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10.

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Etwa eine Stunde später fuhr Anna auf einen nahezu leeren Parkplatz. Zwischen dem Marina Café, einem Toilettenhäuschen und anderen niedrigen Gebäuden war die weite mattgraue Fläche des Meeres zu sehen. Als sie aus dem Auto stieg, peitschte ihr der Wind die Haare ins Gesicht, doch sie nahm es kaum wahr, so sehr war sie in Gedanken.

Auf dem Weg durch die schmale Sackgasse, die zum Strand führte, war sie an dem Bungalow vorbeigekommen, in dem Spencer und sie damals gewohnt hatten, und obwohl er renoviert und erweitert worden war, hatte sie ihn sofort erkannt.

Der Ort war eine gute Wahl für diesen Tag. Alles hier war voller Erinnerungen an Spencer, sogar dieser Parkplatz zwischen den Dünen, über den der Wind den Sand wirbeln ließ. Sie sah ihn vor sich, wie er fluchend vor dem Parkautomaten stand, weil das Ding sein 50-Pence-Stück immer wieder ausspuckte. Und dort neben dem Café war der Strandaufgang, über den er sie getragen hatte, weil sie sich nach dem Paddeln die Füße abgetrocknet hatte und nicht wollte, dass sie wieder sandig wurden.

Sie seufzte. Am liebsten wäre sie sofort losgewandert, um sich all die glücklichen Momente ins Gedächtnis zu rufen. Sie brauchte sie.

Hinter ihr fuhr ein weiteres Auto auf den Parkplatz – Gayle und Richard in ihrem alten, aber tipptopp gepflegten Rover, mit Scott und Teresa auf dem Rücksitz. Sie hielten am anderen Ende, drüben beim Café. Anna schloss ihren Wagen ab und ging zu ihnen hinüber.

Gayle stieg in einem eleganten schwarzen Kleid mit passender Jacke aus, und trotz des Windes löste sich kein Haar aus ihrer Frisur (wie machte sie das? Mit Schellack?), während sie mit militärischer Strenge verfolgte, wie Richard eine Stofftasche aus dem Kofferraum holte und Gummistiefel überzog.

»Hi«, sagte Anna, als sie bei ihnen ankam.

»Oh, hallo«, erwiderte Gayle mit schmalem Lächeln. »Du bist da.« Sie musterte Annas Aufzug – Jeans, dunkelgrüner Pulli und ihr üblicher schwarzer Mantel –, und ihre Augenbrauen wanderten ein winziges Stück nach oben. Anna war Bequemlichkeit wichtiger gewesen als Eleganz, aber selbst wenn sie etwas Schickeres gewählt hätte, wäre sie nicht ganz in Schwarz gekommen. Sie wollte sich nicht so anziehen, als wäre sie erneut bei seiner Beerdigung.

Auch die anderen kamen, um sie zu begrüßen, und alle drei umarmten sie und gaben ihr einen Kuss auf die Wange. Richard und Scott trugen dunkle Anzüge und Teresa ein schlichtes anthrazitgraues Kleid, ganz ähnlich wie das ihrer Schwiegermutter. Keiner von ihnen war passend für einen Tag am Strand angezogen. Hatten sie vergessen, Anna zu informieren? Was hatten sie vor?

»Hast du die Tasche, Richard?«, fragte Gayle.

»Jawoll«, erwiderte Richard und hielt sie zum Beweis hoch.

Sie nickte, dann drehte sie sich um und marschierte ohne Rücksicht auf ihr unpassendes Schuhwerk auf die Dünen zu. »Na, dann los«, sagte sie. »Als Erstes gehen wir zu ›unserem‹ Picknickplatz.«

Oh, dachte Anna. Es gab einen Plan. Natürlich. Und zwar einen, an dem sie keinen Anteil hatte und der auch nicht mit ihr besprochen worden war. Nun, sie hatte auch einen Plan, der genauso wichtig war. Sie straffte die Schultern und zog den Mantel enger um sich. »Gayle … warte mal«, rief sie ihr hinterher.

Mit einer Mischung aus Verblüffung und Ärger drehte Gayle sich um.

