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Was im Village abgeht

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Frühjahr 1972

Ich wartete, bis die Schlusslichter des Wagens nur noch müde glimmenden Funken glichen, dann ging ich ins Haus.

Die Party war in vollem Gange. Die Bässe der Stereoanlage dröhnten. Es wurde getanzt und gelacht. Wie immer dauerte es ein paar Augenblicke, bis ich mich an das amerikanische Englisch der jungen Leute gewöhnt hatte.

Ein Mädchen aus dem Village, das ich vom Sehen kannte, stürzte auf mich zu und schlang ihre dünnen Arme um mich. Schon ziemlich angetrunken, legte sie ihren Kopf an meine Schulter, und ich versuchte den Rhythmus von Eloise zu finden. Das war nicht so einfach. Zum einen hatte ich meine Gitarre in der Hand, zum anderen hing das Mädchen wie Blei an mir. Sie hob den Kopf, lächelte, und genauso plötzlich wie sie mich eingefangen hatte, ließ sie mich los und hängte sich an den Jungen, der sich gerade an uns vorbeizwängte.

»Da bist du ja«, sagte Matthew und strich sich die blonden Strähnen aus der Stirn.

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, ich dreh durch. Mutters Freund hat uns so lange warten lassen. Ich glaube, er war auch nicht gerade begeistert, als er hörte, dass er mich hier absetzen sollte.«

»Wollen wir?« Ich nickte und folgte Matthew zum Klavier. Im Vorbeigehen nahm er die Nadel von der Schallplatte und fragte in die Runde, wo seine Schwester Peggy sei.

Sie war sechzehn geworden. Zu diesem Anlass hatten Matthew und ich tagelang unser Geburtstagsständchen einstudiert. Den Song Birthday vom Weißen Album.

Peggy unterhielt sich im Durchgang zur Küche tuschelnd und kichernd mit ihrer deutschen Freundin Mona, die einen Rock trug, der kaum breiter als ihr Gürtel war. Die neugierige Mona, die aus einem kleinen Kaff in der Nähe stammte, und von der Matthew behauptete, sie sei scharf auf mich. Mona interessierte mich nicht die Bohne. Julia hatte mir geschrieben, dass sie mit ihrer Mutter womöglich bald für immer aus Rom zurückkommen würde. Das behielt ich für mich.

»Hey, träum nicht!« Matthew stieß mich am Arm, dann setzte er sich ans Klavier, warf sich in einer eindrucksvollen Geste die Haare zurück, wie es seiner Meinung nach die großen Virtuosen vor einem Konzert stets taten, legte seine schmalen langen Finger aneinander, was aussah, als bete er, nickte mir wie beiläufig zu und hämmerte in die Tasten.

Ich verpatzte zwar meinen Einsatz, doch das fiel offensichtlich niemandem weiter auf. You say it’s your birthday, it’s my birthday too, yeah. Ich schaffte es, meine Stimme so tief und rau wie die von John Lennon klingen zu lassen.

Peggy und ihre Freunde johlten vor Begeisterung und riefen »Zugabe«. Matthew hatte es prophezeit. Also nahm ich meine Gitarre und spielte und sang zum ersten Mal alleine vor Publikum. Imagine.

Den Applaus konnte ich gar nicht richtig genießen, denn Peggy nahm mir mit ihren stürmischen Umarmungen fast die Luft zum Atmen. Bisher hatte sie mir immer das Gefühl vermittelt, ich sei nur der Kumpel ihres kleinen Bruders und mit vierzehn viel zu jung, um für voll genommen zu werden.

Ich war irritiert, wegen der Wärme, die Peggy ausstrahlte, von meinem Wunsch, sie möge mich nicht so schnell loslassen, damit ich ihre Sommersprossen zählen konnte. Doch dann drängte sich Mona zwischen uns und küsste mich auf den Mund.

Es war mir unangenehm. Weil ich nicht wollte, dass jemand sah, wie ich rot wurde, verschwand ich schnell auf der Gästetoilette.

Ewig machte ich dort mit meinen Haaren herum, bis ich wieder zufrieden damit war, wie sie über die Ohren und über den Kragen fielen.

