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5.

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Was ich jetzt wirklich gebrauchen könnte, mehr als alles andere, dachte Anna, als sie beim Haus von Spencers Eltern ankam und den Motor ausstellte, ist eine richtige Umarmung. Sie wünschte, sie stünde vor dem Haus ihrer eigenen Eltern, und ihre Mutter würde sich die Hände am Geschirrtuch abtrocknen und zur Tür gelaufen kommen, um sie zu begrüßen, aber das war nicht möglich. Es sei denn, sie stieg in ein Flugzeug und flog knapp fünftausend Kilometer.

Ihre Eltern waren, kurz nachdem sie und Spencer geheiratet hatten, nach Kanada gezogen. Annas Mutter arbeitete als Conference Centre Manager für eine internationale Hotelkette, und ihr war genau die Position angeboten worden, von der sie ihr ganzes Berufsleben lang geträumt hatte. Der einzige Haken dabei: Die neue Stelle war in Nova Scotia. Annas Vater war gerade als Bauingenieur in den Ruhestand gegangen, und ihre einzige Tochter hatte ihr eigenes Leben, und so hatten sie den Sprung gewagt. Der Plan war, nach England zurückzukehren, wenn ihre Mum in Pension ging. Anna besuchte sie natürlich ab und zu, und sie skypten regelmäßig, aber das war nicht dasselbe. Schließlich konnte man einen Bildschirm nicht umarmen.

Anna lief vom Auto zur Haustür der Barrys und klingelte. Viertel nach eins. So spät war sie noch nie gewesen.

Gayle öffnete ihr. Sie lächelte zwar, aber ihre Haltung wirkte ein wenig steif, als sie sich vorbeugte und Anna kurz auf die Wange küsste. Eine Umarmung gab es nicht. »Du bist spät dran«, sagte sie und musterte Annas Jeans und Wollpullover, die eindeutig nicht ihrem sonstigen Kleidungsstandard für die sonntäglichen Besuche entsprachen, aber Anna hatte kaum Zeit gehabt, etwas Sauberes aufzutreiben, geschweige denn, etwas zu bügeln.

»Äh … ja. Ich konnte nicht so schnell fahren.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Regen, der jenseits des Vordachs immer noch in dicken, eisigen Tropfen niederprasselte.

»Nun, wir haben ein wenig gewartet«, sagte Gayle und ließ sie eintreten. »Aber du kommst gerade noch rechtzeitig – wir wollten uns eben zu Tisch setzen.« Und damit führte sie Anna durchs Haus zu dem großen Esszimmer, das auf den Garten hinausging.

Scott, Spencers älterer Bruder, war auch da und half, die Schüsseln aus der Küche herüberzutragen. Anna versetzte sein Anblick jedes Mal einen Stich. Er sah seinem jüngeren Bruder so ähnlich. Beide Söhne hatten das blonde Haar und die blauen Augen ihrer Mutter geerbt, aber Spencer hatte immer jungenhafter gewirkt. Scotts Gesichtszüge waren schärfer, und er war von Natur aus ernster.

Er und seine Frau hatten kurz vor Weihnachten verkündet, dass sie Ende Mai ihr erstes Kind erwarteten. Teresa nickte Anna kurz zu, als sie mit einer Schüssel voller Klöße hereinkam. Anna schaute unwillkürlich, ob unter Teresas losem Oberteil schon eine Wölbung zu erkennen war. Obwohl sie sich sehr für die beiden freute, empfand sie jedes Mal einen Anflug von Neid, wenn sie daran dachte.

Sie bot ihre Hilfe an, wurde jedoch weggescheucht, und so setzte sie sich auf ihren üblichen Platz am unteren Ende des Tisches. Richard, Spencers Dad, zwinkerte ihr zu, was ihr etwas die Befangenheit nahm, weil sie zu spät gekommen war. Anna zwinkerte lächelnd zurück und spürte, wie ihre Schultern sich ein wenig lockerten.

