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5. Wendepunkte

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Die Jahre 1971 bis ’74 in Mendocino County waren für mich ganz besondere Jahre. Nie wieder habe ich in so kurzer Zeit so tief in so viele Menschen blicken dürfen, wie in diesen Jahren unter Menschen, die nicht banden, und die sich nicht binden ließen und offen waren, in sich blicken zu lassen. Sie waren ausgestiegen aus den herkömmlichen Wegen und waren eigentlich nur die letzte Konsequenz einer Bewegung, die mit der Gründung der USA begonnen hatte, als ihre Vorfahren die „Alte Welt“ verließen, um neue Wege des gesellschaftlichen Miteinanders zu pionieren. Meine Bekannten und Freunde in Berkeley und in Mendocino County (und auch schon in den Jahren zuvor in Pennsylvania und Seattle) reichten mir in einem Schnellkurs das Erbe der Entbindung von der „Alten Welt“. Eine der ersten Hürden, die ich in Mendocino nahm, bestand darin, ohne Schuldgefühle nichts zu tun, was für einen Menschen deutscher Herkunft nicht ganz einfach ist, oder jedenfalls noch für meine Generation nicht einfach war. Aber mein Freikommen von der Vergangenheit hatte noch ganz andere Aspekte, denn zu meiner Vergangenheit gehörte, dass ich an einem Tag im Oktober 1940 geboren wurde, als Hamburgs Hafen brannte und meine Mutter auf dem Weg ins Krankenhaus einen Stahlhelm trug, weil auf dem Asphalt die Flaksplitter tanzten.

Meine frühesten eigenen Erinnerungen setzen ein, als wir uns auf der Flucht vor der russischen Armee befanden, denn unsere Familie war 1944 von Hamburg in die Tschechei evakuiert worden, wo mein Vater im Nachschub der Klöckner Flugzeugmotoren eine Aufgabe hatte. Im Januar oder Februar 1945, als Kanonendonner wie bei einem fernen Wetterleuchten hinter dem Horizont im Osten hörbar wurde, nahm unsere Mutter uns drei Kinder bei der Hand und wir flohen ins Erzgebirge, wo die letzten Tage des Krieges an uns vorübergingen und wir bis in den Mai hinein in einer Waldmühle blieben. In Zwickau waren die Amerikaner, und die waren (ganz anders als in dem Film ‘Lore’ portraitiert) hervorragend organisiert, um mit dem Flüchtlingsproblem umzugehen. Sie schickten uns zusammen mit anderen Familien in einem plombierten Güterwagen durch russisches Besatzungsgebiet nach Hamburg zurück. Als zehn Jahre später mein Verstand zu begreifen begann, welches Erbe mir das Dritte Reich hinterlassen hatte, band mich dieses Verstehen an die jüngste Vergangenheit meiner Nation und blockierte mir den Zugang zur Gegenwart, und statt meiner Zukunft entgegenzusehen, entwickelte ich eine Passion für die Museen und für die Zeugen vergangener Zeiten, wo ich des Rätsels Lösung suchte, ohne diesem Rätsel einen Namen geben zu können.

Bis zu einem Wendepunkt in der Mitte meines Lebens schaute ich eher zurück als voraus. Dieser Wendepunkt sollte erst ein paar Jahre nach der Zeit, von der ich hier berichte, kommen, aber die fast sieben Jahre, die ich nun schon in den USA weilte, waren der Auftakt dazu. In mir war und ist eine große Dankbarkeit gegenüber den USA und ihren Menschen. ‘In God we trust’ hatte mich zwar noch nicht erreicht, aber begann, nach mir zu greifen.

