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Erster Teil 1.

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Anna lag im Bett und hatte die Decke über den Kopf gezogen. Das wäre an sich nicht weiter bemerkenswert, nur war es halb acht an einem Donnerstagabend, und sie war vollständig angezogen, abgesehen von den Schuhen. Irgendwo in der Ferne klingelte es an der Haustür. Sie versuchte es zu ignorieren.

Sie war vor einer halben Stunde ins Bett gekrochen und hatte nicht vor, an diesem Abend wieder hervorzukommen. Vielleicht auch nie. Es war schön in ihrem Kokon. Still und dunkel. Die Welt war heute zu hell gewesen, zu laut. Zu verdammt fröhlich. Aber das hier war eine wunderbare Lösung. Darauf hätte sie schon viel früher kommen sollen.

Der Briefschlitz klapperte. »Anna?«

Anna seufzte. Vielleicht sollte sie über eine Schallisolierung nachdenken?

Die Stimme meldete sich wieder, diesmal lauter. »Hey! Ich bin hier. Mach die Tür auf!«

Tief atmen … Das sollte doch angeblich helfen, ruhig zu bleiben, oder? Anna beschloss, es zu versuchen; sie wollte so gerne in dieser weichen, dämmrigen Dumpfheit bleiben. Das Problem dabei war nur, dass Anna schon seit einer ganzen Weile nicht mehr tief atmen konnte. Zwei Jahre, neun Monate und acht Tage, um genau zu sein.

War es wirklich schon so lange her? Es kam ihr immer noch so vor, als wäre es gestern gewesen.

Sie drehte sich auf die Seite, zog die Knie an die Brust und kniff die Augen zu.

Die Stimme kam erneut durch den Briefschlitz, aber diesmal klang sie genervt. Sogar ein bisschen verzweifelt. Anna atmete zitternd aus. Ihr Kokon der Ruhe war gefährdet. Er bekam Risse. Sie versuchte so zu tun, als gehörten diese Störgeräusche zu einer anderen Ebene, einer anderen Realität. Bis die Stimme weicher, flehender wurde.

»Anna? Minha querida? Alles in Ordnung?«

Anna vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte. Dann kroch sie aus ihrem kuscheligen Nest, richtete sich widerstrebend auf und ging die Treppe hinunter in den Flur.

»Dem Himmel sei Dank!«, sagte ihre beste Freundin, als Anna die Tür öffnete. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass du die Treppe runtergefallen oder in der Badewanne ausgerutscht bist!« Gabrielas Stimme klang munter, als sie in den Flur trat, aber ihr Lachen hatte etwas Angespanntes, und ihre Augen waren voller Fragen. Anna wusste, dass Gabi sie nicht stellen würde, aber sie hörte sie trotzdem. Dir geht’s doch gut? Oder muss ich mir ernsthaft Sorgen machen?

In letzter Zeit hatten alle, die Anna kannte, Fragen in den Augen, wenn sie mit ihr sprachen. Meist waren es dieselben Fragen. Aber sie hatten Angst, das Falsche zu sagen. Oder nicht das Richtige. Anna lebte auf einem Minenfeld aus rohen Eiern.

Gabi drückte Anna eine Blechdose in die Hand. »Ich hatte Sehnsucht nach dem Möhrenkuchen meiner Mutter, aber ich habe viel zu viel davon gebacken.«

»Danke«, sagte Anna und drückte die Dose an sich. »Darauf freue ich mich schon.« Die knallorange Version ihrer brasilianischen Freundin mit dickem Schokoladenüberzug war unglaublich lecker.

Gabi sah sie mit einer Mischung aus Besorgnis und Hoffnung an. »Wirklich?«

Hier ging es nicht nur um Kuchen. Gabi stöhnte immer, ihre üppigen Rundungen kämen daher, dass ihre Mutter Liebe stets durch Leckereien zeigte, aber anscheinend war sie da gar nicht so viel anders.

Anna nickte befangen. »Natürlich.« Und dann brachte sie die Dose in die Küche, in der Hoffnung, dass das Thema damit beendet war.

Sie verstand, dass ihre Familie und ihre Freunde sich um sie sorgten, aber sie hatte es satt, ständig unter Beobachtung zu stehen. Jedes Wort, das sie von sich gab, und jede Geste wurden begutachtet und bewertet, damit sie ihre Notizen vergleichen und sich gegenseitig anhand ihrer gesammelten Beweise davon überzeugen konnten, dass sie endlich »darüber hinwegkam«.