Nach dem Essen wechselten sie ins Wohnzimmer. Dies war Annas liebster Teil des Nachmittags. Die Tradition hatte direkt nach Spencers Tod begonnen. Um die Zeit mit etwas Sinnvollerem zu füllen, als zahllose Tassen Tee zu trinken, hatten sie gemeinsam die Fotoalben durchgesehen, um ein paar für die bevorstehende Beerdigung herauszusuchen. Es war nicht einfach gewesen, die Auswahl einzuschränken. Mit seinen schelmischen blauen Augen und dem jungenhaften Lächeln war Spencer sehr fotogen gewesen. Nach der Beerdigung hatten sie einfach damit weitergemacht. Es war tröstlich gewesen zu sehen, wie er sie aus den Seiten heraus anstrahlte, ganz typisch Spencer. Und das war es immer noch.

Gayle ging zu dem Regal, in dem die ganzen Alben standen, nach Datum geordnet, und zog eins von der linken Seite heraus.

Kinderfotos? Schon wieder? Es schien ewig her zu sein, seit sie irgendetwas vom anderen Ende des Regals betrachtet hatten, eines der Alben, in denen Anna auch vorkam. Dabei hätte sie gerade heute gut einen greifbaren Beweis ihrer Zeit mit Spencer gebrauchen können, weil ihr alles so durcheinandergewirbelt erschien. Eine Art Anker wäre vielleicht hilfreich gewesen.

Sie nickte wie üblich, während Gayle in dem Album blätterte, und gab zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Laute von sich, und es fiel ihr auch nicht schwer, denn sie liebte all diese Fotos von ihrem Mann als Kind tatsächlich – das, wo er auf einem der Löwen am Trafalgar Square saß, oder das von ihm und dem Schneemann, den er im Garten gebaut hatte.

Anna sah zu ihrer Schwiegermutter hinüber, mit ihrer perfekten Mary-Berry-Helmfrisur, ihrer aufrechten Haltung und ihren präzisen Bewegungen. Die unerschütterliche Loyalität und der ausgeprägte Beschützerinstinkt gegenüber ihrer Familie waren bewundernswert, aber sie hatten einen Nachteil: Gayle gehörte zu der Sorte von Müttern, die überzeugt waren, dass keine Frau gut genug für ihre wunderbaren Jungen war, und Anna hatte eine ganze Weile gebraucht, bis sie sich bei Familientreffen nicht mehr als Außenseiterin gefühlt hatte.

Doch nach Spencers Tod hatte sich das geändert. Gayle hatte Anna plötzlich mit offenen Armen in die Familie aufgenommen. Sie waren vereint in ihrem Verlust, ihrer Trauer. Sie hatte Anna gebraucht. Scott und Richard konnten beide nicht mit Gefühlen umgehen – der eine machte dicht, der andere flüchtete sich in Scherze, wenn es ihm zu viel wurde –, und so war Anna die Einzige gewesen, mit der Gayle hatte reden können. Sie hatten zusammen geweint und gelacht und Erinnerungen nachgehangen.

Annas Eltern waren nach Spencers Tod gekommen, sobald es sich einrichten ließ, und eine Weile bei ihr geblieben. Sie hatten sich sogar erboten, dauerhaft nach England zurückzukehren, aber Anna hatte protestiert; sie durften ihr Leben doch nicht ihretwegen in die Warteschleife stellen. Doch nachdem sie dann wieder abgereist waren, hatte sie gemerkt, wie gut es getan hatte, jemanden bei sich zu haben. Sie wusste, dass die beiden erneut alles stehen und liegen gelassen hätten, wenn sie ihnen gesagt hätte, wie einsam sie sich fühlte, aber das wäre ihnen gegenüber nicht fair gewesen. Deshalb hatte ihr diese neue enge Verbindung zu Gayle sehr viel bedeutet.