Als ich gar nichts mehr in Händen hielt, eröffnete ich einen kleinen Kindergarten, der eher eine Kinder-Aufbewahrungs-Tagesstätte war, wo alleinerziehende Mütter aus Albions Umgebung ihre Vorschulkinder lassen konnten, um in den ‘Inns’ und ‘Lodges’ an der Küste für ein paar Dollar die Betten zu machen oder in der Küche zu helfen. Da Bedarf bestand, wurde mir ein Klassenzimmer in dem alten Schulhaus in Albion zur Verfügung gestellt. Das alte Schulhaus war schon seit geraumer Zeit keine Schule mehr. Es stand – und steht – in Ost/West-Ausrichtung ein wenig oberhalb der wenigen Häuser Albions. Über eine steinerne Treppe auf der Südseite des Gebäudes, wo es sich wunderbar in der Sonne sitzen ließ, gelangte man in einen Flur, von dem links und rechts je ein geräumiges Klassenzimmer abging. Das rechte Klassenzimmer war zu einem Hippie-Café umgestaltet worden, wo es selbstgemachtes Brot und den besten Kaffee der Thanksgiving-Coffee-Company in sehr großen Bechern gab. Vor den Fenstern des linken Klassenzimmers lag der Pazifische Ozean.

Dieser Raum im Westen war auf liebevolle Weise hergerichtet worden. Es gab eine Empore mit Leiter, Rutsche und Reling und genügend Platz für die Kinder, um dort oben zu spielen. Unter der Empore waren zwei Schaukeln befestigt, die solide genug waren, um mich mit einem Kind auf jedem Knie zu tragen. Spielzeug gab es zuhauf und auch einen bequemen Sessel, wo ich oft nur saß und las oder heimlich zuschaute, denn mir war daran gelegen, die Kinder selbstvergessen spielen zu lassen. Die Kinder konnten sehr lange ohne mich auskommen. Wenn es Probleme zu schlichten gab, kamen sie meistens von selbst zu mir, und wenn nicht, war immer noch Zeit, mich in die Mitte ihrer Aufmerksamkeit zu rücken, und bald schon hatten wir eine Art ‘town-meeting’ entwickelt, um Streitereien zu lösen, was jedoch nur funktionierte, wenn und solange keine Mutter im Zimmer oder auf der Treppe vor dem Haus zu sehen war.

Pro Tag wurden sechs bis zwölf Kinder „angeliefert“, von ihren Müttern postwendend mit einem Dollar zwanzig pro Nase und Tag bezahlt und um etwa 14 Uhr wieder abgeholt. Jedes Kind brachte etwas zu essen mit, und alles Essbare wurde durch die Anzahl der Kinder geteilt. Um der Gerechtigkeit willen halbierten wir manchmal sogar die paar Weintrauben, die ein Kind mitgebracht hatte, was vielleicht eine Übertreibung des ‘sharing’ war, aber wir hatten großen Spaß dabei. Toast mit Erdnussbutter und Johannisbeergelee war der Renner. Hinter dem Haus begann der Redwood-Wald. Er war mein größter Verbündeter, um aus meinen kleinen Freunden mutige Helden wie im Märchen „Narnia“ werden zu lassen. Sie waren eine tapfere Schar. Kein Wald kommt dem Redwood-Wald gleich. Die Höhe der Bäume, die Weite des Raums (Redwood-Wälder haben kein oder kaum Unterholz und die Stämme stehen wie Säulen) und das Licht und die Kombination von rötlichen und grünen Farben sind einmalig. Die französischen Kathedralen sind vielleicht des Waldes bestes Gleichnis. Und es gab Sauerklee im Wald für das Survival-Training.

All das liegt inzwischen über 40 Jahre zurück, und ich könnte weinen, die Namen der Kinder vergessen zu haben. Da war ein kleines Mädchen, die schleppte einen ganzen Vormittag lang eine gelbe Nacktschnecke (‘a banana slug’) in ihrer Hand mit sich herum. Die Schnecke hatte natürlich eine Menge Schleim abgesondert, und es bedurfte 20 Minuten mit Bürste und grüner Seife, um die Hände des Kindes für seine Mutter wiederherzustellen. Da war ein kleiner Junge, der saß eine ganze Woche lang auf der Treppe vor dem Haus, wollte nicht ins Haus, weinte und wartete jeden Tag sechs bis sieben Stunden, dass seine Mutter wiederkäme. Nach einer Woche gab die Mutter auf und suchte eine Anstellung, wo sie ihr Kind mitnehmen konnte.

