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Als sei nie etwas anderes gewesen

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Herbst 1969

Als die Ferien zu Ende gingen, fiel mir ein, dass meine Mutter mit meinem Zeugnis zufrieden gewesen sein musste, denn sie hatte meine Noten mit keinem Wort erwähnt.

Am ersten Schultag wartete ich mit dem Rad, wie immer vorne an der Allee, auf Willi. Endlich tauchte er oben am Hügel auf und kam wie ein Pfeil angeschossen. Wir fuhren die Landstraße entlang, zwischen dem Hügel mit dem Maisfeld und dem bewaldeten Schulberg. Uns beiden schmeckte gar nicht, dass der Hofer von nun an unser Klassenleiter war. Dass er Julia und mir aufgelauert und unsere Bravo mit dem Lennon-Poster zerfetzt hatte, wollte ich ihm nicht verzeihen. Auf dem Pausenhof hatte ich schon des Öfteren gehört, dass er sich sehr für Geschichte interessierte. Die deutsche Geschichte der jüngeren Vergangenheit. Offenbar beschäftigte er sich auch in seiner Freizeit damit.

Mir war schon das endlose Gelaber der Politiker im Fernsehen ein Graus, und ich war immer froh, wenn ich zu einer Show umschalten durfte.

Zweimal die Woche stand Geschichte auf dem Stundenplan. Gleich in der ersten Stunde sprach der Hofer davon, dass wir eine Klassenfahrt machen würden. Wohin genau, entging mir. Ich war mit meinen Gedanken bei Julia. Wie es ihr wohl in Rom erging, in der Stadt, von der ich nichts wusste?

»Patrick Neumann, würdest du uns verraten, wovon du gerade träumst?« Mit durchdringenden Blicken entriss mich der Hofer meiner Freudlosigkeit.

»Von Rom«, antwortete ich ehrlich.

Die meisten in der Klasse lachten. Auch Willi. »Sie kommt bestimmt in den Ferien ihre Großmutter besuchen«, raunte er mir zu.

Ich wunderte mich, wie gut er mich zu kennen schien und hoffte, er würde Recht behalten.

Mit hochrotem Kopf schlug auch ich das Geschichtsbuch mit der Seite auf, die Hofer nannte. Unentwegt starrte ich die Schwarzweißfotografien mit den in Eisenbahnwaggons zusammengepferchten Frauen und Kinder an, die bleichen Gesichter und kahlgeschorenen Köpfe hinter den Zäunen, die Klappen der Öfen.

Wie Schläge trafen mich die Worte des Lehrers.

Ich schob die Hände unter meine Oberschenkel, klemmte sie auf der Stuhlfläche ein, und versuchte krampfhaft mir irgendwelche Melodien ins Gedächtnis zu rufen, die die schonungslosen Worte übertönen sollten, doch ich konnte mich an keinen Rhythmus erinnern, an nicht einen von den Beatles.

Wie auf Watte lief ich mit den anderen am Ende der Stunde zu den beiden Bussen. Erst beim Einsteigen kapierte ich, dass die Parallelklasse mit den Mädchen dasselbe Ziel hatte.

Ich war froh, dass Julia das erspart blieb. Ich saß in einem der hinteren Sitze am Fenster und starrte hinaus in den diesigen Vormittag, auf die abgeernteten, vom Regen lehmig gewordenen Felder. Mein Kopf war leer, ich ahnte das Schlimmste. Ich hätte Willi gerne etwas gefragt, doch der erzählte in der Reihe vor mir einem Jungen etwas von einer Sturmflut auf Sylt. Ich ärgerte mich über das ungerührte Lachen, das von irgendwo kam. Nervös rutschte ich auf meinem Sitz herum, als das Ortsschild von Dachau vorbeizog. Der Bus hielt, ich stieg als letzter aus und trottete hinter den anderen her. Niemand sagte jetzt etwas. Nur unsere Schritte auf dem Schotter waren zu hören. Mein Magen rumorte, je näher das Eingangstor zum Lager kam. Die grauen Baracken. Die Kaminschlote dahinter.