Nachdem die Fotoalben wieder weggeräumt waren, drehte sich das Gespräch darum, wie alle Silvester verbracht hatten, aber niemand führte seine Schilderungen weiter aus, weil allen überdeutlich bewusst war, dass einer von ihnen fehlte. Zum Ausgleich erzählte Scott eine Geschichte vom Silvester der Jahrtausendwende, als es ein großes Fest mit Gayles Seite der Familie gegeben hatte. Anna hatte die Anekdote schon zigmal gehört, aber sie musste immer noch darüber schmunzeln. Der fünfzehnjährige Spencer hatte sich während des endlosen langweiligen Essens hinausgeschlichen und die Feuerwerkskörper im Wert von fünfhundert Pfund, die eigentlich für Mitternacht bestimmt waren, hochgehen lassen, während der Rest der Familie beim Dessert saß. Er hatte Glück gehabt, dass er sich dabei nicht mit in die Luft gejagt hatte.

Anna sah, dass Gayle lächelte, aber ihre Augen glänzten, und sie hielt den Kopf gesenkt, während die anderen lachten und weitere Details der Geschichte schilderten. Sie vermutete, dass ihre Schwiegermutter genau dasselbe dachte wie sie: wie ungerecht es war. Alle hatten immer gefrotzelt, dass Spencers Leichtsinn noch mal sein Untergang sein würde, deshalb passte es einfach nicht, dass er vollkommen ruhig und vernünftig über die Straße gegangen war, als es ihn erwischt hatte. Dadurch war sein Tod noch schwerer zu ertragen.

Als sich eine Pause im Gespräch ergab, sagte Anna: »Was ist mit dem Silvester, als Spencer als Einziger zu Hause geblieben ist, weil Lewis krank war? Er hat nicht immer nur Unsinn gemacht.«

»Gott, habe ich diesen Hund geliebt«, warf Richard lächelnd ein. »Er war der Einzige in diesem Haushalt, der mich ernst genommen hat!«

Gayle sah Anna an. »Hat Spencer dir davon erzählt?«

»Nein.«

»Aber du warst damals doch noch gar nicht dabei, oder?«

Anna zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. Sie wollte ihrer Schwiegermutter nicht widersprechen, aber sie würde auch nicht lügen. »Wir waren ganz frisch zusammen. Es war alles noch ganz neu.«

Gayle runzelte die Stirn. »Das glaube ich nicht.« Und dann ersetzte sie Annas Geschichte durch eine eigene.

Anna schwieg. Sie wusste, dass sie recht hatte, denn es war ihr erstes Silvester mit Spencer gewesen. Sie hatten es hier in diesem Haus verbracht, sich mit dem kranken Hund aufs Sofa gekuschelt. Selbst wenn ihre Schwiegermutter sich nicht daran erinnerte, warum hatte sie so entschieden – und auch ziemlich schnippisch – dagegengehalten? War das die Strafe dafür, dass sie zu spät gekommen war?

Doch falls Gayle verärgert war, ließ sie es sich nicht anmerken, als sie eine Anekdote aus Spencers Grundschulzeit erzählte. Im Gegenteil, sie lachte und gestikulierte, während sie schilderte, wie Spencer sich hinter dem Sofa versteckt hatte, damit er zusammen mit der Familie das neue Jahr begrüßen konnte. Sie hatten ihn am nächsten Morgen schlafend dort gefunden, nachdem sein leeres Bett für einige Panik gesorgt hatte. Diese Erinnerung war für Gayle sicheres Territorium. Da bestand keine Gefahr, dass jemand, der nicht als Barry geboren war, versehentlich einen Fuß hineinsetzte.

Anna nickte und lächelte – was sollte sie auch sonst tun, sie war ja nicht dabei gewesen –, aber während sie dort saß, fiel ihr auf, dass ihre Schwiegermutter in letzter Zeit öfter ein wenig schroff zu ihr war. Gayle war nie ein einfacher Mensch gewesen, und so hatte sie sich zunächst nichts weiter dabei gedacht. Aber nun fragte sie sich doch, was dahintersteckte.

Am Abgrund balanciert es sich am besten

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