Wieso war ich denn so nervös? Mona hatte mich geküsst und nicht ich sie. Meine Lippen haben den Druck nicht erwidert. Mein erster Kuss blieb weiter für Julia reserviert.

Ich mischte mich wieder unter Peggys Freunde.

»Kennst du Raymond McLane?«, brüllte Matthew mir wegen der lauten Musik ins Ohr. Er deutete zu einem Jungen, der mit geschlossenen Augen und immerzu nickend auf einer Couch saß, während er zu Whole lotta Love mit den Fingern gegen eine Tischplatte trommelte. Dann hob er die Arme, ließ die Finger nach vorne schnellen, legte sein Gesicht in Falten und biss sich auf die Unterlippe.

Ich schüttelte den Kopf und folgte Matthew.

»Ray?« Matthew packte ihn an der Schulter. »Du wolltest Patrick fragen, ob es okay ginge, wenn du in unserer Band trommelst?«

Ray riss die Augen auf, ohne die Finger ruhig zu halten, und musterte mich. »Hi.« Dann grinste er und rief: »Und? Geht es okay?«

»Ja klar«, sagte ich völlig überrumpelt.

Ray kniff die Augen wieder zusammen, verfiel erneut in den Rhythmus der Musik, schien uns schon vergessen zu haben.

»Eine andere Frisur muss er sich schon zulegen«, sagte ich zu Matthew. »Nicht einmal mein Opa scheitelt seine Haare mit Frisiercreme. Und dann der ausrasierte Nacken.«

»Erwähn das ihm gegenüber bloß nicht. Da triffst du seinen wunden Punkt.« Matthew sah mich ernst an. »Er kann sich da bei seinem Dad nicht durchsetzen. Der schneidet drüben auf dem Stützpunkt auch den GIs die Haare mit der Maschine.«

Gegen Mitternacht tauchten Matthews und Peggys Eltern auf und beendeten die Party. Ich hatte viel und ausgelassen getanzt, dabei nicht auf die Zeit geachtet und den letzten Bus verpasst, mit dem ich vom Village zur Allee hätte fahren können. Der halbstündige Fußmarsch, der mir bevorstand, machte mir nichts aus. Ich war froh, dass Mona bei Peggy übernachtete. Ich verabschiedete mich. Bis ich auf die Straße hinaustrat, waren Peggys amerikanische Freunde bereits in den umliegenden Häusern verschwunden. Ich konnte auch Ray nirgends entdecken. Ich hätte ihn gerne noch nach seinen Lieblingsscheiben gefragt.

Ich stellte den Kragen meiner Cordjacke auf und wünschte, ich hätte auf meine Mutter gehört und mich wärmer angezogen. Sie übernachtete wieder bei Robert Staudte. Seitdem seine Frau gestorben war, tat sie das häufig von Samstag auf Sonntag.

Als ich zur weißgetünchten Kirche kam, bei der ich rechts durch die Geschäftsstraße weitermusste, hörte ich hinter mir eine Katze schreien. Sie musste irgendwo bei den mächtigen, kahlen Buchen herumstreunen. Hinter den Häusern, entlang der Straße, in der Matthew wohnte, sah ich das Flusswasser träge dahingleiten.

Wie schön wäre es, wenn Oa noch erlebt hätte, dass es überhaupt keinen Grund gab, den Amerikanern gegenüber immer so reserviert zu sein. Oa würde Matthew Cunningham bestimmt sympathisch finden. Seit der Realschule teilten wir die Schulbank. Seine Mutter war Deutsche und arbeitete für die Amerikaner als Dolmetscherin. So hatten sich seine Eltern kennengelernt. Sein Vater, ein Sergeant, war bei der Militärpolizei. Und wie Matthew mir erzählte, hatte der Vater irgendwann der Mutter nachgegeben, die unbedingt wollte, dass Matthew und Peggy einen deutschen Schulabschluss machten. Matthew glaubte, seine Eltern führten eine gute Ehe, auch wenn seine Mutter alles dafür tat, um eines Tages nur ja nicht in den Staaten leben zu müssen.

»Ich mag Musik und Erdkunde. Sport ist absolut nicht mein Ding«, hatte ich gesagt, als Herr Renz, unser Klassenlehrer an der Realschule, jeden einzelnen darum bat sich vorzustellen.

