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Was wird aus der Beat- und Popgeneration ohne die Fab Four?

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1970

Meine Demokassette mit den nachgesungenen Songs der Beatles steckte mit einem Schreiben in einem wattierten Kuvert im Briefkasten am Gartenzaun, eine Stunde, nachdem ich im Radio gehört hatte, dass sich die Beatles trennten.

»Lieber Patrick, für den ersten ‚Talentschuppen‘ erreichte uns eine große Anzahl professionell gemachter Demobänder. Zu viele, für die vier geplanten Sendungen. Lass dich durch unsere Absage nicht entmutigen. Du bist jung, hast Talent, eine angenehm warme Stimme, und du solltest erst einmal abwarten, in welchem Umfang sich dein Stimmbruch einstellen wird. Wir empfehlen dir Gesangsunterricht zu nehmen. Selbstverständlich steht es dir frei, es immer wieder einmal mit einer Bewerbung bei uns zu versuchen. Wir wünschen dir auf deinem musikalischen Weg weiterhin Ausdauer, Spontanität, Freude, Überzeugungskraft.«

Das auch noch.

Ich vergaß alles um mich herum, sogar etwas zu essen. Bis meine Mutter nach Hause kam, lag ich völlig benommen auf meinem Bett, so, als hätte mir jemand auf den Kopf geschlagen.

»Bist du krank?« Sie fühlte meine Stirn. »Sag mir nicht, dass du in Mathe schon wieder eine Fünf geschrieben hast?«

»Die Beatles haben sich getrennt.«

»Ich hab’s gehört.«

Mit einem Satz war ich auf den Beinen. »Macht dir das denn gar nichts aus?«

»Das spielt doch keine Rolle«, sagte sie. »Es kommt, wie es kommt.« Unter der Tür drehte sie sich noch einmal um und deutete auf meine Pepperjacke. »Zieh doch diesen Fetzen aus. Oder willst du warten, bis er dir vom Leib fällt.«

Mir traten Tränen in die Augen. Wieso tat sie so gefühllos? Sie mochte John Lennon doch auch? Wie gut, dass ich ihr gegenüber nichts von der Kassette und meiner Teilnahme an dem Wettbewerb erwähnt hatte. Hastig ließ ich das Kuvert mit seinem Inhalt ganz unten in meiner Schreibtischschublade verschwinden.

Ich fühlte mich noch ziemlich lange wie betäubt. Und als Let it be aus den Hitparaden verschwand, kapierte ich erst so richtig, dass es nie wieder einen neuen Hit von den Beatles geben würde. Erträglicher wurde das Ganze nur, wenn ich auf meinem Bett lag und mir vorstellte, Julia liege bei mir, und wir trösteten und streichelten uns gegenseitig. Insgeheim hoffte ich, dass doch Paul die Auflösung der Band zu verantworten hatte, wie es in der Bravo stand, und nicht John. Angeblich hatte der während eines Interviews in London gesagt, er habe Paul hinausgeworfen.

Sobald ich mittags nach Hause kam, schlüpfte ich in meine Rolle als Sergeant Pepper und übte verbissen auf meiner Gitarre. Es fiel mir nicht ganz leicht. Bald schmerzte mein Handgelenk und auf den Fingerkuppen bildete sich Hornhaut. Wenn meine Mutter mich hörte, sagte sie: »Warum nimmst du denn nicht Unterricht?«

Nur um stundenlang nervige Kinderlieder zu üben? Ich wollte weder zum Städtele hinaus noch interessierte mich der Kuckuck und der Esel und die Zeit, mich mit dem Bruder Jakob abzumühen, hatte ich auch nicht. Ich dachte an den Sommer, an die Ferien, die Julia bei ihrer Großmutter verbringen würde. Sie hatte mir eine Ansichtskarte von Rom geschrieben. Ich trug sie immer bei mir.

Bis zum Wiedersehen musste ich Blackbird und Something auf der Gitarre beherrschen.

Es stimmte mich traurig, dass Willi das Drama um die Beatles schnurzpiepegal war. Ihn interessierte nur der Übertritt auf ein Gymnasium in München. Er hockte den ganzen Nachmittag über den Büchern. Nie konnte ich ihn dazu bewegen, mich ins Café im Stadtpark zu begleiten, wo ich die Jukebox mit meinem Taschengeld fütterte.

Ich hatte es nicht nötig zu büffeln, denn von Mathe einmal abgesehen, waren meine Noten ganz passabel. Im Sommer würde ich ohnehin nur auf die Realschule wechseln. Der Hofer hatte zwar am letzten Elternabend zu meiner Mutter gesagt, ich würde mehr schaffen und wäre nur zu faul zum Lernen, doch schließlich konnte ich meine Mutter besänftigen, als ich sie daran erinnerte, dass sie selber nur die Hauptschule besucht habe, dass sie eigentlich stolz auf mich sein könne, wenn ich die Prüfungen für den Schulwechsel schaffen würde. Und das versprach ich ihr hoch und heilig.