Manchmal packte ich meinen alten Mercedes voll mit den Kindern und fuhr die zwei Meilen zum Navarro River. Blackberries war immer dabei. Das Auto war ein 190 D, Baujahr 1959, hatte ein Schiebedach aus Leinen, und aus einem größeren Bruder derselben Baureihe hatte ich die roten Ledersitze aus- und in mein blaues Auto eingebaut, und so fuhren wir sozusagen in einem Rolls Royce an den Strand. Es gibt kein genialeres Spielzeug als Strandgut. Es gibt keinen genialeren Weg, in die unkartierten Gewässer der eigenen Psyche vorzudringen, als mit Kindern zu spielen, die ohne eine Glucke in der Nähe mit Strandgut beschäftigt sind. Was ich da mit der Glucke meine, ist keine frauenfeindliche Bemerkung, sondern war für mich der Anstoß, über Familie nachzudenken.

Im November 1974 verkaufte ich das Auto und das Wenige, das ich besaß, und kaufte mir ein Paar robuste Schuhe, von denen Blackberries einen verschleppte, den ich trotz langer Suche nicht wiederfand. Aber ich brach dennoch auf, zu Fuß (per Anhalter), in Richtung Südamerika. Blackberries kam natürlich mit.

Mein Sohn, denke nicht, ich hätte ein konkretes Ziel gehabt. Ich musste einfach weiter. In meiner Jugend hatten mich die Inkas interessiert, und die Frage, warum ihre Zivilisation untergehen musste, hatte mich eine Weile tief beunruhigt. Mexiko, Guatemala, Panama, all das waren Namen, die für mich großen Zauber besaßen, und da ich erst kürzlich den Bestseller von Carlos Castañeda gelesen hatte, war ich nicht abgeneigt, ähnliche spirituelle Abenteuer unter den Indianern Mittelamerikas zu suchen. Aber all diese Gründe waren eher ein Alibi, um mir nicht eingestehen zu müssen, wie orientierungslos ich geworden war, wenn ich denn überhaupt je Orientierung besessen hatte. Damals fragte ich mich zum ersten Mal, warum Jesus Christus wohl gekreuzigt worden war. Bis San Francisco nahm mich eine Freundin mit, und danach war ich allein wie noch nie. Ich war ein Elektron, das keiner atomaren Struktur mehr angehörte. Es gab kein Proton, kein Feld, das mich hielt, und die paar hundert Dollar in American Traveler’s Cheques in meiner Jackentasche waren nicht gerade die große Sicherheit.

Ein Besuch in dem Museum of Natural History in San Diego war wie ein letztes Verweilen in westlichen Sicherheiten, wenngleich Mexiko ja wohl auch noch zum Westen gehört. Ich nahm den Zug von Mexicali bis Mexico City, der drei Tage brauchte. Drei Tage lang musste Blackberries im Gepäckwaggon in einem Käfig verbringen, denn Hunde haben südlich der Grenze der USA schlechte Karten. Aber der Zug hielt an allen Stationen und fast an allen Stationen gab es einen Wasserhahn, und da Zeit in Mexiko langsamer fließt als weiter nördlich, war fast immer ausreichend Zeit, um ihn aus dem Gepäckwagen zu holen, uns die Beine zu vertreten und ihm zu Trinken zu geben. Auf der letzten Etappe der Reise über die Berge hatte die Lokomotive große Mühe und Zug und Zeit krochen im Schneckentempo – man hätte Blumen pflücken können. Es gab für viele Stunden keine Station. Ich saß am Fenster und staunte Mexikos Wildnis an. Dann kamen die Slums in den Vororten von Mexico-City. Durch Müllhalden hindurch, auf denen Menschen unter Blechen und hinter Brettern lebten, fuhr der Zug in den Hauptbahnhof ein. Und dann endlich stand Blackberries auf dem Perron und ließ laufen, ohne das Bein zu heben. Es dauerte lange. Ein kleiner Bach lief über den Bahnsteig zum Gleis und die Reisenden mussten einen guten Schritt darüber tun. Es war Blackberries anzusehen, wie die Erleichterung wuchs. Er hatte Käfig und Gepäckwagen als Tabu für kleine und große Geschäfte verstanden. Gehorsam gepaart mit Einsicht. Guter Hund.