»Dem schließe ich mich an«, hatte Matthew gesagt, mich dabei angegrinst und sich die Haare aus der Stirn gewischt, die ihm aber sofort wieder über die Augenbrauen gerutscht waren.

Wie ich war Matthew von Musik geradezu besessen, mit dem Unterschied, dass er mit Symphonien und Klavierkonzerten aufgewachsen war und von Mozart schwärmte. Im Plattenschrank seiner Mutter standen davon die unterschiedlichsten Aufnahmen. Seit seinem siebten Lebensjahr nahm Matthew Klavierunterricht bei einem pensionierten Musikprofessor.

Die Beatles waren Matthew zwar nicht ganz unbekannt, ihre Songs lernte er jedoch erst durch mich kennen. Nach der Schule hörten wir in meinem Zimmer ihre Platten. Manchmal holte ich Matthew mit dem Fahrrad vom Klavierunterricht ab, und wir fuhren, er hinten auf dem Gepäckträger, zum Plattenladen. In der Tonkabine lauschten wir den neuesten Scheiben.

Matthew wurde richtig süchtig nach moderner Musik. Mir blieb allerdings ein Rätsel, wie er auf Daliah Lavi kam, neuerdings fuhr er voll auf ihre dunkle, rauchige Stimme ab. Er hatte sogar eine LP von ihr bei mir deponiert. »Meine Mutter hätte dafür absolut kein Verständnis«, sagte er, schon froh darüber, dass sie mich akzeptierte, trotz meines progressiven Musikgeschmacks, wie sie stets anmerkte.

Wie würde sie reagieren, wenn sie erfuhr, dass Matthew und ich eine Band gründen wollten?

Sich schnell nähernde Motorgeräusche verscheuchten meine Gedanken. Scheinwerfer, ein Wagen tauchten in der Kurve auf. Ich kniff geblendet die Augen zusammen, blieb stehen, und beim Geräusch, das die abbremsenden Reifen auf dem Asphalt machten, umklammerte ich meine Gitarre fester.

»Wie war die Party?«, fragte der Langhaarige, als er das Fenster am Chevy heruntergekurbelt hatte.

Nachdem ich Kevin in unserem Garten überrascht hatte, war ich ihm des Öfteren in der Stadt begegnet. Er hatte mich nie bemerkt, und ich scheute mich, ihn anzusprechen. Das lag an dem Typen, der immer bei ihm war. Der Mann war um einiges älter gewesen, und durch seine harten Gesichtszüge und die hässliche Narbe an seiner Schläfe erschien er mir suspekt.

»Woher weißt du von einer Party?«, fragte ich.

»Ich weiß so ziemlich alles, was im Village abgeht.« Kevin grinste. »Dazu gehört auch, dass du mit Matthew Cunningham die Schulbank drückst.«

Ich nickte und kam mir dabei blöd vor.

»Peggy hätte mich ja gerne eingeladen, aber ihr alter Herr hat etwas gegen mich.«

Weil mir allmählich kalt wurde, schob ich die Schultern hoch.

Er deutete mit dem Kinn die Straße entlang. »Ich wohne gleich da vorne und spendiere dir noch einen Drink.« Er sah mich lauernd an. »Ich bringe dich später nach Hause.«

Ich war unsicher und zudem hundemüde.

»Dabei erzählst du mir, was es damit auf sich hat.« Er deutete auf meine Gitarre. »Bist du gut genug für eine Band? Ich hätte schon lange Bock darauf, eine zu gründen.«

Sofort war ich hellwach und riss die Augen auf.

»Ich habe auch gute Platten.«

Es war zu viel, was mich neugierig machte. Ich ging um den Chevy herum und stieg ein. Es lohnte sich kaum, denn er wohnte in dem einzelnen Haus am Fichtenwäldchen, schräg gegenüber der Kirche.

Offensichtlich waren die Häuser im Village nach dem gleichen Grundriss gebaut. Ein geräumiges Wohnzimmer mit einem breiten Durchgang zur Küche, dazwischen ein schmaler Flur zu einer Gästetoilette. Und wie bei den Cunninghams dürfte es oben drei Räume geben, zwei davon Schlafzimmer und ein großes Bad.

