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Sie wachte auf dem Sofa liegend mit unbeschreiblichen Kopfschmerzen wieder auf. Oje, habe ich zu viel getrunken?, dachte sie amüsiert. Soll ja in den besten Familien vorkommen. Sie startete einen neuen Versuch, die Augendeckel nach oben zu hieven. Aua, verflixt, das schmerzt aber sehr. Das muss verdammt viel Alkohol gewesen sein. Wie peinlich! Ich lasse mich als Vorbild volllaufen! Das ist doch nicht mein Stil, stellte sie betrübt fest.

„Sie wird wach“, sagte eine Stimme. Eine vertraute Stimme. Das hörte sich sehr nach Julia an. Was um Himmels willen hatte Julia mit ihrem Zustand zu tun?

„Elena?“ Eine Hand legte sich auf ihre Stirn und Elena dachte, das müsse King Kongs Hand sein – wie schwer war die denn? Also, ich brauche jetzt klare Verhältnisse, beschloss Elena tapfer. Sie gab sich einen großen Ruck und schaffte es, unter massiver Anstrengung die Augen zu öffnen. Tatsächlich, da stand Julia. Aber warum hatte sie ein tränenüberströmtes Gesicht? Julia war normalerweise keine Heulsuse. Ganz im Gegenteil, sie war sehr hart im Nehmen. Wie oft hatte sie früher die Jungs damit beeindruckt. Julia war eine ganz Coole.

„Elena? Wie fühlst du dich?“

„Ich hoffe, die Sause war es wert, dass ich mich so fühle, wie ich mich fühle“, scherzte Elena.

„Sie ist von der Spritze noch ganz benebelt“, sagte eine fremde Stimme hinter ihr.

Elena versuchte den Kopf zu drehen, um nachzusehen, wer so einen Mist redete. Spritze? Was für eine Spritze denn? Sie schaute sich langsam um – fast im Zeitlupentempo drehte sie ihren Kopf in alle Richtungen. Dabei musste sie deutliche Einschränkungen in Kauf nehmen, denn ihr Vorhaben, sich Klarheit zu verschaffen, war sehr schmerzhaft. Ja, das war ihr Wohnzimmer und sie lag auf dem Sofa, auf dem sie gestern Abend mit Manuel … Manuel, da war doch etwas. Was war mit Manuel? Sie strengte sich sehr an, um einen klaren Gedanken fassen zu können, aber es wollte ihr nicht gelingen. Wo waren die Kinder? Was war hier los?

„Spritze?“, fragte sie leise. Mehr schaffte sie nicht zu sagen.

„Elena, es ist etwas Schreckliches passiert. Du bist zusammengebrochen, weil – weil Manuel verunglückt ist. Er ist tödlich verunglückt, Elena.“

Mühsam versuchte sie, das Gesagte in ihrem Kopf ankommen zu lassen und einzusortieren. Es fühlte sich an, als ob ihr Kopf in Watte gepackt wäre. Sie hatte es gehört, sie hatte es verstanden – aber die Worte lösten nichts in ihr aus. Sie konnte deren Inhalt nicht realisieren. Tot, Manuel war tot. Das hatte Julia gerade eben gesagt. Sie schloss die Augen wieder, weil sie nicht mehr imstande war, diese noch länger geöffnet zu halten.

„Lassen wir sie noch ein bisschen schlafen. Gönnen wir ihr noch eine kleine Pause“, sagte die fremde Stimme.

Elena strengte sich sehr an, nicht wieder einzuschlafen. Manuel tot, Manuel tot, hämmerte es in ihrem Kopf. Schließlich gab sie dem Drang nach und schlief mit dem Gedanken ein, dass Manuel, wenn sie aufwachte, bestimmt wieder bei ihr sein würde.

Elena erwachte erneut, aber Manuel war dennoch nicht bei ihr. Ihre Schwester war aber immer noch da. Sie hielt ihre Hand und war wohl vor Erschöpfung eingeschlafen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Elena wirklich munter war und einigermaßen klar denken konnte. Aber was ihr dabei einfiel, war eine Katastrophe und durfte nicht wahr sein. Mehr und mehr drang die Wahrheit in ihr Bewusstsein. Sie wollte Julia nicht wecken, sie wollte nicht reden müssen – es war totenstill im Zimmer. Bei dem Wort „totenstill“ konnte Elena sich nicht mehr beherrschen und es brachen alle Dämme auf einmal. Elena schluchzte, zitterte und ließ den Tränen freien Lauf. Erschrocken fuhr Julia aus ihrer Schlafposition hoch, sammelte sich aber sofort und nahm Elena fest in den Arm. Sie sagte nichts. Sie wusste genau, dass es keine Worte gab, die Elena den Schmerz hätten nehmen oder auch nur lindern können.

