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2: Philosophia

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Eine literarische Neuerscheinung erregt besonderes Interesse: die Memoiren von Jakob Casanova de Seingalt, die Brockhaus in einer deutschen Übersetzung herausbringt. Das französische Original ist noch nicht gedruckt, und es schwebt noch ein Dunkel über dem Schicksal des Manuskripts. An seiner Echtheit dürfe man gar nicht zweifeln. Das Fragment sur Casanova in den Werken des Prinzen Charles de Ligne sei ein glaubwürdiges Zeugnis, und dem Buch selbst sehe man gleich an, dass es nicht fabriziert ist. Seiner Geliebten möchte er es nicht empfehlen, aber allen seinen Freunden. Italienische Sinnlichkeit hauche uns aus dem Buch schwül entgegen. Der Held desselben ist ein lebenslustiger, kräftiger Venezianer, der mit allen Hunden gehetzt wird, alle Länder durchschwärmt, mit den ausgezeichnetsten Männern in nahe Berührung kommt, und in noch weit nähere Berührung mit den Frauen. Es sei – so Harry – keine Zeile in dem Buch, die mit seinen eigenen Gefühlen übereinstimmt, aber auch keine Zeile, die er nicht mit Vergnügen gelesen habe. Der zweite Teil soll schon heraus sein, aber er ist hier noch nicht zu bekommen, da, wie er hört, die Zensur bei dem Brockhausischen Verlag seit gestern wieder in Wirksamkeit ist. –

Keine Zeile Casanovas, die mit seinen eigenen Gefühlen übereinstimmt? Das klingt rätselhaft. Gibt es einen wahreren Don Juan als ihn? Oder ist er nur ein Don Juan de dicto, und Casanova ein Don Juan de re? Von der Sinnlichkeit her dürften sie einander gleichwertig sein, aber Casanova trägt sein Herz an den Ärmeln, während das Harry's tief drinnen im Verborgenen schlägt.

Die Romane der hiesigen Schriftsteller trügen alle denselben Charakter. Es ist der Charakter der deutschen Romane überhaupt. Dieser lasse sich am besten erfassen, wenn man sie mit den Romanen anderer Nationen, z. B. der Franzosen, der Engländer usw. vergleicht. Da sehe man, wie die äußere Stellung der Schriftsteller den Romanen einer Nation einen eigenen Charakter verleiht. Der englische Schriftsteller reist, mit einer Lords- oder Apostelequipage, schon durch Honorar bereichert oder noch arm, gleichviel, er reist, stumm und verschlossen beobachtet er die Sitten, die Leidenschaften, das Treiben der Menschen, und in seinen Romanen spiegelt sich ab die wirkliche Welt und das wirkliche Leben, oft heiter (Goldsmith), oft finster (Smollet), aber immer wahr und treu (Fielding).

Der französische Schriftsteller lebt beständig in der Gesellschaft, und zwar in der großen; mag er auch noch so dürftig und titellos sein. Fürsten und Fürstinnen kajolieren den Notenabschreiber Jean Jacques, und im Pariser Salon heißt der Minister Monsieur, und die Herzogin Madame. Daher lebe in den Romanen der Franzosen jener leichte Gesellschaftston, jene Beweglichkeit und Feinheit und Urbanität, die man nur im Umgang mit Menschen erlange, und daher jene Familienähnlichkeit der französischen Romane, deren Sprache immer dieselbe scheint, eben weil sie die gesellschaftliche ist.