Wie damals in unserem Garten trug Kevin wieder diese spitzen Cowboystiefel und den fast bodenlangen Mantel. Ich fragte nach seinen Eltern. Dabei starrte ich auf den breiten Silberring an seiner rechten Hand, während er Whisky und Cola in zwei Gläser verteilte.

»Mein Dad ist zu Besuch bei einem Freund in München.«

»Und deine Mutter?«

Kevin stellte die Whiskyflasche hart auf den Tisch und sagte ruppig: »Ich will jetzt nicht über sie reden, okay?«

»Schon gut, Mann.« Ich bereute, mitgekommen zu sein.

»Sorry«, murmelte er, »vielleicht erzähle ich es dir ein anderes Mal.«

Ich ging zum Plattenspieler und setzte die Nadel auf die Scheibe, die auflag. Donner grollte aus den Boxen. Regen prasselte. Tiefe Basstöne durchzogen den Soundteppich eines Keyboards. Eine raue Stimme sprach mehr als sie sang. Riders on the Storm.

Ich ließ mich in die weiche Couch fallen, Kevin reichte mir ein Glas, stieß mit mir an und leerte seines in einem Zug. Dann zog er eine Mundharmonika aus seiner Manteltasche und unterlegte den sphärisch klingenden Beatsound der Doors mit leisen, eigenwilligen Tönen.

»Und was hast du so drauf?«, wollte Kevin wissen und stellte den Plattenspieler aus. Ich konnte ihn mit Yesterday beeindrucken. Dann nahm er meine Gitarre, weil seine bei einem Kumpel in München sei, wie er sagte, spielte und sang A Horse with no Name. Ich musste zugeben, dass er ziemlich gut war. Kevin besaß wirklich jede Menge Platten. Von den meisten Bands hatte ich nie zuvor gehört. Fleetwood Mac, Lynyrd Skynyrd, Ten Years After.

Bei einem weiteren Whiskycola erzählte Kevin mir, er besuche eine Highschool unweit der MacGraw-Kaserne in München, darüber musste ich eingeschlafen sein. Als er mich weckte, war ich mit einem Satz auf den Beinen. Er hatte das Licht gelöscht und ich geriet in Panik, als ich die Leuchtziffern auf der Küchenuhr sah. Es war vier durch. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es dämmerte.

»Keep cool, Fellow«, sagte Kevin und zeigte mir einen dicken Schlüsselbund. Der gehöre seinem Dad. »Er ist Superintendent. Ich weiß, wo er den aufbewahrt.«

»Was ist ein Superintendent?«

Kevin fasste sich in die struppigen Haare. »An Officer. Einer, der das Personal drüben in der Kaserne verwaltet. So ähnlich.«

»Aha«, sagte ich, obwohl ich mir absolut nichts darunter vorstellen konnte. Ich versuchte im Dunkeln meine Gitarre zu erkennen. »Ich muss jetzt los.«

»Das könntest du bereuen«, sagte Kevin und wühlte in einer Schublade. »Denn wenn ich dir von dem erzähle, was ich dir gerne zeigen würde, dann wirst du es mir nicht glauben und sagen, ich lüge.«

»Was erzählen? Was hast du denn vor?«

»Vertrau mir einfach.« Kevin wechselte seinen Mantel gegen einen dickgestrickten Pullover. Dann packte er mich an der Schulter und schob mich durch eine Hintertür in der Küche aus dem Haus.

Vorne fuhr ein Wagen langsam die Straße entlang. Kevin drückte mich hinter die Mülltonne. »Die Nacht­patrouille«, raunte er mir zu. Motorgeräusche entfernten sich.

Kevin deutete mit einer Taschenlampe zu den Fichten, die hier nah am Haus standen. Im nächsten Moment schlüpfte er zwischen den Zweigen hindurch.