„Die Kinder sind bei Irina und Max“, flüsterte Julia. Dann drückte sie Elena nur noch wortlos an sich und spürte selbst einen unbeschreiblichen Schmerz in der Brust.

„Es war zu perfekt, einfach zu perfekt“, presste Elena unter großer Mühe hervor. Das war der einzige Satz, den sie an diesem Abend sprach.

Keine der beiden hätte am nächsten Tag sagen können, wie sie die Nacht überlebt hatten. Irgendwann war sie zu Ende. Es herrschte die ganze Zeit absolute Stille. Außer ihren Atemgeräuschen und immer neuen Wein- und Schluchzattacken war nichts zu hören. So war es gut, stellte Elena am nächsten Morgen fest, als immer mehr Menschen sich in ihrem Haus versammelten. Alle wollten ihr beistehen. Alle hatten Fragen, die sie nicht beantworten konnte. Ihre Eltern, ihre Freundinnen, Manuels Freunde, Kollegen aus der Klinik, ja sogar Nachbarn wollten helfen. Die Nachricht von Manuels Tod hatte sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Alle waren fassungslos, hilflos und tief betroffen. Die einen gingen gleich wieder, andere blieben länger und es kamen immer neue Menschen dazu. Elena fühlte sich, als ob sie in einem Käfig oder Schaufenster sitzen würde und eine besondere Attraktion sei. Verstohlen richteten sich die Blicke auf sie, bis sie es nicht mehr aushielt. Sie stand einfach auf und ging aus dem Haus. Julia rannte ihr hinterher. „Wohin gehst du, Elena?“

„Ich will zu meinen Kindern. Ich fahr zu Irina und Max.“

„Ich fahre dich.“

„Ja, das wäre gut.“

Irina öffnete die Tür – auch sie hatte ganz verweinte Augen. Ihr schlichtes „Es tut mir leid“ und „Ich bin jederzeit für dich da“ taten Elena gut. Keine große Reden und leeren Versprechungen, dass es schon wieder gut werden und der Schmerz sicher bald nachlassen würde. Nur einfache, ehrlich gemeinte Worte und eine herzliche Umarmung. Das reichte völlig aus.

„Lois und Selina sind oben bei Leon im Zimmer. Ich habe ihnen noch nichts gesagt, aber wenn du mich dabeihaben möchtest, stehe ich dir gerne zur Seite.“

„Kann ich sie im Wohnzimmer sprechen und ihr beide haltet euch bitte in der Küche bereit für den Fall, dass ich es nicht packe?“

„Ja, so machen wir es. Ich hole die beiden.“

Elena war nicht in der Lage, richtig zu denken. Zu fühlen, erlaubte sie sich nicht, denn sie wollte – musste für ihre beiden Kinder stark sein. Ihr war nur zu klar, dass sie das nicht mehr sein konnte, wenn sie es nicht schaffte, ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie registrierte aber trotzdem, wie gut ihr Julias und Irinas Art, mit dieser Situation umzugehen, tat. Schlicht und einfach, keine großen Worte, kein „Oh, du Arme“ oder „Die armen Kinder“. Sie schauten ihr beide in die Augen, wenn sie mit ihr redeten, ansonsten waren sie einfach nur da – still, aber da.

Selina und Lois stürmten freudig auf sie zu und drückten sie. „Warum hast du uns von der Überraschung nichts erzählt? Es war so toll und hat echt Spaß gemacht. Wir haben so viel gespielt – Samira hat immer so tolle Ideen. Ich möchte auch eine große Schwester, Mami“, schnatterte Selina.

„Selina, Lois, ich muss euch etwas sagen.“

Erst jetzt schauten die beiden ihre Mama richtig an und man konnte an ihren erschrockenen Gesichtszügen erkennen, dass sie bemerkt hatten, dass mit ihrer Mami etwas nicht stimmte. Jetzt hatte Elena die volle Aufmerksamkeit ihrer Kinder.

„Es ist etwas sehr Schlimmes passiert. Ich werde euch sehr, sehr wehtun mit dem, was ich euch jetzt sagen muss.“

Beide sahen sie mit großen, ängstlichen Augen an. Keiner der beiden sagte einen Ton und keiner bewegte sich – keinen einzigen Millimeter.

„Euer Papa ist …“

Selinas Augen füllten sich bereits mit Tränen. Sie war schon immer ein sehr sensibles Kind gewesen, aber dass sie mit ihren sechs Jahren so schnell eine Tragödie erspürte, war bemerkenswert. Sie fixierte ihre Mama mit einem verzweifelten, aber auch wissenden Blick. Selina nickte Elena leicht zu, als ob sie ihr Mut zum Reden machen wollte.