Aber der arme deutsche Schriftsteller, der, weil er meist schlecht honoriert wird oder selten Privatvermögen besitzt, kein Geld zum Reisen hat, der wenigstens spät reist, wenn er sich schon in eine Manier hineingeschrieben, der selten einen Stand oder einen Titel hat, der ihm die Gnadenpforten der vornehmen Gesellschaft, die bei uns nicht immer die feine ist, erschließt, ja, der nicht selten einen schwarzen Rock entbehrt, um die Gesellschaft der Mittelklasse zu frequentieren, der arme Deutsche verschließt sich in seiner einsamen Dachstube, fasle eine Welt zusammen, und in einer aus ihm selbst wunderlich hervorgegangenen Sprache schreibt er Romane, worin Gestalten und Dinge leben, die herrlich, göttlich, höchstpoetisch sind, aber nirgends existieren. Diesen phantastischen Charakter trügen alle unsere Romane, die guten und die schlechten, von der frühesten Spieß-, Cramer- und Vulpius-Zeit bis Arnim, Fouqué, Horn, Hoffmann usw., und dieser Romancharakter hat viel eingewirkt auf den Volkscharakter, und wir Deutschen seien unter allen Nationen am meisten empfänglich für Mystik, geheime Gesellschaften, Naturphilosophie, Geisterkunde, Liebe, Unsinn und – Poesie! –

Auf der Straße trifft er einen alten Klassenkameraden, der sich gerade zum Literaturkritiker mausert. Sie gehen zusammen in ein Café.

„Wo ist der große zeitgenössische Roman?“, fragt ihn Harry.

„In deiner Schublade!“, antwortet dieser, den Hintersinn der Frage erahnend.

„Warte auf meine Memoiren!“

Es ist das Versprechen seiner Begabung, das er schon auf der Schule gab, und Versprechen muss man halten. –

An der Universität neigt er mehr zu Philosophie und Literatur als zur Jurisprudenz, wobei er direkt an Schallmeyers Kurse anknüpft. Die deutsche Philosophie ist eine wichtige das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit. Das wird zur Grundlage seiner Schrift Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland.

Schon immer hat er sich ebenso als Philosoph wie als Dichter gefühlt, auch wenn er einen Mangel an akademischer Berufung fühlt, hier selber zünftig zu werden. Ich bin kein Gelehrter, ich selber bin Volk. Ich bin kein Gelehrter, ich gehöre nicht zu den siebenhundert Weisen Deutschlands. Ich stehe mit dem großen Haufen vor den Pforten ihrer Weisheit, und ist da irgendeine Wahrheit durchgeschlüpft, und ist diese Wahrheit bis zu mir gelangt, dann ist sie weit genug: – ich schreibe sie mit hübschen Buchstaben auf Papier und gebe sie dem Setzer; der setzt sie in Blei und gibt sie dem Drucker; dieser druckt sie, und sie gehört dann der ganzen Welt.

Doch ist es noch nicht so weit: Es ist jetzt überhaupt noch immer die Zeit der Saat bei mir, schreibt er seiner Schwester Charlotte, ich hoffe aber auf eine gute Ernte. – Ich suche die verschiedenartigsten Kenntnisse in mir aufzunehmen und werde mich in Folge desto vielseitiger und ausgebildeter als Schriftsteller zeigen. Der Poet ist bloß ein kleiner Teil von mir.

Er selber ist der für die Aufklärung typische Charakter des allseitig interessierten, ebenso belletristische, philosophische wie naturwissenschaftliche Werke verfassenden philosophe; aber immer steckt er zu sehr im Leben und in der Liebe, um sich blutleeren Abstraktionen zu widmen. Klar erkennt er – und hat es bereits als Gymnasiast mit Béa erörtert –, für das wahre Weltbild gibt es keinen Weg vorbei am wissenschaftlichen Materialismus der Zeit.

Es ist derselbe naturalistische Materialismus wie bei dem Griechen Epikur, dem Römer Lukrez, und wie ihn die französischen Enzyklopädisten seit Lamettrie neu formulierten. Er ist sich der radikalen Konsequenzen dieses Weltanbildes bewusst: Noch immer haben alle Angst vor den letzten Folgerungen ihres obersten Grundsatzes, und der Anhänger Condillacs erschrickt, wenn man ihn mit einem Helvetius, oder gar mit einem Holbach, oder vielleicht noch am Ende mit einem Lamettrie in eine Klasse setzt. Und doch muss es geschehen, und ich darf daher die französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts und ihre heutigen Nachfolger samt und sonders als Materialisten bezeichnen. L'homme machine – ,Maschine Mensch' – ist das konsequenteste Buch der französischen Philosophie, und der Titel schon verrät das letzte Wort ihrer ganzen Weltansicht.