Daraufhin wuschelte Mutter mir durch das Haar, zog sich um und fuhr mit ihrer Ente zu Robert Staudte.

Ich war froh, dass ich mich weiter in der mir vertrauten Umgebung würde bewegen können, denn allein schon der Gedanke, jeden Morgen vor sechs aufstehen und mit dem Zug nach München reinfahren zu müssen, war der absolute Alptraum.

Kurz vor den Prüfungen erfuhr ich auf dem Pausenhof, dass die Beatles in Amerika mit The long and winding Road eine letzte Nummer Eins in den Billboard-Charts geschafft hatten. Von da an hörte ich nur noch AFN.

Über dem Dach gegenüber lugte die Sonne hervor, stieg rasch höher und heizte durch die Fenster der Aula die Luft zusätzlich mit Spannung auf.

Nervös rutschte ich auf meinem Stuhl in der letzten Bank, in der Nähe des Fensters herum und wartete mit den anderen darauf, dass der Hofer endlich zur Sache kam. Er tuschelte mit der Kollegin. Frau Schön beaufsichtigte mit ihm die Prüflinge. Dann endlich ging er zur Tafel, klappte sie auf, und die zur Auswahl stehenden Aufsatzthemen kamen zum Vorschein.

Mich interessierte weder der Nutzen noch der Schaden der Raumfahrt, und mir war auch völlig schnuppe, worin sich meine Generation von der meiner Mutter unterschied. Wie elektrisiert starrte ich auf die dritte Aufgabe. Was wird aus der Beat- und Popgeneration ohne ihre Vorbilder, die Fab Four?

Ich dachte an Julia, an das, was sie einmal auf dem Schulhof zu mir gesagt hatte, und mein Kopf spielte Got to get you into my life. Ich musste mich beherrschen, um nicht vom Stuhl aufzuspringen, mit meiner Luftgitarre durch die Aula zu fegen und einen Auftritt hinzulegen, der die verblüfften Kameraden und Lehrer zu enthusiastischen Beifallsstürmen hinreißen würde. Und das ohne meine Pepperjacke.

»Na, wohl gar keine Idee?«

Ich zuckte zusammen und starrte mit hochroten Wangen den Lehrer Hofer an. Er deutete auf seine Armbanduhr und ging weiter. Von wegen. Der sollte sich noch wundern. Dem würde ich beweisen, dass mit dem Bruch zwischen John und Paul noch längst nicht alles vorbei war. Die Welt sollte bald wieder einen ˃Summer of Love˂ erleben. Und ich wollte meinen Teil dazu beitragen. Ich schob die Verschlusskappe von meinem Füller und beugte mich über die leeren Papierblätter.

An der lang sich windenden Straße, im Land Nirgendwo, singt die Amsel zum Tod der Nacht. Dazu sitzt, gefühlte acht Tage die Woche, auf seinem Hügel der Narr, der nur deine Hand halten möchte. Hier, jetzt, immerzu.

Jeden weiteren Tag in meinem Leben, bin ich dein Chauffeur und fahr dich hinaus in die Revolution, wo meine Gitarre leise wimmert. Komm mit auf die zauberhafte Rätselreise, zu der Sterne wie Diamanten am Himmel funkeln.

Ich muss dich in mein Leben bekommen, mehr brauche ich nicht zu tun, dann kommen wir klar. Liebe kannst du nicht kaufen, wie eine Eisenbahnkarte. Aber alles was du brauchst, ist Liebe, Baby. Damit bist du steinreich.

Ich bin keine Eintagsfliege. Aus mir wird viel mehr, lass mich nur nicht im Stich. Nach eines schweren Tages Nacht, wenn ich vierundsechzig bin und Taschenbuchschreiber, werde ich immer noch dein Sergeant Pepper sein, und das Loch flicken, durch das der Regen hereinrinnt!

Sag das Wort!

Ich wollte nicht glauben, wie wenig der Hofer von Musik und Poesie verstand. Er gab mir eine Fünf auf meine Arbeit und behauptete, sie käme lediglich einer Übersetzung aus dem Englischen gleich, auch das Thema sei verfehlt.

Dem stimmte Frau Schön nicht zu. Sie gab mir eine Zwei. Wenigstens sie schien begriffen zu haben, wie schwierig es war, in der kurzen Zeit bestimmte Textzeilen aus den Songs der Beatles zu finden und so zu ordnen, dass daraus eine stimmige Geschichte wurde.

Eine Liebesgeschichte.

»Du darfst deine Begabung nicht verkümmern lassen«, sagte sie. »Ich bin stolz auf dich und hoffe, noch vieles von dir zu lesen. Du kannst mich jederzeit besuchen. Meine Tür steht immer offen.« Sie reichte mir die Hand. »Also, kein Abschied für immer.«

Ich hatte den Übertritt auf die Realschule geschafft.