Mir wurde mulmig. Ich wusste, es wäre vernünftiger nach Hause zu gehen, doch die Neugierde überwog, und ich schob mich dort zwischen die Bäume, wo Kevin verschwunden war. Mit den Ellbogen versuchte ich die piksenden Zweige abzuwehren. So gelangte ich auf einen bemoosten Waldweg, wo Kevin auf mich wartete. Mit der angeknipsten Taschenlampe liefen wir los und kamen nach wenigen Metern zu einer Lichtung, auf der ein mit Schindeln gedecktes Holzhaus stand. Die Eingangstür auf der Veranda hing aus der oberen Angel, die Fenster waren eingeworfen.

Kevin sagte, als er klein war, habe er mit seinen Eltern hier gewohnt. Weil das Haus so abseits vom Village liege, und im Winter der Weg bei Eis und Schnee meist unbefahrbar sei, wären sie umgezogen.

Ich zeigte auf den Stacheldrahtzaun, der zwischen den Bäumen verlief.

Kevin nickte und hielt den Strahl der Lampe auf seine Armbanduhr. »Wir müssen uns beeilen.« Mit einem Satz nahm er die beiden Verandastufen, zwängte sich an der kaputten Tür vorbei ins Innere des Hauses. Mir blieb nur, ihm zu folgen.

Ein eigenartiger Geruch hing in der Luft. Fäulnis, Moder, Verwesung.

Der Lichtstrahl huschte über den mit Gerümpel übersäten Dielenboden. Mit dem Fuß schob Kevin einen alten, zerfransten und durchlöcherten Teppich beiseite. Eine Falltür mit einem in das Holz eingelassenen Eisenring kam zum Vorschein. Kevin drückte mir die Lampe in die Hand und zerrte mit beiden Händen an dem Ring, wobei er eine Menge Kraft aufwenden musste. Schließlich ließ sich die Tür anheben und fiel laut krachend nach hinten.

Ich starrte in die Öffnung, die mich an einen gähnenden Schlund erinnerte.

Kevin nahm die Lampe wieder. Eine kurze Holzleiter führte nach unten. »Let‹s go«, sagte er. Ein Schauer schüttelte mich, während ich hinunterstieg und wartete, bis Kevin bei mir war. Er leuchtete ein Holzregal ab, dann legte er die Lampe auf den staubigen Steinboden. »Wir müssen es wegschieben.« Es war kaum höher als wir beide und dick mit Spinnweben überzogen. Mit dem Ellbogen stieß Kevin dagegen und zerriss den grauen Schleier. Widerwillig fasste ich mit an und gemeinsam zerrten wir am Regal. Etwas fiel zu Boden und zersplitterte.

Im Lichtschein entdeckte ich nun einen vom Regal freigegebenen Spalt in der Wand. Wie eine riesige, aufgeplatzte Wunde verlief sie zum unebenen Steinboden hin.

»Ich habe es irgendwann einmal beim Spielen entdeckt«, sagte Kevin, hob ein Bein, steckte es durch die v-förmige Öffnung und verschwand. Für einen kurzen Augenblick stand ich im Dunkeln. »Follow me«, hörte ich Kevin sagen, dann zwängte ich mich durch den Spalt auf die andere Seite.

Kevin ließ den Lichtkegel rotieren. Wir befanden uns in einem niedrigen, feuchten Tunnel. Der Boden war glitschig. Irgendwo drang Wasser ein, ich hörte es tröpfeln. Kevin deutete nach rechts. Mit jedem Schritt weitete sich der Tunnel, bis uns eine schmale Eisentür den Weg versperrte. Kevin zog den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und probierte einige Schlüssel durch, bis einer passte. Im Licht der Taschenlampe erschien dahinter ein Gang. Meine Augen gewöhnten sich an das staubige Grau der Wände und die blinden Neonröhren, die über uns verliefen.

Kevin sagte etwas von einem Munitionsdepot, das hier einmal gewesen sei, und für das sein Dad die Verantwortung gehabt habe. Wegen einer Explosion war vor Jahren alles in einen anderen, weiter vom Village entfernten Bereich der Kaserne ausgelagert worden.

Wir kamen zu einem Tor. Wieder probierte Kevin einige Schlüssel. Dann traten wir hinaus in die Morgendämmerung. Es regnete. Eine holprige, schlecht geteerte, von Fichten gesäumte Straße führte hügelan. Zwischen den Bäumen sah ich ein zweistöckiges, grün getünchtes Gebäude mit vergitterten Fenstern.