Aber dann in Mexico-City kam der Tag, an dem ein Polizist darauf bestand, Blackberries an die Leine zu legen. Das war ihm noch nie vorher passiert, nicht in Mendocino, nicht in Berkeley. Er verstand nichts. Er flippte aus. Der Wolf in ihm geriet in Panik. Und als es überstanden war, war sein Geist gebrochen. Ich brach meinen Wolf und machte ihn ganz zum Hund. Danach war er nicht mehr derselbe. Oh, er war immer noch schön und prächtig anzusehen. Seine Art zu laufen war auch weiterhin ein leichtfüßiges Tänzeln neben mir auf den Landstraßen in Richtung Süden. Wer ihn nicht näher kannte, hätte keinen Unterschied bemerkt. Ich aber war verzagt und wünschte mir, ich hätte mich bei ihm entschuldigen und ihm erklären können, warum die Leine hatte sein müssen. Kein Streicheln, keine Freundlichkeiten konnten gerade biegen und ungeschehen machen, was geschehen war. Er, der bewiesen hatte, dass er im Reich der Körpersprache ein Meister des Verstehens war, hatte die Leine an seinem Hals und in meinen Händen so gedeutet, wie es seinen Horizonten entsprach. Eine Weiche war gestellt worden, die nicht umkehrbar war. Ein körpersprachliches Erlebnis (mein ihn Binden) hatte in seiner Psyche eine Festlegung bewirkt, die kein anderes körpersprachliches Erlebnis (mein ihn Streicheln oder Trösten) würde widerlegen können. Und da verstand ich zum ersten Mal, wie unglaublich kostbar der Menschen Sprache ist. Zwischen ihm und mir konnten Worte nicht zu Hilfe eilen.

Und dann dachte ich an meinen Kindergarten in Albion und an das unerhörte Privileg, in die auch im Kindergarten überwiegend körpersprachlich ablaufenden Beziehungsprozesse zwischen mir und den Kindern Worte eingeflochten haben zu können. Sprache ist wie das Salz in der Suppe und noch viel, viel mehr. Sprache ist Licht.

Mit Sprache beginnt jeder Weg zur Freiheit von der Bevormundung durch die Strukturen unserer Psychologie. Worte sind Perlen, die viel zu oft unter die Füße geraten und im Dreck unter den Füßen nicht mehr als Perlen zu erkennen sind. Worte sind wie Schiffe, die alles transportieren können, auch Schrott und Abfall und auch die Lüge. Aber angelegt wurden Worte als die Schiffe des Geistes, um Verkehr mit der Seele und dem Schöpfer der Seele zu haben und die Seele einzuladen, an Bord des Geistes zu kommen. Sprache ist ein unglaubliches Privileg.

Als die Schöpfung des Menschen begann (das war lange bevor der Mensch in der Gestalt des Homo sapiens sapiens fertig war), muss seine beginnende Sprachfähigkeit ihm großes Erstaunen, große Freude und ein großes Abenteuer bedeutet haben. Von allen Geschehnissen in der Vergangenheit des Universums würde mich am meisten interessieren, wie es war, als wir zum ersten Mal den Mund aufmachten, den ersten Dingen Namen gaben, die Vergangenheit von der Zukunft unterschieden und den ersten Scherz formulierten. Sprache ist das Heiligste, das wir haben. Und implizit in unserer Sprachentwicklung muss von Anfang an die Verheißung mitgeschwungen haben, dass eines Tages des Menschen Geist die Gravitation von Mutter Erde überwinden werde, um den Weg zum Vater im Himmel zu finden.

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