»Könnten wir vorher noch kurz zu dem Bungalow gehen, dem kleinen gelben da hinten an der Straße? Da waren Spencer und ich nämlich –«

»Vielleicht später«, sagte Gayle, drehte sich wieder um und ging weiter. »Wenn wir noch Zeit haben«, fügte sie über die Schulter hinzu. »Sonst wird es zu spät für das Abendessen.«

»Abendessen?«, wiederholte Anna.

»Bei uns. Ich habe Sandwiches und Windbeutel vorbereitet. Richard hat dir doch eine E-Mail geschickt, oder nicht?«

Anna klappte der Mund auf, aber sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie erinnerte sich, dass sie eine Mail bekommen hatte, aber um ehrlich zu sein, hatte sie sie nur überflogen, um Ort und Zeit des Treffens zu erfahren. Richard hatte eine gewisse Neigung zur Geschwätzigkeit.

Vielleicht war das ihr eigenes Versehen, aber sie ärgerte sich darüber, dass sie überhaupt nicht nach ihrer Meinung gefragt worden war. Gayle schien immer wieder zu vergessen, dass an diesem Tag alle Spencers gedenken wollten, nicht nur sie. Während Anna noch überlegte, wie sie ihr das klarmachen konnte, ohne allzu giftig zu klingen, musste sie daran denken, worüber sie und ihre Mutter vorhin gesprochen hatten. Alles unter Kontrolle zu haben war Gayles Art, damit klarzukommen. Es war nichts Persönliches, das durfte sie nicht vergessen.

Anna stand einen Moment lang da, hin- und hergerissen zwischen Ärger und Mitgefühl, dann ließ sie die Schultern hängen. Also gut – obwohl ihr Gayles herrschsüchtige Art mächtig auf die Nerven ging, würde sie den Mund halten. Aber sie würde auf jeden Fall später zu dem gelben Bungalow gehen, ganz egal, was Gayle dazu sagte.

Anna atmete aus, was jedoch wenig dazu beitrug, ihre Nerven zu beruhigen, schob die Fäuste in die Taschen und stapfte hinter den anderen die große Düne hinauf, die den östlichen Rand des Parkplatzes zu verschlingen drohte.

Die nächste Stunde erlebte Anna, als würde sie sich von außen beobachten, als sähe sie einen Film, und die Kamera zeigte alles in der Totalen. Anders hätte sie es nicht ertragen. Gayle hatte die Rolle der Haupttrauernden an sich gerissen, obwohl alle anderen Anwesenden einen ebenso großen Schmerz in sich trugen wie sie. Anna war die treue Assistentin, die neben Gayle stehen durfte, während diese am Lieblingspicknickplatz der Familie eine Rede hielt. Dann mussten alle eine Nachricht an Spencer schreiben, die Zettel zusammenrollen und in eine Flasche stecken, die dann an einer von Gayle bestimmten Stelle im Sand vergraben wurde.

Anna hätte gerne ein wenig mehr als die von Gayle zugestandenen zwei Minuten gehabt, um sich zu überlegen, was sie schreiben wollte, denn als sie auf den leeren Streifen feinsten Schreibpapiers starrte (Gayle machte keine halben Sachen), fiel ihr partout nichts ein. Sie starrte wie hypnotisiert darauf, bis die Zeit fast um war, dann kritzelte sie »Ich liebe dich« darauf und steckte das Papier in die Flasche. Von Herzen. Wahr. Aber nicht sehr eloquent. Und auch nicht der Abschied, den sie sich vorgenommen hatte. Aber wie sollte das auch auf die Schnelle gehen?

Und dann wurden sie zum nächsten Ort geschleppt, der für alle von Bedeutung war, außer für Anna und Teresa, die sich, mittlerweile im siebten Monat schwanger, ohne zu murren die Dünen hoch und runter kämpfte. Da hätte es nicht gut ausgesehen, wenn Anna etwas gesagt hätte.

Sie schaltete auf Durchzug, ließ die Stimme ihrer Schwiegermutter zu einem Hintergrundgeräusch werden wie das Kreischen der Möwen und versuchte, jenen stillen Ort in ihrem Herzen zu finden, wo sie mit Spencer reden und ihm sagen konnte, was ihr an diesem Tag wichtig war. Gerade als sie sich so weit konzentriert hatte, dass sie beginnen konnte, klatschte Gayle in die Hände und verkündete: »Nun, ich denke, es ist an der Zeit, dass wir zum wichtigsten Teil dieses Nachmittags kommen, dem Grund, warum wir uns entschieden haben, dieses Jahr hierhinzufahren … Richard, hast du die Tasche?«

Richard, der seit ihrer Ankunft kaum ein Wort gesagt hatte, nickte. Wieder blickte Anna auf die Stofftasche, die er schon die ganze Zeit mit sich herumtrug. Was war denn nur darin?