»Darin befindet sich die Verwaltung der Einheit, für die mein Dad tätig ist«, sagte Kevin. »Als kleiner Junge habe ich ihn dort häufig besucht.«

Im Schutz der Bäume liefen wir das Gebäude entlang und kamen an seiner schmalen Seite zu einer Steintreppe, die in ein Tiefgeschoss hinunterführte. Kevin legte den Finger an die Lippen. Ich nickte und huschte hinter ihm die Treppe hinunter. Schon der erste Schlüssel passte, die Tür ging auf. Wir schlichen einen düsteren Gang entlang. Ob es hier irgendwo ein Klo gab? Irgendwann würde ich pinkeln müssen. Ich traute mich kaum zu atmen. Dann schob Kevin mich durch eine der Türen, die die kahlen Ziegelsteinwände zu beiden Seiten unterbrachen. Wir standen in einem Vorraum, ähnlich dem der Schwimmhalle an unserer Schule, von dem aus es zu den Duschen ging. Wasser plätscherte. Dunst quoll uns entgegen. Ich wunderte mich über dieses angestrengte und gleichbleibende Stöhnen.

Kevin packte mich am Arm und drängte mich gegen die beschlagenen Fliesen. Dann spähte er um die Ecke und deutete mit dem Kinn in den Dunst.

Ich trat einen Schritt vor, nur ganz allmählich nahm ich den Rumpf eines massigen, nackten und dunklen Körpers wahr, der immerzu nach vorne stieß. Pobacken, die sich dabei zusammenzogen, hellhäutige, schmale Beine mit spitzen Knien, die sich an die sehnigen dunklen Schenkel pressten. Finger mit rotlackierten Nägeln glitten von den breiten Schultern des Schwarzen herab, die Wirbelsäule entlang, in Hüfthöhe verschwanden die schmalen Hände. Die Pobacken verkrampften sich, der Oberkörper des Schwarzen bäumte sich auf, das Stöhnen endete abrupt.

Kevin tippte mir grinsend auf die Schulter, gab mir ein Zeichen, und wir zogen uns zurück. In einer Nische neben einer Treppe flüsterte er, ich solle hier warten. Er verschwand nach oben. Ich wischte mir über das feuchte Gesicht. Meine Haare klebten an der Stirn, an den Schläfen, im Nacken. Am Rücken spürte ich den Schweiß unter Hemd und Jacke hinunterlaufen. Ich atmete schwer und hörte die beiden unter der Dusche reden. Ich konnte mich anstrengen so viel ich wollte, ich verstand keines ihrer Worte. Beim Lesen der Bravo-Aufklärungsserien hatte ich mir das alles immer ganz anders vorgestellt. Nicht so abstoßend, nicht so nüchtern.

Ich spähte die Treppe hinauf, ging ein paar Stufen, dann tauchte Kevin endlich auf und winkte mich nach oben. Was er mit einem Arm gegen die Brust drückte, konnte ich nicht erkennen. Wir kamen an einem Raum vorbei, dessen Tür offenstand. Kevin flüsterte, dass sei das Dienstzimmer des Schwarzen. Ich nickte und raunte Kevin zu, dass ich mal müsse. Ich solle es mir verkneifen, sagte er, dabei steckte er einen Schlüssel in das Schloss der Ausgangstür und drehte ihn fast geräuschlos um. Hinter Kevin trat ich hinaus in den Regen. Dabei bückte ich mich und hob das Stück Stoff auf, das er hatte fallen lassen. Erst als der Stoff im Regen schrumpelte, begriff ich, es war ein türkisfarbener Seidenschal, den ich da in Händen hielt. Ich beobachtete, wie Kevin ein spitzenbesetztes rotes Höschen, Strapse, einen kurzen, schwarzen Minirock, so etwas wie ein Oberteil und eine Jacke mit Tigermuster auf dem Asphalt vor uns ausbreitete. Die langen, schwarzen Lackstiefel schleuderte er zum Fichtenwäldchen hin. Dann verstreute er den Inhalt eines glitzernden Handtäschchens und trampelte auf einem Lippenstift, der Puderdose, einer Haarbürste, Handschellen und zusammengefalteten Papieren herum. Unter seinen Stiefeln zerplatzten ein Spiegel und das Parfümfläschchen.

