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8.

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Anna.

Er hatte ihren Namen gesagt, aber nicht sanft und warm und voller Lächeln. Es war nur ein Wort, das wiederholt wurde, weil es für den Sprecher keinen Sinn ergab. Anna fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet.

Großer Gott! Was mache ich hier?

Sie beendete den Anruf, ließ das Handy fallen, sprang vom Sofa und stellte sich zitternd ans andere Ende des Raums. Neben ihr stand die Vitrine mit Spencers Whiskys. Sie riss die Tür auf, nahm sich ein Glas und griff nach der Flasche Lagavulin; sie brauchte jetzt etwas Kräftiges. Sie schenkte sich einen Dreifachen ein, kippte ihn in einem Schluck hinunter und schüttelte sich.

Nachdem sie den zweiten – langsamer – getrunken hatte, ließ die brennende Scham allmählich nach, und sie sah das Ganze etwas entspannter. Sogar so entspannt, dass sie ihr Handy nahm und die Nummer noch einmal wählte.

Keine unpersönliche Ansage, nur ein zögerndes Schweigen am anderen Ende.

»Es tut mir leid«, begann sie, bemüht, nicht allzu sehr zu nuscheln. »Ich weiß, Sie sind nicht er … Sie sind nicht Spencer …« Sie brach ab und kämpfte gegen ein Schluchzen an. Die Erkenntnis tat so weh, obwohl es von Anfang an absurd gewesen war, etwas anderes zu hoffen. »Ich wollte mich nur dafür entschuldigen, dass ich Sie mitten in der Nacht angerufen habe – jetzt sogar schon zum zweiten Mal! – und lauter verrücktes Zeug geredet habe.«

Vom anderen Ende kam nur ein leises Grunzen. Aber es klang, als läge ein klitzekleines Lächeln darin.

»Ich bin nicht verrückt. Ich bin nur … nur …«

Ein schwerer männlicher Seufzer.

»Ich weiß nicht, was ich bin«, sagte sie kläglich.

Ein paar Sekunden lang war es sehr still, und Anna rechnete halb damit, dass aus dem Schweigen die nüchterne Stille wurde, wenn niemand mehr da war, doch dann hörte sie, wie er Luft holte. »Nein, Sie sind nicht verrückt«, sagte er.

Seine Stimme klang kraftvoll und warm und überzeugt. Anna war versucht, ihm zu glauben, obwohl sie nicht sicher war, dass es stimmte. Die Wirklichkeit war schon seit langem ein verschwommenes Konzept. »Woher wissen Sie das? Immerhin rede ich mitten in der Nacht mit einem Fremden.«

»Das Leben … ist nicht immer leicht«, erwiderte er langsam. Er schien seine Worte sorgfältig zu wählen – nicht, weil es ihm an der sprachlichen Gewandtheit fehlte, ganz im Gegenteil. Sie hatte den Eindruck, dass dieser Mann stets sorgsam mit seinen Worten war, sie abwog und nur sparsam benutzte. »Manchmal geschehen Dinge … mit denen man nicht rechnet. Und das kann einen umwerfen und alles auf den Kopf stellen, und danach ist das Leben nie mehr dasselbe.«

Anna hielt den Atem an. Woher wusste er das? Lief hier doch irgendetwas Seltsames, Übernatürliches ab? Es war, als hätte er in sie hineingeschaut und all das ausgesprochen, was sie dachte und fühlte, aber niemandem sagen konnte.

»Und wenn das Leben sich so plötzlich und unerwartet verändert«, fuhr er fort, »trauert man um das, was war und nie wieder sein wird. Ich würde sagen, das ist menschlich.«

Das klang alles sehr logisch, was sie ausgesprochen tröstlich fand. Vielleicht sagte er auch einfach nur, was sie hören wollte, um diese hysterische Frau am Telefon loszuwerden, aber selbst wenn, seinen Worten haftete etwas Wahres an. Als spräche er aus Erfahrung.

»Sind Sie menschlich?«, hätte sie gerne gefragt, aber sie hatte dem armen Mann schon eine ordentliche Portion ihrer Dummheit serviert, da brauchte er sicher keinen Nachschlag. Also verkniff sie sich die Frage. »Danke«, sagte sie leise. »Und Entschuldigung … Ich werde Sie nicht noch mal anrufen.« Und um nicht unhöflich zu sein, fügte sie noch hinzu: »Gute Nacht.«

Eine Pause, als wäge er ihre Worte ab, so schlicht sie auch gewesen waren. »Gute Nacht … Anna.«

Und dann war er weg, abgeschnitten durch ein Tippen ihres Daumens auf den Bildschirm. Gute Nacht, Anna. In dieser Stimme hatte kein Lächeln extra für sie gelegen. Aber da war etwas gewesen. Etwas, das sie nicht benennen konnte.

War aber auch egal, dachte sie, als sie aufstand, das Licht ausmachte und nach oben ging. Sie würde diese Nummer nie wieder wählen.

Am Abgrund balanciert es sich am besten

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