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4.

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Aufzuwachen ist manchmal so, als glitte man aus einem sanften weißen Nebel. Der Dunst lichtet sich, und man fühlt sich ausgeruht, wach und klar, bereit, den Tag zu beginnen. Für Anna jedoch fühlte es sich an diesem Morgen eher so an, als sei sie unter einer Lawine begraben. Ihr Schlaf war zum Glück traumlos gewesen, doch sie hatte das Gefühl, dass etwas Schweres auf ihrer Brust lastete, und sie wusste nicht, wo sie war. Sie lag da, unfähig, sich zu bewegen oder zu denken. Schließlich begann sie sich freizukämpfen.

Als Erstes versuchte sie, die Augen zu öffnen. Sie blinzelte ein paarmal, bis es ihr halbwegs gelang, und schaute nach dem Wecker, doch dort, wo eine Digitalanzeige hätte sein sollen, war jetzt ein altmodischer Wecker mit Glocken obendrauf und kleinen Messingfüßchen.

Obwohl die schweren Vorhänge zugezogen waren und kaum Licht hereinließen, erkannte sie, dass das Fenster am falschen Platz war. Es hätte rechts sein müssen, aber es befand sich eindeutig links.

Verwirrt setzte sie sich auf, und da fiel es ihr wieder ein. Sie war gar nicht in ihrem Schlafzimmer, sondern im Gästezimmer. Sie rieb sich die müden Augen, und ihr Magen schlug einen Salto.

O Gott. Letzte Nacht … Der Anruf.

Sie erinnerte sich nicht einmal mehr an Spencers Ansage, nur an das, was danach gekommen war – die Stimme. Die Stimme, die gesprochen hatte, obwohl da nur Leere und Stille hätten sein müssen.

Als sie sie hörte, hatte sie sofort das Handy in die Tiefen des Schranks geschleudert und war panisch durchs Schlafzimmer gekrabbelt, bis sie an der gegenüberliegenden Wand ankam. Dort hatte sie sich zitternd hingesetzt, die Knie bis ans Kinn gezogen, und den offenen Schrank angestarrt, als könnte dort jeden Moment ein Geist auftauchen. Irgendwann hatte sie es schließlich geschafft, aufzustehen und durch den Flur in dieses Zimmer zu taumeln, wo sie sich aufs Bett geworfen und, so zerwühlt, wie alles aussah, offenbar sehr unruhig geschlafen hatte.

Nach Spencers Tod hatte sie alle möglichen seltsamen Dinge geträumt, zum Beispiel dass ihr Leben ganz normal weiterlief, und es hatte sich so real angefühlt, dass das Aufwachen fast so war wie in den ersten furchtbaren Tagen nach dem Unfall. Und dann die Albträume …

Doch die Träume waren nicht immer schlimm gewesen. Manchmal hatte sie sich in diesem Zwischenreich zwischen Schlafen und Wachen vorgestellt, er läge neben ihr im Bett, warm und solide und lebendig. Ein- oder zweimal war sie überzeugt gewesen, sie hätte seinen Atem in ihrem Nacken gespürt oder seine Hand auf ihrem Oberschenkel, aber als sie dann richtig wach wurde, war seine Seite des Bettes kühl und unberührt gewesen. Sie hatte angenommen, dass ihr Unterbewusstsein sich weigerte, die Wahrheit zu akzeptieren, und versuchte, die riesige Lücke, die er hinterlassen hatte, zu füllen.

War letzte Nacht etwas Ähnliches passiert? Sie war aufgewühlt gewesen, als sie die Party verlassen hatte. Vielleicht hatte das etwas ausgelöst …

Während Anna noch darüber nachdachte, fiel ihr mit einem Mal ein, dass sie zwar auf den Wecker gesehen, aber gar nicht darauf geachtet hatte, was er anzeigte. Sie wandte den Kopf, um noch einmal nachzusehen.

Halb zwölf? Sie sprang aus dem Bett.

Um halb eins sollte sie bei Spencers Eltern zum Neujahrsessen sein, und die Fahrt nach Epsom dauerte mindestens eine Dreiviertelstunde. Sie musste sofort los!

Doch ein kurzer Blick in den Spiegel belehrte sie eines Besseren. Sie hatte immer noch das zerknitterte schwarze Kleid an, ihre Strumpfhose hatte eine Laufmasche, die von der Ferse bis zum Rocksaum reichte, und ihre Haare sahen aus, als wäre sie in einen Orkan geraten.

Im Moment war keine Zeit, darüber nachzudenken, was letzte Nacht passiert war. Sie musste zusehen, dass sie in weniger als fünfzehn Minuten geduscht und halbwegs präsentabel war, und selbst wenn sie den ganzen Weg nach Epsom mit der Geschwindigkeitsbegrenzung flirtete, würde es verdammt knapp werden.

Spencers Mum war sehr auf Pünktlichkeit bedacht, und Anna achtete stets darauf, dass sie zum sonntäglichen Mittagessen, das alle zwei Wochen stattfand, um Punkt halb eins da war, obwohl sie nie vor eins aßen. Während Spencer notorisch unpünktlich gewesen war – Anna konnte sich an kein Familientreffen mit ihm erinnern, bei dem sie nicht mindestens eine halbe Stunde zu spät gekommen waren –, schien Gayle bei ihrer Schwiegertochter strengere Maßstäbe anzulegen.