Ich erinnerte mich an jedes Wort, das der Hofer sagte, und ich konnte das Rascheln von Kleidern hören, das Klappern der Scheren. Und ich glaubte, die bis aufs Skelett abgemagerten Männer in den gestreiften Anzügen am Eingang des Gebäudes stehen zu sehen.

Ich bekam keine Luft mehr und fing an zu schwitzen. Unmöglich. Ich konnte da nicht hineingehen.

Willi sah mich an. Hatte er etwas gesagt? Ich musste mich übergeben. Dann hörte ich den Hofer: »Kannst du ihn zum Bus zurückbringen?« Ich wischte mir über den Mund und sagte: »Ich schaffe das schon.«

Der Fahrer blickte kurz von seiner Zeitung auf, als ich einstieg und zu meinem Sitz ging. Ich wusste nicht wie lange ich dagesessen und vor mich hingestarrt hatte, als der Kassenlehrer vor mir stand. »Geht’s wieder?«

Ich nickte. Und am liebsten hätte ich ihm entgegen geschleudert, dass er schuld war, ihn gefragt, wie er uns so etwas antun könne.

Ich hielt Ausschau nach Willi und entdeckte ihn unter denen, die den Hofer während der Rückfahrt mit Fragen bedrängten. Warum sich niemand gewehrt habe? Gelang jemandem die Flucht? Kamen alle in dem Lager um? Und der Lehrer sagte: »Einige Hundert wurden von den Amerikanern befreit.«

Als wir an der Schule ausstiegen, nieselte es.

»Dort ist meine Mutter«, sagte Willi und lief zu ihrem Wagen. Ich sah ihnen zu, wie sie das Fahrrad im Kofferraum verstauten, einstiegen und wegfuhren. Regnete es, wurde Willi immer von seiner Mutter abgeholt.

Dann stand ich alleine vor dem Schulgebäude. Ich zog die Kapuze meines Anoraks tief in die Stirn und ging zum Fahrradständer.

Trotz des Regens fuhr ich den holprigen Weg entlang zur Kapelle und blieb stehen. Ich sah zur Kaserne am Horizont hinüber. Ein Jeep passierte die Wache, bremste ab, und der Beifahrer stieg aus. Es war ein Schwarzer. Soviel konnte ich von hier oben erkennen. Er schien mit dem Wachmann zu diskutieren, dann stippte er mit den Fingern an seinen Helm und setzte sich wieder in den Jeep. Ich hörte den Motor bis zu mir herauf, als er beschleunigte, und der Jeep die Straße zur amerikanischen Siedlung entlang raste. Unter den lichter gewordenen Laubbäumen entdeckte ich eine belebte Geschäftsstraße.

Ich dachte an die gute Stimmung während des deutsch-amerikanischen Volksfests.

Wie machten die das? Wie konnten die alle zusammen so tun, als sei nie etwas anderes gewesen? Wenn die Amis wirklich so nett waren, wie der Lehrer sagte, wieso warfen sie dann in Vietnam Bomben?

Ich ertrug es nicht, mein Geschichtsbuch mit diesen deprimierenden Bildern in der Schulmappe mit mir herumzuschleppen, also schob ich es in Oas Kammer unter das Laken, das sich über den Lattenrost von ihrem Bett spannte. Im Unterricht ließ Willi mich in sein Buch schauen. Bis der Lehrer Hofer mir nicht mehr glaubte, dass ich meines immer vergessen würde. Er bezichtigte mich, es verloren zu haben, ich solle es endlich zugeben. Und er könne nicht fassen, wie ich mit fremdem Eigentum umginge. Als er mir mit einem blauen Brief drohte, blieb mir nichts anderes übrig, als das Buch unter dem Laken hervorzuholen, um es dem Lehrer am nächsten Tag zu präsentieren. Vorher trennte ich die Seiten mit den entsetzlichen Bildern heraus, die ich zurück in das Versteck schob, mit der Absicht, sie am Schuljahresende mit Tesa wieder einzukleben.

