Читать книгу Krieg im Gehirn - Frank Henning - Страница 8

Essen als Metapher –
für unseren Umgang mit der Welt und unseren Umgang mit uns selbst Oder: Über den Unterschied zwischen Nahrungsmitteln und Lebensmitteln

Оглавление

Für die Ernährung gilt in Kriegszeiten: Das Beste für unsere Soldaten an der Front. Was versteht man unter „das Beste“? Nahrhaft soll das Essen sein, konzentriert, kräftigend.

In Südafrika findet sich auf etlichen Nahrungsmitteln der Hinweis: Hält lange vor, stopft, sättigt und macht dick. Nahrung dieser Art enthält große Mengen an Kalorien, an Eiweiß, Zucker und Fett und ist geeignet für Soldaten, Bauern, Bergleute, bei körperlich harter Arbeit.

In den USA (und natürlich auch in Deutschland) wirbt man gern mit dem Hinweis: kalorienreduziert, fettfrei, geschmacksverstärkt, leicht verdaulich, nicht belastend. Nahrung dieser Art enthält eigentlich überhaupt nichts mehr, jedenfalls nichts „Böses“ wie Kalorien oder Fett, soll aber schmecken. Sie ist geeignet für Büroangestellte, zur Unterstützung im Kampf gegen das Übergewicht.1 Schon wieder Kampf. Für Menschen, die viel sitzen und sich wenig bewegen, für Kopfarbeiter, die stundenlang im Büro sitzen, am Computer, und für Kinder, die das Gleiche tun – übergewichtig und unbewegt auf den Bildschirm starren.

Zur Beruhigung des Gewissens wird derartige Nahrung angereichert mit allen Vitaminen, die der Körper braucht. Sie sind beliebig lange haltbar, in kurzer Zeit einfach zubereitet, und ebenso schnell gegessen, kauen ist überflüssig. Nahrung dieser Art versucht die Nahrungsmittelindustrie uns zu verkaufen und hat damit großen Erfolg, weil sie sie uns schmackhaft macht – mit Geschmacksverstärkern.

Bei allen genannten Beispielen handelt es sich nicht um Lebensmittel, sondern um Nahrungsmittel; Lebensmittel dienen dem Leben, und sie tun es nachhaltig. Nahrungsmittel dienen dem Überleben, kurzfristig, von einem Tag zum nächsten. Im Krieg unterscheidet man nicht zwischen Nahrungsmitteln und Lebensmitteln; tagsüber ist Krieg, und man ist froh, wenn man den Tag überlebt.

Iss dich richtig satt, du weißt nicht, wann du wieder etwas bekommst! In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war dieser Satz tatsächlich ein Rat, den zu befolgen sich lohnte; aber warum essen wir heute noch so? Gut gegessen heißt immer noch: viel gegessen. Gut, aber gut für wen?

Schon das Tempo der Nahrungsaufnahme zeigt, dass der nächste Angriff unmittelbar bevorsteht: Man schlingt sein Essen herunter. Viele Menschen ernähren sich genau so wie Soldaten im Krieg; in einer 5-minütigen Gefechtspause gilt es, so viel an hochkonzentrierter Nahrung zu sich zu nehmen wie möglich. Um ihren randvollen Teller leer zu essen, brauchen viele Menschen tatsächlich keine fünf Minuten, auch wenn sie eigentlich nicht unter Zeitdruck stehen.

Wer ist hier der Kriegsgegner? Die Zeit! Wenn der Magen gefüllt ist, stellt sich ein Sättigungsgefühl im Allgemeinen etwa zehn Minuten später ein – in dieser Zeit schaffen es viele, noch eine weitere komplette Mahlzeit zu sich zu nehmen. Dann treten ganz andere Gefühle auf als das der natürlichen Sättigung, nämlich Völlegefühl, Druck, schlechtes Gewissen, Aufstoßen – früher schickte man einem reichhaltigen Essen einen „Verteiler“ hinterher, heute lässt man rezeptfreie Medikamente aus der Apotheke den „Magen aufräumen“.

Andere verzichten ganz auf ihr Mittagessen, um sich stattdessen Power-Snacks, Energieriegel, Schokolade oder (im besten Fall) Obst zuzuführen – zur unmittelbaren Erhöhung des Blutzuckers, ohne dafür die Arbeit unterbrechen zu müssen. Eben wie ein Soldat, der den Schützengraben gar nicht erst verlässt.

Etwas anders sieht es beim Abendessen aus. Viele Menschen feiern das abendliche Essensritual wie einen Triumphzug: Wieder einen Tag überstanden! Heute habe ich gewonnen! Man reserviert einen Tisch im Restaurant, mit weißem Hemd und Krawatte feiert man die Siege des Tages und wie bei jeder Feier gönnt man sich etwas Gutes und genießt, man lässt sich mehr Zeit zum Essen und hat dabei auch angenehmere Gedanken; während man mittags an die Arbeit denkt, die man heute noch zu erledigen hat, denkt man abends eher daran, was alles hinter einem liegt, was man geschafft hat. Das erlaubt einem, das Essen tatsächlich zu genießen. Dadurch ist der Körper in einer besseren, das heißt ruhigeren, entspannteren Verfassung, während man mittags oft unter Stress steht. Deswegen bekommt einem das Abendessen meistens besser als das Mittagessen, auch wenn es reichhaltiger ist als erforderlich und später als empfohlen.

Bei Raubtieren ist der Eiweißanteil in der Nahrung deutlich höher als bei ihren Beutetieren. Raubtiere leben von kurzen, aggressiven Attacken, in denen sie ihre gesamte Kraft und Schnelligkeit einsetzen müssen, um Beute zu machen: schnelles, entschlossenes und rücksichtsloses Handeln. Dafür haben Raubtiere eine geringe Ausdauer. Bei ihrer Beute handelt es sich meist um Pflanzenfresser; diese sind ruhiger, friedlicher, ausdauernder, und sie leben länger – wenn sie nicht vorher zur Beute werden.

Der Eiweißanteil in der menschlichen Ernährung hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich erhöht. Versuchen wir, uns damit Kraft zu verschaffen für den Kampf? Hat tierisches Eiweiß mit Aggression zu tun?

Chronisches Schlafdefizit oder Stress bewirken latenten oder chronischen Energiemangel. Auf in den Kampf! sagt der Wecker jeden Morgen. Viele Menschen versuchen (instinktiv oder bewusst), diesen Energiemangel durch erhöhte Nahrungszufuhr zu kompensieren, vor allem durch verstärkte Zufuhr von Eiweiß. Eiweißabbauprodukte, die der Körper nicht ausscheiden kann, lagert er im Gewebe ab. Es kommt zur allmählichen Selbstvergiftung, die aber nicht bewusst wird, da sie chronisch ist und nicht akut. Viele ernähren sich wie ein Schwerarbeiter, da sie subjektiv das Gefühl haben, schwerste Arbeit zu leisten – ohne aber ihren Körper entsprechend zu bewegen.

Krieg im Gehirn

Подняться наверх