Diese gemeinsamen Mittagessen hatten kurz nach Spencers Tod begonnen, um einander in dieser schweren Zeit zu unterstützen und gemeinsam zu lachen und zu weinen und seiner zu gedenken, und irgendwie waren sie immer weitergegangen, weil niemand den Mut aufbrachte, die Tradition zu durchbrechen. Zu spät zu kommen würde respektlos wirken.

Um zwölf hatte Anna sich wieder im Griff und stieg ins Auto. Um zwanzig nach bog sie auf die M25 ein und trat aufs Gas. Es schüttete, und wäre es noch ein oder zwei Grad kälter gewesen, wäre daraus Schneeregen geworden. Sie stellte die Scheibenwischer auf höchste Stufe und zwang sich, mehrere Autos und Lastwagen zu überholen, obwohl sie bei diesem Wetter lieber auf der langsamen Spur geblieben wäre. Doch die Strecke war ihr vertraut, und nach kurzer Zeit fuhr sie praktisch auf Autopilot und ließ ihre Gedanken wandern.

Was war denn nun wirklich letzte Nacht passiert?

Eigentlich gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie hatte die Stimme am Telefon – Spencers Stimme? – tatsächlich gehört, oder sie hatte es sich eingebildet. Beide Varianten behagten ihr nicht sonderlich, denn die erste war zu abgedreht, um sie ernsthaft in Betracht zu ziehen, und die zweite bedeutete, dass sie das neue Jahr mit einem Nervenzusammenbruch begann.

Denn er hatte ja nicht einfach irgendwas gesagt. Er hatte »Wie bitte?« gesagt. Ihre Worte, ihr Ding.

Hatte sie sich so sehr danach gesehnt, es noch einmal zu hören, dass sie sich das Ganze eingebildet hatte? So musste es sein. Sie war den ganzen Abend so aufgewühlt gewesen, schon bevor sie sich im Schrank ihres verstorbenen Mannes verkrochen hatte. Was sie alles zu Gabi gesagt hatte …

O Gott – Gabi!

Sie hatte völlig vergessen, sie anzurufen und sich bei ihr zu entschuldigen. Was war sie nur für eine miese Freundin!

Normalerweise war Anna eine vorsichtige Fahrerin, so sehr, dass Spencer sie immer »Grandma« genannt hatte, wenn sie am Steuer saß, aber jetzt schwenkte sie auf den Standstreifen und hielt an. Das hier war ein Notfall. Ihre Handtasche lag auf dem Beifahrersitz, und sie kramte mit der linken Hand darin herum. Erst als ihre Finger den Boden berührten, fiel es ihr ein.

Ihr Handy lag immer noch im Schrank, wo sie es nach dem Anruf hingeworfen hatte. So sehr sie auch das schlechte Gewissen Gabi gegenüber plagte, im Moment konnte sie nichts tun. Es würde bis zum Nachmittag warten müssen, wenn sie wieder zu Hause war.

Anna spähte auf die Fahrbahn, setzte den Blinker und fädelte sich wieder ein. In ihrem Kopf hörte sie immer noch die Stimme – seine Stimme.

Wie bitte?

Genau das, was Spencer gesagt hätte, allerdings ohne das kaum unterdrückte Lachen und die samtige Weichheit, die ihr so vertraut war. Er hatte so ernst geklungen, so traurig. Als litte er genauso unter ihrer Trennung wie sie.

Einerseits passte das. Andererseits auch wieder nicht. Wenn es nur Einbildung war, warum hatte sie nicht Spencers heitere, spitzbübische Stimme gehört? Denn genau danach sehnte sie sich doch, nach der typisch Spencer’schen Fröhlichkeit, nach dem Lächeln in seinen Worten. Warum hatte sie ihn sich so kummervoll vorgestellt?

Spencer hätte sie für diese Überlegungen ausgelacht, aber waren sie denn wirklich so lächerlich? Sie hatten doch immer gesagt, dass ihre Liebe etwas Besonderes war. Einmal, als sie bei einer Dinnerparty gewesen waren, hatte einer von seinen Freunden gesagt, falls ihm etwas zustieße, wolle er, dass seine Frau nach vorne schaute und wieder heiratete; darauf hatte Spencer erwidert, so großzügig sei er nicht, er werde einen Weg finden zurückzukommen, denn Anna gehöre für immer zu ihm. Was, wenn er tatsächlich einen Weg gefunden hatte? Schließlich wusste ja niemand wirklich, was nach dem Tod geschah, oder? Das war der einzige Bereich, in den die Wissenschaft niemals ihre neugierige Nase stecken konnte. Was, wenn etwas Wunderbares, etwas Unmögliches passiert war?

Nein, sagte sie sich. Das ist Quatsch.

Es konnte nicht wahr sein. Denn was sollte sie tun, falls doch? Zum Mittagessen bei ihren Schwiegereltern aufkreuzen und in aller Ruhe verkünden, dass sie in der vergangenen Nacht mit ihrem geliebten dahingeschiedenen Sohn geplaudert hatte? Das klang absurd. Es war absurd.

Also gut. Anna atmete zitternd aus. Es half, das Ganze in einen Zusammenhang zu setzen. Schön, vielleicht war es nicht nur ein Traum gewesen. Das hieß aber noch lange nicht, dass es wirklich passiert war. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus Wirklichkeit, Einbildung und Gefühlen – das würde sie sich zumindest sagen, wenn sie wieder anfing, sich deswegen verrückt zu machen. Und sie würde es sich während des gesamten Mittagessens sagen.

Am Abgrund balanciert es sich am besten

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