Völlig durcheinander, dennoch fasziniert, stand ich mit hängenden Schultern im strömenden Regen einfach nur da.

Als hinter uns im Gebäude ein Telefon läutete, hielt Kevin inne, dann fauchte er: »Run!« Ich ließ den Schal fallen und raste los, als wäre der Leibhaftige hinter mir her.

Die Bäume kamen näher, neben mir hörte ich ein gehetztes »This way«, und ich erkannte die holprige und abfallende Straße wieder. Wir rannten auf das Tor des alten Munitionsdepots zu. Das Schloss rastete ein. Der Schlüsselbund klirrte. Keuchend hasteten wir nebeneinander, dem zitternden Lichtkegel folgend, durch den schier endlos langen Gang, zu der schmäleren Tür. Scheppernd fiel sie zu. Ich wankte über lehmigen Boden.

Nur nicht gegen die sich verengenden Tunnelwände laufen! Ein Hustenreiz, Seitenstechen. Der Spalt in der Wand. Ich zwängte mich hindurch. Unter meinen Sohlen knirschte es. »Das Regal vorschieben«, rief Kevin noch im Spalt.

Spinnweben zwischen den Fingern. Auf der kurzen Leiter rutschte ich ab und schrammte mir das Schienbein. Ich spürte Kevins Hände in meinem Rücken. Sie schoben mich nach oben in den dämmrigen Raum. Schon polterte die Tür der Bodenluke. Staub kratzte in meiner Kehle. Ich taumelte zum Ausgang und knallte mit der Stirn gegen die schiefhängende Tür. Ich sprang von der Veranda, hetzte den bemoosten Waldweg entlang und rieb mir immer wieder die gestoßene Stelle am Kopf. Wieder wusch Regen mir das Gesicht. Ich wurde von hinten gepackt, mir entfuhr ein gurgelnder Ton, starrte in Kevins verdrecktes Gesicht. Er deutete auf die Bäume rechts von uns. Ich folgte ihm. Bei der Mülltonne hinter Kevins Haus stolperten wir aus dem Wald.

»Ich piss mir gleich in die Hose«, stammelte ich.

Während ich mir im Haus Erleichterung verschaffte, ließ Kevin sich vor der offenstehenden Toilettentür auf den Boden sinken, lachte, schnappte nach Luft und heulte gleichzeitig wie ein Wolf.

Ich drückte die Spülung, stieg über Kevin hinweg, taumelte zur Couch, wo ich mich fallen ließ und zitterte am ganzen Körper.

Draußen fuhr ein Wagen vorbei. Ob die Patrouille mir glauben würde, wenn ich sagte, ich hätte die Nacht hier auf der Couch verbracht?

»Ich fahr dich heim. Wasch dir erst das Gesicht.«

Ich erschrak, als ich mich im Badezimmerspiegel sah.

Kevin wartete draußen im Chevy auf mich. Er drückte die Zigarette im Ascher aus und startete den Motor. Die Scheibenwischer ruckelten quietschend hin und her.

Nach der Kirche sah ich zur Straße hinunter, wo Matthew wohnte. Sie lag so verlassen da wie vergangene Nacht. Die sonst so belebte Geschäftsstraße, durch die wir fuhren, war menschenleer. Das Schild der Gasstation quietschte im Wind. Hinter den großen Glasscheiben vom Drugstore glaubte ich ein Gesicht zu erkennen. Die Lücken zwischen den Gebäuden gewährten ab und zu einen Blick auf das grau schimmernde Flusswasser.

Dann fragte ich Kevin, was mich beschäftigte, seit wir losgefahren waren. »Was sollte das mit den Klamotten der Frau? Was hat sie dir denn getan?«

»She’s a bitch. Nur eine Nutte. Und damit konnte ich es dem Schwarzen heimzahlen, denn der schuldet mir noch Kohle. Dadurch bekomme ich sie zwar auch nicht, aber den Ärger, den er jetzt mit der Schwalbe hat, war mir die Sache wert.«

»Wird dich der Schwarze nicht verdächtigen?«

»Patrick, wie denn? Er kann mir nichts beweisen. Von dem Riss in der Wand, der damals durch die Explosion entstanden sein muss, hat er nicht die geringste Ahnung.«

Zum ersten Mal nannte er mich beim Namen. Ich war mir sicher, den ihm nie gesagt zu haben. Mich wunderte aber längst nichts mehr.