Er reichte Gayle die Tasche, und sie griff hinein und holte ehrfürchtig eine kleine Metallurne heraus. So eine mit Deckel, die verwendet wurde, um …

Nein. Das konnte nicht sein.

»Wir gehen hinunter an den Strand«, sagte Gayle, »und dann können Richard und Scott die Asche ins Meer streuen.«

Asche?

Das kann sie nicht gesagt haben, dachte Anna, obwohl die Urne in Gayles Hand das Gegenteil bewies, aber bevor sie darüber nachdenken konnte, fügte Gayle hinzu: »Wir sind uns alle einig, dass dies der richtige Ort ist?« Sie sah von einem zum anderen, und alle nickten und murmelten etwas Zustimmendes. »Er hätte ihn selbst auch gewählt, wenn es seine Entscheidung gewesen wäre.« Und dann wanderte ihr Blick zu Anna.

»Asche?«, fragte Anna schwach. Es war im Moment das einzige Wort in ihrem Kopf.

Gayle nickte.

»Spencers Asche?«

Teresa blickte nervös zu ihrer Schwiegermutter und dann zu ihrem Mann. Doch Scott hielt den Kopf gesenkt und betrachtete eingehend eine vergessene Plastikschaufel im Sand.

Gayle richtete sich ein wenig mehr auf. »Ja.«

»Aber Spencers Asche ist im Gedächtnisgarten des Krematoriums!«

Gayle zuckte mit keiner Wimper. »Deine Hälfte ist dort. Unsere Hälfte ist hier …« Sie klopfte sanft auf die Urne. »Und wir werden die Asche am Lieblingsort meines Sohnes verstreuen.«

Ihre Hälfte?

Anna stand fassungslos da, während der Rest der Familie die Düne erklomm, um zum Strand zu gehen. Mit einem Teil von ihrem Mann, von dessen Existenz sie nichts gewusst hatte!

Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach jener verschwommenen Zeit direkt nach Spencers Unfall, in der sie kaum etwas auf die Reihe bekommen hatte. Richard und Scott hatten sich um fast alles gekümmert, was mit der Beerdigung und der Testamentseröffnung zu tun hatte. Es war möglich, dass sie die Hälfte der Asche für sich behalten hatten, aber warum hätten sie das tun sollen? Und warum hatten sie ihr nichts davon gesagt?

Aber vielleicht hatten sie ja mit ihr darüber gesprochen. Sie hätten sie fragen können, ob sie zu der Beerdigung Zirkusclowns und rosa Elefanten bestellen sollten, und sie hätte genickt und gesagt: »Ja, wenn ihr meint …«

Die anderen waren mittlerweile hinter dem Dünenkamm verschwunden. Anna folgte ihnen hastig, aber nun, da der Sand aufgewühlt war, rutschte die obere Schicht immer wieder über die darunterliegende und zog sie mit sich. Es war, als würde man eine abwärtsfahrende Rolltreppe hochlaufen. Sie zwang sich, einen Moment stehen zu bleiben und Luft zu holen, wählte dann einen anderen Weg und setzte gezielt einen Fuß vor den anderen, bis sie oben ankam.

Teresa wartete dort auf sie, und sie gingen gemeinsam weiter, den Blick auf die anderen drei Mitglieder der Familie Barry gerichtet, die schon ein gutes Stück weiter waren. Camber Sands war einer dieser flachen Strände, die sich im Sommer wunderbar für Familien eigneten, denn bei Ebbe zog sich das Meer fast bis zum Horizont zurück und hinterließ lauter sonnengewärmte Priele, in denen die Kinder spielen konnten. Doch an einem Tag wie diesem war es ein langer, windgepeitschter Weg bis zum Wasser.

»Du wusstest nichts davon?«, fragte Teresa, während sie den anderen folgten.

Anna schüttelte den Kopf.

»Blöde Kuh«, murmelte Teresa.

Anna sah sie überrascht an. Sie hatte noch nie erlebt, dass ihre Schwägerin aufmuckte, aber ihr Kommentar traf den Nagel auf den Kopf.