„Papa ist verunglückt. Er hat nicht … Er ist …“

„… verletzt“, sagte Lois. „Ist er von einem Krankenwagen abgeholt worden? So richtig mit Blaulicht? Besuchen wir ihn gleich?“

Zusammenreißen, reiß dich zusammen, Elena! „Nein, Lois, Papa durfte nicht in einem Krankenwagen mitfahren. Papa ist nicht im Krankenhaus. Papa ist im Himmel. Die Engelchen haben ihn zu sich geholt, mein Schatz.“

Selina fing an zu weinen. Lois sah Elena noch immer mit großen, unverständigen Augen an. „Du meinst, er ist da oben im Himmel?“

„Ja, mein Schatz. Er schaut bestimmt gerade auf uns herunter.“

„Das will ich aber nicht!“, schrie Selina plötzlich mit einer ganz hysterischen, fremden Stimme. Sie fing an zu zittern und ließ sich einfach auf den Boden fallen. Sie wälzte sich hin und her und gab animalische Töne von sich, die Lois so sehr erschreckten, dass er sich ganz eng an seine Mama klammerte. Gott sei Dank kamen Julia und Irina in diesem Moment ins Zimmer und übernahmen die Führung. Elena war am Ende ihrer Kräfte und brauchte selbst Hilfe. Zusammenreißen ging nicht mehr. Sie knickte ebenfalls ein, klammerte sich an Selina und die beiden ließen ihren Gefühlen freien Lauf. Lois war geschockt – er war wie paralysiert und konnte das alles nicht begreifen. Papa war plötzlich im Himmel, seine Mami und seine Schwester hockten weinend auf dem Boden und beide schrien furchtbar laut. Mama versuchte nach ihm zu greifen, um ihn an sich heranzuziehen. Das erschreckte Lois aber so sehr, dass er einen Schritt nach hinten machte und stürzte. Jetzt fing auch er an zu weinen und Irina beschloss spontan, das Wohnzimmer mit dem Kleinen zu verlassen.

Julia kniete sich auf den Boden und nahm ihre Schwester und ihre Nichte fest in den Arm. Sie schaukelte sie sanft hin und her, überließ sie aber ansonsten, ohne ein Wort zu sagen, ihren Gedanken und ihrem Schmerz. Irgendwann fragte Julia fast flüsternd: „Sollen wir langsam nach Hause fahren oder möchtet ihr lieber hier schlafen? Irina hat es angeboten.“

Ohne lange zu überlegen, sagte Elena: „Ich möchte gerne nach Hause, aber die Menschen sollen bitte alle weg sein. Kannst du dafür sorgen?“

Julia nickte. „Sie sind schon alle weg.“

„Wirklich alle?“

„Ja, Elena. Ich dachte mir schon, dass du nach Hause und dort alleine mit deinen Kindern sein möchtest.“

„Julia, es wäre wirklich lieb, wenn du bleiben könntest. Ich weiß, es ist viel verlangt. Du hast selbst eine Familie zu versorgen …“

„Mama kümmert sich um alles. Ich bleibe!“, unterbrach Julia ihre Schwester.

„Danke!“ Elena versuchte aufzustehen, aber sie schaffte es nicht allein. Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie sofort wieder einknickte.

Selina hatte alles wie aus weiter Ferne gehört und bewegte sich keinen Millimeter, doch als ihre Mama zusammensackte, kam Leben in ihren Körper. Sie hatte sich sehr erschrocken. „Mama, was ist los? Ist dir schlecht?“

„Nein, mein Schatz, es geht schon wieder.“

Elena erhob sich mit Julias und Irinas Hilfe, die inzwischen ebenfalls im Wohnzimmer stand, und ließ sich zum Auto führen. Julia und Irina nahmen jeweils ein Kind an die Hand. Max, Leon und Samira standen völlig hilflos an der Haustür, getrauten sich aber nicht, irgendwas zu sagen. Max dachte, dass er noch nie so ein trauriges Bild gesehen hatte, und er ärgerte sich sehr über seine Unfähigkeit, etwas Vernünftiges oder Hilfreiches zu sagen.

