.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Mein herzliches Beileid für Sie.«

Ärzte waren auch nicht die geborenen Redner, aber was hätte er in dieser Situation groß sagen sollen, dachte Stefan, während er weiterhin versuchte, Gwen zu beruhigen. Stefan deutete Michael durch ein Nicken an, er solle heranrücken, denn schließlich würden sie ohne Paul zurück nach Hause fahren müssen, um auch Beth und letztendlich Phil die schlechte Nachricht zu überbringen.

Schweigend fuhren sie im Streifenwagen die wenigen Kilometer zurück nach Felm, einem kleinen Örtchen, den Paul und Gwen schon vor einigen Jahren als Wohnort für ihre Familie auserkoren hatten. Umgeben von Reiterhöfen, Wald und Feldern ein wunderbarer Ort für einen Heranwachsenden, um sich auszutoben sowie exzellenter Erholungswert am Abend und Wochenende für die Erwachsenen mit ihren anstrengenden Jobs unter der Woche. Das Gymnasium Kronshagen, welches Phil besuchte, lag auf halben Weg zu Gwens Arbeit, so dass sie es immer gut verbinden konnte, ihren Sohn zur Schule zu bringen.

Gwen hatte während der gesamten Fahrt nichts gesagt. Was würde nun aus dieser Idylle werden, dachte sie. Wie soll es nun ohne Paul weitergehen? Gwen brach erneut in Tränen aus. Michael nahm sie abermals in den Arm, während Stefan den Wagen ruhig durch die Nacht gleiten ließ. Sie kamen an der Stelle vorbei, an der sich auf der Fahrt zum Krankenhaus fast ein Unfall ereignet hatte. »Zum Glück ist wohl nichts passiert«, murmelte Stefan in sich gekehrt, als er sah, dass die beiden Fahrzeuge nicht mehr da waren.

Phil war bereits seit einigen Stunden im Bett, als Beth ihre Tochter an der Eingangstür des Hauses in Empfang nahm. Ihr geblümter Morgenmantel war kein Schutz vor der Novemberkälte und sie zitterte schon am ganzen Körper, als sie ins Freie trat. Ein Blick in die Augen ihrer Tochter sagte alles und ihr Zittern verstärkte sich nur noch mehr, als sie Gwen umarmte. »Sag mir, dass das nicht wahr ist!«, flehte sie.

»Sie konnten leider nichts mehr für Paul tun«, erklärte Michael, dem klar war, dass Gwen in diesem Moment zu keiner Antwort fähig war. »Es tut mir so leid für Sie beide. Lassen Sie uns reingehen. Es ist sehr kalt heute Nacht.«

Mord im ersten Leben

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