Gayle war an diesem Tag wirklich eine blöde Kuh, und Anna hatte sich alles gefallen lassen, hatte die kleinen Sticheleien und Brüskierungen ignoriert, weil sie sich bemühte, die Schwiegertochter zu sein, die Spencer sich wünschen würde: freundlich und hilfsbereit, voller Nachsicht für Gayles Schmerz. Aber in der letzten halben Stunde hatte sich erschreckend deutlich gezeigt, dass das eine Einbahnstraße war.

Spencer hatte seine Mutter geliebt, aber er hatte durchaus auch ihre Fehler gesehen, und er hätte sicher nicht gewollt, dass seine Frau sich in der Rolle der liebevollen Schwiegertochter alles bieten ließ. Er hatte sie immer ermuntert, für sich einzustehen und Rückgrat zu zeigen.

Von diesem Gedanken angespornt, marschierte sie auf das kleine Grüppchen zu, das am Wassersaum stand. Mit jedem Schritt loderte das Feuer ihrer Wut heller. Teresa stapfte hinter ihr her, so gut sie konnte.

Annas erster Impuls war, sich vor Gayle hinzustellen und ihr mal so richtig die Meinung zu sagen, aber dann erinnerte sie sich, dass sie laut Spencer und Gabi immer alles so lange in sich aufstaute, bis es nicht mehr ging, und dann explodierte das Ganze in einem wirren Durcheinander. Das konnte sie jetzt nicht gebrauchen. Es war wichtig, dass Gayle verstand, worum es ihr ging, nämlich dass es nicht in Ordnung war, dass sie sie völlig aus ihren Plänen für heute ausgeschlossen hatte.

Als sie bei ihren Schwiegereltern ankam, sah Anna Gayle mit festem Blick an und holte Luft, um loszulegen. Doch genau in dem Moment schraubte Richard den Deckel von der Urne, und da durchzuckte sie mit einem Mal ein so heftiger Schmerz, dass sie keinen Ton herausbekam.

Ein gellender Klagelaut durchbrach das Rauschen des Windes und der Wellen. Es war kein Schrei der Verzweiflung, sondern etwas Rohes, fast Unmenschliches.

Anna nahm an, dass sie ihren inneren Kampf nun doch verloren hatte, dass die brodelnden Gefühle sie wie eine Flutwelle überrollt hatten, und schlug die Hand vor den Mund. Aber dann sah sie, wie Gayle neben ihr zusammenbrach und auf den geriffelten nassen Sand sank, und begriff, dass der Laut nicht von ihr gekommen war, sondern von ihrer stets so gefassten Schwiegermutter.

Der Sand und das Salzwasser ruinierten Gayles gute Kleider, aber sie schien es nicht zu bemerken. Sie wurde von so heftigen Schluchzern geschüttelt, dass sie sich mit der Hand abstützen musste und ihre Finger im Matsch versanken.

Anna hätte sie am liebsten am Arm gepackt und hochgezerrt, damit sie mit diesem schrecklichen Lärm aufhörte. Nein, hätte sie gerne gebrüllt. Das hier ist nicht dein Moment. Spencer war nicht dein Mann. Er war meiner! Und ich war sein Lieblingsort, nicht dieser elende, schmutzige Strand. Ich war diejenige, die ihm am meisten Freude gebracht hat!

Richard und Scott versuchten, Gayle aufzuhelfen, aber sie wehrte ihre Hände ab, und das wilde Schluchzen ging weiter. Anna starrte auf Spencers Mutter hinab, und plötzlich kam ihr etwas von dem seltsamen nächtlichen Telefonat am Valentinstag in den Sinn.

Wenn das Leben sich plötzlich und unerwartet verändert, trauert man um das, was war und nie wieder sein wird. Ich würde sagen, das ist menschlich …

Ja, dachte Anna. Die Worte schenkten ihr an diesem aufwühlenden Tag Ruhe und Kraft, erdeten sie und brachten sie zurück in die Wirklichkeit. Was auch immer Gayle heute getan hat, sie ist menschlich. Und sie verdient mein Mitgefühl.

Langsam und vorsichtig kniete sie sich neben Gayle, legte den Arm um sie und drückte sie an sich.

Am Abgrund balanciert es sich am besten

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