Irina drückte die drei, sah Elena tief in die Augen und sagte: „Tag und Nacht – du weißt es!“

Zu Hause angekommen, schloss Julia die Haustür auf und wartete darauf, dass die drei ins Haus gingen. Aber sie standen da, als ob vor ihnen eine unsichtbare Wand wäre, durch die sie nicht gehen konnten. „Zurück zu Irina? Oder zu uns nach Hause? Auch Papa und Mama haben angeboten, euch aufzunehmen.“

„Nein, gib uns nur noch einen kleinen Moment.“

Irgendwann setzten sie sich dann, ganz eng aneinandergedrückt, in Bewegung. Bei diesem Anblick schnürte es Julia den Hals zu. Einen guten Schritt im Haus und sie stockten wieder. Wahrscheinlich war es Elenas Rhythmus, aber die Kinder passten sich ihren Bewegungen an. Elena drückt die beiden so eng an sich, dass es sie sicher schmerzen muss, dachte Julia. Sie sah an Elenas völlig verkrampften Händen die weißen Knöchel hervortreten. Ihre Schwester sah sich um, als ob sie dieses Haus das erste Mal in ihrem Leben betreten würde. Ganz langsam schaffte es Julia, die drei ins Wohnzimmer zu schieben. Sie sorgte dafür, dass sie sich auf die Couch setzten. Dann ging sie in die Küche, um Tee zu kochen und etwas zum Essen herzurichten.

„Papa ist immer viel zu schnell gefahren, Mami. Warum hat er nicht auf dich gehört?“ Selina sah ihre Mama mit großen Augen an.

Elena suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. „Selina, es steht noch gar nicht fest, ob dein Papi zu schnell gefahren ist. Das wird die Polizei noch herausfinden.“

Es herrschte wieder Stille.

„Jetzt ist er bei meiner Einschulung nicht dabei“, sagte die Kleine weinend.

Julia drückte ihre Nichte ganz fest an sich. „Nein, Selinchen, und wir alle sind sehr traurig deswegen. Aber alle anderen Familienmitglieder werden bei dir sein.“

Elena konnte sich nicht mehr zurückhalten. Ihr heftiger Ausbruch erschreckte die Kinder wieder so sehr, dass Julia mit ihnen nach oben ging. Der Gedanke, Elena alleine zu lassen, gefiel ihr nicht. Aber wahrscheinlich war der Anblick ihrer verzweifelten Mami für die Kinder momentan sogar schlimmer als der Gedanke an den Verlust ihres Papas. Die Nachricht von Manuels Tod konnten sie sicher noch nicht realisieren.

Julia setzte sich im Spielzimmer auf die Matratze und forderte die beiden auf, sich hinzulegen und die Köpfe auf ihren Schoß zu betten. Beide taten wortlos, was Julia gesagt hatte. Dann streichelte Julia ihre Köpfchen ganz sanft, bis ihre Atemzüge ruhiger und gleichmäßiger wurden. Lois und Selina schliefen recht schnell ein und Julia konnte wieder nach ihrer Schwester schauen.

Sie fand Elena immer noch auf der Couch sitzend, aber ihr Körper war ganz verdreht. Sie drückte das Gesicht in das Rückenteil des Sofas – es sah sehr seltsam aus. „Elena?“

„Es riecht so gut, so vertraut. Vorgestern Abend hat Manuel genau hier gesessen.“

„Magst du reden?“

„Was gibt es denn zu reden, Julia? Manuel ist für immer weg – egal was und wie viel ich rede. Er kommt nie wieder! Kannst du dir das vorstellen? Gestern Morgen saß er noch am Frühstückstisch – putzmunter. Und jetzt ist er nicht mehr da.“ Die Tränen kullerten Elena wie eine nicht enden wollende Perlenkette über die Wangen. „Julia, ich wusste, dass etwas passieren würde. Ich wusste es ganz genau. Ich habe es gespürt – schon sehr lange und ich hatte Angst davor. So glücklich, wie wir miteinander waren, so eine beängstigende Übereinstimmung in nahezu allen Lebenslagen und Fragen, so viel Harmonie – das hätte ja unmöglich für immer so bleiben können! Das war mir immer klar. Aber so ein Ende …“ Elena drückte ihr Gesicht wieder in die Sofakissen. „Wie, wie soll ich nur ohne Manuel weiterleben? Julia, ich kann das nicht! Es wird nicht gehen!“

„Du musst. Du hast zwei wunderbare Kinder, für die du verantwortlich bist – sie sind auch Manuels Kinder. Du bist es ihm schuldig. Sie sind aus eurer wunderbaren, einmaligen Liebe entstanden. Sie sind das, was dich für immer mit Manuel verbinden wird. Selina und Lois sind der lebendige Beweis eurer fantastischen Beziehung.“

„Ich werde funktionieren, aber leben werde ich nicht mehr.“

„Die Zeit.“

„Nein, Julia, bitte sag das nicht – auch vergangene Zeit wird nichts daran ändern. Ich will es auch nicht. Ich werde mit diesem Schmerz bis ans Ende meiner Tage leben müssen.“

Phantombesuch

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