Meine Mutter überredete mich, sie zu Oas Grab zu begleiten. Bisher hatte sie nie darauf bestanden und freiwillig bin ich nicht hingegangen.

»Wenigstens heute«, sagte sie. »Wo alle der Toten gedenken.«

»Ich denke jeden Tag an Oa«, sagte ich patzig und stieg widerwillig in den Wagen.

Seitdem Oa nicht mehr bei uns war, war ich nicht mehr am Grab meines Vaters gewesen. Meine Mutter ging nicht in die Kirche, also blieb auch ich dem Gottesdienst fern.

Anna Winter. Was blieb mir anderes übrig, als immerzu Oas Namen auf dem Grabstein anzustarren. Es war nasskalt, und ich fror entsetzlich. Wie in Trance nahm ich wahr, dass Oma und Opa Neumann ans Grab gekommen waren. Ich wischte mir verstohlen über die Wangen und drehte ihnen dabei den Rücken zu. Ich spürte den festen Händedruck auf meiner Schulter, dann sagte Opa Neumann leise an meinem Ohr: »Versuch ein paar Mal hintereinander zu schlucken, das hilft.«

Ich probierte es und es funktionierte tatsächlich. Ich war froh, dass meine Mutter Opa Neumanns Einladung zu Kaffee und Kuchen annahm.

»Mozart«, sagte Opa, als wir bei ihnen im Wohnzimmer saßen, und er eine Platte auflegte.

Die Klaviermusik passte zu meinen Gefühlen. Warum spielten sie uns im Unterricht diese Musik nicht vor, anstatt immer darüber zu labern?

Meine Mutter brach das Schweigen, als sie sagte: »Ich werde den Namen meines vermissten Vaters auf dem Grabstein anbringen lassen.«

Oma nahm ihre Hand und Opa nickte.

Zuhause wollte ich gleich nach oben in mein Zimmer, doch meine Mutter hielt mich zurück. Ob Oa mir schon einmal unser Fotoalbum gezeigt habe? Nein. Ich setzte mich zu ihr. Da waren Aufnahmen von Verwandten, die längst verstorben waren, das Hochzeitsfoto ihrer Eltern, Oa und ihr Mann. Und alle hatten diesen rötlichen Schimmer. Auch meine Mutter als fünfjähriges Mädchen auf dem Schoß ihres Vaters. Es war das einzige Foto von ihr mit ihm.

»Wieso ist er vermisst«, fragte ich.

»Sie haben ihn nach Osten geschickt und als der Krieg aus war, kam er nicht zurück. Oa hat alles Mögliche unternommen, um in Erfahrung zu bringen, wo er sein könnte, was aus ihm geworden war. Leider ohne Erfolg.« Meine Mutter zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und schien dann mit ihren Gedanken sehr weit weg zu sein.

Die Lager in meinem Schulbuch, waren die nicht auch im Osten? In meinem Kopf ging es drunter und drüber.

Ich starrte das Foto von Oa an, das meine Mutter einmal draußen im Garten geknipst hatte. »Kann ich das haben?«

Am nächsten Tag brachte meine Mutter mir aus der Stadt einen silbernen Rahmen mit.

Von da an stand Oa auf meinem Schreibtisch und ich stellte mir vor, sie höre mit mir die Beatles. Es gab etwas Neues. Come together war der absolute Wahnsinn. Das Beste, was ich bisher von ihnen gehört hatte. Auch die Rückseite der Single war ein totaler Knaller. Something.

Wenn ich nur wüsste, ob Julia ebenso empfand?

Mit diesen Songs gelang es mir, mich allmählich wieder von der Wirklichkeit abzulenken, die mich umso heftiger in den Schlaf verfolgte und morgens lange vor dem Klingeln des Weckers völlig verstört aufwachen ließ. Irgendwie funktionierte ich, auch wenn mir alles nur als Fassade erschien, hinter der jederzeit wieder dieses undefinierbare Grauen hervorbrechen konnte.

Ich, Sergeant Pepper

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