Vor dem Klassenzimmer wartete Willi auf mich. Er überredete mich, mit ins Stadtcafé zu kommen. Die Kameraden, die ab Herbst ein Gymnasium in München besuchten, waren dort mit den Mädchen aus der Parallelklasse verabredet, die auch die Schule wechselten. Ihren Gesprächen konnte ich entnehmen, dass sie öfter gemeinsam herumhingen. Die Mädchen freuten sich wie ich, Julia wiederzusehen.

Als wir alle am späten Nachmittag aufbrachen und uns verabschiedeten, steckte mein ganzes Geld im Bauch der Musikbox.

Bei unseren Fahrrädern boxte Willi mich freundschaftlich an den Arm. »Schade, dass du nicht auf die Insel mitkommst.«

Ich hatte ihm gesagt, dass meine Mutter es mir nicht erlaubte. Dabei hatte ich sie gar nicht gefragt. Ich wollte nur Julia nicht verpassen.

Wir jagten uns durch den Park, einmal überholte ich ihn, dann er mich, strampelten wild unter den Bäumen hervor, über den Zebrastreifen, bogen durch das offene Hauptportal des Friedhofs, wohlwissend, dass wir mächtigen Ärger riskierten, wenn uns der Verwalter erwischte. Wir nahmen gerne diese verbotene Abkürzung, die uns an der Ostseite der Anlage durch eine schmale Öffnung in der Steinmauer zur Siedlung führte, in der Willi wohnte.

Mit quietschenden Reifen bremsten wir vor seinem Elternhaus. »Ich melde mich, sobald ich Anfang September zurück bin«, rief er und fuhr sich über das erhitzte Gesicht.

»Okidoki«, rief ich, trat im Stehen in die Pedale, erklomm mit letzter Anstrengung den Siedlungsberg, dann ließ ich es laufen. Weder aus der Stadt näherte sich ein Wagen, noch aus der Richtung, wo die Kornfelder sich bis zur Air-Base erstreckten. Ich fegte über die Landstraße, hinein in die Allee. Silbern schimmerten in den schwachen Strahlen der untergehenden Sonne die Blätter der Weiden entlang des unbefestigten Weges.

Laute Beatmusik schwappte mir entgegen. Mm, American Woman gonna mess your mind. Von den Guess Who. Die waren gerade in die Charts eingestiegen.

Wie konnte ich vergessen, dass meine Mutter für heute Robert Staudte mit der kompletten Belegschaft seines Kaufhauses zu uns eingeladen hatte.

Am Gartenzaun entlang standen Autos. Hinter den Fensterscheiben des Wohnzimmers bemerkte ich einige Gäste in Gespräche vertieft. Auf dem Rasen vor der Eingangstür wurde getanzt. Niemand sah zu mir herüber, als ich hinter das Haus fuhr. Ich sperrte das Fahrrad in den Schuppen, dabei bemerkte ich jenseits vom Zaun eine langhaarige Gestalt. Sie wankte im Rhythmus des Beats hin und her, schnippte mit den Fingern und zuckte zu einem verzerrt klingenden Gitarrenriff, als würde sie unter Strom stehen. Trotz des milden Abends trug der Typ einen langen Mantel, wie die Cowboys in Spiel mir das Lied vom Tod. Ich hatte die Plakate im Vorbeifahren am Kino hängen sehen. Ich schlich unter den Obstbäumen zum Zaun. Animiert vom Trommelwirbel, den der Wind von der Platte im Haus herübertrug, sprang der seltsame Typ plötzlich auf und nieder, so, als stünde er auf einem Trampolin, und ich verharrte. Immerzu nickte er heftig mit dem Kopf, dass die Haare nur so flogen. Als die Musik abrupt endete, warf er den Kopf in den Nacken und blieb mit erhobenen Armen regungslos stehen, wie ein von einem Sheriff aufgespürter Flüchtiger. »Gut so. Und keine Bewegung«, sagte ich und erschrak über meine Worte wohl mehr als der Langhaarige.

»Hi! Irre Party.« Völlig aus der Puste strich er sich die verklebten Strähnen aus dem Gesicht. Am kleinen Finger der rechten Hand bemerkte ich einen breiten silbernen Ring.

»I’m Kevin«, sagte er, mit Akzent auf Deutsch, dass er mit dem Wagen vorbeigekommen sei. Er deutete zur Landstraße hinüber. »Ich wollte wissen, was hier abgeht.«

»Mit dem Wagen? Willst du mich verscheißern?« Umso vieles älter konnte er doch nun wirklich nicht sein.

»Mit dem Chevy dort.« Er vergrub seine Arme bis zu den Ellbogen in den Manteltaschen. »In Amerika bekommst du mit sechzehn die Fahrerlizenz.«

Ich folgte ihm zu dem Wagen mit offenem Verdeck, der seitlich von der Allee in der Wiese stand. Er schwang sich hinter das Lenkrad und startete den Motor. »Come on, lass uns nach München fahren und nach den Mädchen in den Straßencafés sehen.«

»Ich muss da rein«, sagte ich.

»What a pity, so long.« Rückwärts jagte der Wagen durch die Allee hinauf zur Landstraße.

Ich, Sergeant Pepper

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