Als nach dem Wäldchen die Abzweigung zur Kaserne kam, sah ich hinüber zu der Stelle, wo der wachhabende Soldat am Tor stand. Kevin hob die Hand, der GI grüßte mit zwei Fingern am Helm zurück.

»Wie kommt die Nutte eigentlich an dem vorbei?«, fragte ich heiser und rieb mein Schienbein, das nun schmerzte. Wo ich es mir an der Leiter geschrammt hatte, war meine Jeans zerrissen.

»Wenn es darauf ankommt, halten wir alle zusammen. Bedingungslos. Bei uns gelten eigene Gesetze. Wenn es wirklich darauf ankommt, bestimmen wir.«

»Wenn es worauf ankommt?«

Wir fuhren über die Kreuzung.

Kevin schwieg. Dann schlug er mit beiden Händen auf das Lenkrad ein und lachte hämisch. Dabei warf er den Kopf in den Nacken. »Na, habe ich zu viel versprochen?«

»Ja, cool«, war alles, was ich herausbekam. Mund und Kehle waren wie ausgetrocknet. Ich fror erbärmlich und freute mich auf mein Bett.

Aus der Siedlung kam eine ältere Frau über den Buckelberg. Bestimmt wollte sie zur Bushaltestelle, von dort weiter in die Frühmesse. Nach der Brücke gaben die Bäume den Blick auf unser Haus und Mutters Ente frei.

Auch das noch.

Ich ließ Kevin an der Allee anhalten und stieg aus.

»Kein Wort, zu niemandem.« Kevins Finger schnellte vor.

»Ich bin nicht blöd.«

»Wegen der Band sprechen wir noch. See ya!«

Meine Gitarre! Sie lag bei Kevin im Wohnzimmer. Ich rief ihm hinterher, doch er jagte den Chevy schon wieder über die Landstraße.

Ich eilte auf unser Haus zu, sperrte so leise wie möglich auf und schlich mich hinein. Ob ich es schaffen würde, ohne Treppenknarren nach oben zu kommen? Noch vor der Küchentür zuckte ich vom Knall des Telefonbuchs, das meine Mutter wütend zu Boden geworfen hatte, zusammen. So aufgebracht hatte ich sie noch nie erlebt. Sie wollte gerade die Nummer von Matthews Eltern heraussuchen.

»Ich hoffe, du hast eine sehr gute Erklärung.«

»Nach der Party bin ich noch mit zu Kevin, um mir neue Platten anzuhören«, legte ich ohne mit der Wimper zu zucken los. »Darüber sind wir eingeschlafen. Sein Dad ist bei der Militärpolizei. Als er vorhin vom Nachtdienst kam, hat er mich heimgefahren.«

»Wir bekommen Ärger mit dem Jugendamt, wenn du es übertreibst. Du bist nicht einmal fünfzehn.«

Sie machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Dann sah ich, dass sie weinte.

»Mama?« Ich fühlte mich schlecht, weil ich sie angelogen hatte. »Ist was mit Robert?«

»Wir haben gestritten«, murmelte sie. »Ich war ziemlich unfair zu ihm.«

»Es wird schon wieder.« Was anderes fiel mir nicht ein.

»So einfach ist das nicht.« Sie wuschelte mir das Haar.

»Ich geh duschen.«

Später, beim Einschlafen, hörte ich sie unten telefonieren. Robert würde am Nachmittag kommen, um mit uns zu kochen, so viel konnte ich Mutters Worten entnehmen. Sie sollten sich bloß wieder versöhnen. Das fehlte noch, dass Mutter jeden Abend zu Hause sein würde, jetzt, wo ich frei und unabhängig sein musste, wenn es mit der Band losging.

Ich, Sergeant Pepper

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