Als Anna in den Flur zurückkehrte, musterte Gabi sie mit gerunzelter Stirn. »Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

Anna hob tastend die Hände und stellte fest, dass ihr schulterlanges braunes Haar am Hinterkopf ganz zerzaust war. Sie versuchte es unauffällig glatt zu streichen, traute sich aber nicht, in den Spiegel neben der Haustür zu sehen. Sie hatte seit Heiligabend das Haus nicht mehr verlassen, und sie fürchtete, ein blasses und ungepflegtes Gegenüber zu erblicken. Gabi hingegen sah makellos aus. Ihr dunkles Haar ringelte sich in seidigen Locken um ihre Schultern, und das kobaltblaue Kleid, das sie trug, passte perfekt zu ihrem warmen Hautton.

»Du bist doch bereit für die Party, oder?« Gabis Blick wanderte hinunter zu dem zerknitterten kleinen Schwarzen, das Anna trug, und ihren unbeschuhten Füßen. »Es sind nur noch ein paar Stunden, bis wir alle ›Frohes neues Jahr‹ rufen, und ich will nicht zu spät kommen!«

Frohes neues Jahr …

Wie gerne würde Anna sich diesen Ausdruck vorknöpfen! Vor allem müsste das erste Wort abgeschnitten und weggeworfen werden. Das »neue Jahr« allerdings war eine Tatsache. Daran konnte sie nichts ändern. Die Zeit würde weiterlaufen, ob sie es wollte oder nicht, aber das mit dem »froh« war einfach lächerlich, sogar fast beleidigend.

Eine Flut von Gefühlen wogte in ihr auf, so mächtig, dass sie am liebsten sofort wieder nach oben gerannt und unter die Decke gekrochen wäre. Sie holte Luft, um Gabi abzusagen, doch der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin ließ sie innehalten. Da waren Verwirrung über Annas zerknautschtes Aussehen und eine gewisse Besorgnis, aber auch noch etwas anderes, das Anna wiedererkannte.

»Auf der Party ist jemand, der dir gefällt, stimmt’s?«, fragte sie, denn dieses Funkeln in Gabis Augen tauchte nur auf, wenn sie verliebt war.

Gabi setzte ihre Unschuldsmiene auf. »Nein.«

Hmm. Anna war sich nicht sicher, ob sie ihr das glauben sollte.

»Sieh mich nicht so an«, wehrte Gabi ab. »Du weißt doch, seit Joel bin ich mit den Männern durch.«

Anna nickte leicht. »Ja, das hast du gesagt.« Ob es allerdings dabei blieb, musste sich erst noch zeigen. In diesem Moment hätte Anna zwanzig Pfund darauf gewettet, dass ihre Freundin spätestens um Mitternacht in einem leidenschaftlichen Kuss versinken würde.

Aber Anna gönnte es ihr. Die Trennung von Joel lag mittlerweile fünf Jahre zurück. Um ehrlich zu sein, war Anna nicht traurig darüber gewesen – er hatte Gabi überhaupt nicht zu schätzen gewusst –, aber Gabi hatte es nicht so gesehen und war vollkommen am Boden zerstört gewesen. Seitdem hatte es nur ein paar kurze Beziehungen gegeben. Gabi mochte selbstbewusste Männer, aber meistens stellte sich heraus, dass sie nicht selbstbewusst, sondern großspurig und egozentrisch waren – nicht unbedingt das Richtige für eine reife, dauerhafte Beziehung.

»Und es stimmt auch«, sagte Gabi im Brustton der Überzeugung, sodass Anna ihr beinahe glaubte. »Bist du startklar?«

Anna blickte zur Treppe, an deren Ende ihr kuscheliger Kokon wartete, und seufzte. Wenigstens eine von ihnen sollte an diesem Abend etwas zu hoffen haben, wenn sie dieses alte erschöpfte Jahr hinter sich zurückließen und über die Schwelle in ein frisches unbeschriebenes traten.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Na klar. Gib mir zwei Sekunden. Ich schnappe mir nur schnell meinen Mantel und ziehe mir Schuhe an.«

Am Abgrund balanciert es sich am besten

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