Die Angst vor den letzten Folgerungen des naturalistischen Prinzips rührt daher, dass es zwingend zu der Überzeugung führt, dass alles in der Welt im Grunde Materie ist und von der Materie abhängt, und auch unser menschlicher Geist und unsere menschliche Seele nichts anderes sind als eine Funktion der ewig sich wandelnden Materie! Im Grunde ist das längst auch seine Überzeugung; wenn nicht, muss ich ihn auf die Höhe der Zeit bringen. Ich übertreibe daher mit Absicht und mache sein Weltbild moderner, als es in Wirklichkeit ist. Haarscharf steht er an der Schwelle zur Moderne, und würde er länger und in Gesundheit leben, hätte er sie vielleicht sogar überschritten. Als eine Malice der Geschichte stirbt er ein Jahr vor Darwins Werk Die Entstehung der Arten 1857, das ihm, wie dem Physiker Boltzmann, alles Heil für die Philosophie hätte bringen können. So verstehen wir ihn und seine philosophischen Skrupel heute besser, als er sich selber verstand.

Persönlich begreift er die materialistische Strömung gut genug und spürt instinktiv ihre Durchschlagskraft. Trotzdem studiert er, um nichts zu versäumen, auch noch die traditionellen deutsch-idealistischen Systeme. Will er eines Tages eine Professur ausüben, darf er keine Lücken haben. So beginnt er bei Kant; denn mit der Kritik der reinen Vernunft 1781 beginne, so hält er dafür, eine geistige Revolution in Deutschland, die mit der politischen Revolution in Frankreich die sonderbarsten Analogien habe und dem tieferen Denker ebenso wichtig dünke wie jene.

Diese Revolution entwickle sich mit denselben Phasen, und zwischen ihnen herrsche der merkwürdigste Parallelismus. Auf beiden Seiten des Rheins sähen wir denselben Bruch mit der Vergangenheit, der Tradition werde alle Ehrfurcht aufgekündigt; wie in Frankreich ein jedes Recht, so müsse in Deutschland sich jetzt jeder Gedanke justifizieren, und wie dort das Königtum, der Schlussstein der alten sozialen Ordnung, so stürze hier der Deismus, der Schlussstein des alten geistigen Regimes. Der Gottesglaube hat ausgedient; und damit zugleich auch alle Religion.

Ein eigentümliches Grauen, eine geheimnisvolle Pietät erfülle ihn bei dem Gedanken. Seine Brust sei voll entsetzlichen Mitleids mit Gottes Tod – es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet. Nietzsche antizipierend, resümiert er die Theogonie des Juden- und Christengottes:

Wir alle hätten ihn so gut gekannt, von seiner Wiege in Ägypten an, als er unter göttlichen Kälbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wird. – Wir hätten gesehen, wie er diesen Gespielen seiner Kindheit und den Obelisken und Sphinxen seines heimatlichen Niltals ade sagt und in Palästina, bei einem armen Hirtenvölkchen, ein kleiner Gott-König wird und in einem eigenen Tempelpalast wohnt. – Wir sahen ihn späterhin, wie er mit der assyrisch-babylonischen Zivilisation in Berührung kommt und seine allzu menschlichen Leidenschaften ablegt, nicht mehr lauter Zorn und Rache speit, wenigstens nicht mehr wegen jeder Lumperei gleich donnert. – Wir sahen ihn auswandern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurteile entsagt und die himmlische Gleichheit aller Völker proklamiert, mit solchen schönen Phrasen gegen den alten Jupiter opponiert und so lange intrigiert, bis er zur Herrschaft gelangt und vom Kapitol herab die Stadt und die Welt, urbem et orbem, regiert. – Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigt, wie er sanftselig wimmert, ein liebevoller Vater wird, ein allgemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philanthrop – es kann ihm alles nichts helfen. – Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder – man bringt die Sakramente einem sterbenden Gott!

Henri hardcore I - Heines Mannesjahre

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