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Die Einstufung des Tambora-Ausbruches

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Der Tambora, in seinem des Gipfels beraubten Zustand, kann mit Recht den Anspruch erheben, der zerstörerischste Vulkan in der aufgezeichneten Geschichte der Menschheit zu sein. Angesichts dessen scheint die weitaus bescheidenere Eruption des Krakatau im Jahr 1883 ihre Berühmtheit nicht verdient zu haben. Nur durch den historischen Glücksfall, dass die Telegrafie mittlerweile erfunden war, konnte diese Nachricht im Nu rund um den Globus wandern. Vielleicht wird der Tambora, da der zweihundertjährige Jahrestag seines Ausbruches ansteht, endlich genauso viel Anerkennung in der Öffentlichkeit finden, wie er unter Wissenschaftlern bereits genießt.

Doch wie stark war das Tambora-Ereignis auf der geologischen Zeitskala? Nach dem Global Volcanism Program der Smithsonian Institution markiert das sogenannte Erdzeitalter des Holozän –die rund zwölftausend Jahre seit dem letzten Glazial – den »offiziellen« Zeitrahmen der Vulkangeschichte. Es ist kein Zufall, dass die Menschheit bei den für das Holozän charakteristischen beständigen und gemäßigteren Temperaturen – die in jenen zwölf Jahrtausenden um nicht mehr als ein Grad nach oben bzw. unten schwankten – große Sprünge nach vorn gemacht hat: von der prekären Existenzform der umherziehenden Jäger-und-Sammler-Gruppen über die schriftkundigen sesshaften Bauern-Gemeinschaften zu den fortgeschrittenen technischen Massengesellschaften des einundzwanzigsten Jahrhunderts – hin zu einem Planeten, auf dem es buchstäblich von Menschen nur so wimmelt.

Nach der von der Smithonian Institution angewandten Methode – die den Magmaausstoß misst, wie er aus geologischen Sedimenten und historischen Aufzeichnungen abgeleitet werden kann – gehört der Tambora zu einer elitären Gruppe von etwa einem halben Dutzend Vulkanen im Holozän, die auf dem Volcanic Explosivity Index (VEI, Vulkanexplosivitätsindex) Stärke 7 erreichen, ein Grad, der offiziell als »kolossal« bezeichnet wird.23 Die Vulkanologen konzedieren sofort, dass der Index seine Grenzen hat und, je weiter man in der Zeit zurückgeht, immer schwammiger wird. Viele bedeutende Vulkane tauchen in den Smithonian-Tabellen schlicht nicht auf, so auch die großen »Unbekannten« von 1258 und 1809. Außerdem beschweren sich die Paläoklimatologen darüber, dass der VEI nur die Explosionskraft misst, nicht aber die Auswirkung des jeweiligen Vulkans auf das Klima. Die bekannte Eruption des Mount St. Helens im Jahr 1980 zum Beispiel hat auf dem VEI eine respektable 5, doch da das Auswurfmaterial seitwärts ausgestoßen und nicht nach oben in die Stratosphäre geschleudert wurde, war sein Einfluss auf das Klima gleich null. Wie wir gesehen haben, ist auch der Breitengrad von Vulkanen für die von ihnen ausgelösten Klimaänderungen von entscheidender Bedeutung: Die Vulkane in den Tropen können die globalen Wettermuster beeinflussen, während Feuerberge in den hohen Breiten, wie die Laki-Spalte auf Island 1783, lediglich die nördliche Hemisphäre beeinträchtigen. Aber der VEI berücksichtigt die Breitengrade nicht.

Deshalb wurde in neuerer Zeit ein alternativer Index für die Einstufung von Vulkanausbrüchen entwickelt, der auf Eiskerndaten – der Zeitreisemaschine des Paläoklimatologen – beruht. Historische Aufzeichnungen mögen Jahrhunderte weit zurückreichen, Baumringdaten noch ein bisschen weiter, und geologische Belege erreichen nie das Ende des Tunnels, doch der neue Ice-Core Volcano Index (IVI, Eiskern-Vulkan-Index) bietet, mittels Identifikation von Schwefelisotopenanomalien im Eis der Polkappen und Berggletscher, ein die Jahrtausende überspannendes Maß für Ascheablagerungen in den abgelegenen glazialen Archiven der Erde.24 Man kann ihn Ruhmeshalle der Vulkane nennen. Nur Eruptionen, die bis in die Stratosphäre reichen und demzufolge von Relevanz für das Klima sind, werden im Eis mit Unsterblichkeit belohnt.

Der Status des Tambora nach dem IVI ist komplexer als nach dem alten Smithonian-System. Sein Rang als größte Eruption des zweiten Jahrtausends wurde von Wissenschaftlern, die andere starke Ausbrüche in der Kleinen Eiszeit, u.a. des 1258 Unbekannt, des Mount Kuwae 1452 und des Huaynaputina in Peru im Jahr 1600, favorisieren, angezweifelt. Die Diskussion in der Vulkan-Klima-Gemeinde über die relative Stärke von Ausbrüchen im Holozän und in der Kleinen Eiszeit wird mit Sicherheit fortgeführt, und Jahr für Jahr wird es neue Behauptungen und Gegenbehauptungen geben. Im Hinblick auf dieses Buch jedoch, da es nun einmal am Vorabend des zweihundertjährigen Jahrestages des Tambora-Ausbruches steht und auf den im Augenblick verfügbaren wissenschaftlichen Daten basiert – möchte ich den Leser bitten, die Eruption des Tambora als ein tausendjähriges Vulkanereignis zu sehen, das zu den allergrößten zählt, seit die menschliche Zivilisation beim Anbruch des Holozän vor zwölftausend Jahren auf der Bildfläche erschien.

Nach all den Jahren, in denen ich mich mit dem Tambora beschäftigt habe, wenden sich meine Gedanken, wenn ich sein Verhältnis zu anderen Vulkanen abwäge, nicht dem Vesuv, dem Zerstörer von Pompeji, zu, und auch nicht dem 1258 Unbekannt, der angeblich die »Kleine Eiszeit« auslöste, aber genauso wenig dem Krakatau, dem Lieblingsvulkan der Viktorianischen Zeit. Ich denke stattdessen an einen legendären Vulkan mit viel tiefer reichender historischer DNA. Die kataklysmische Eruption des Thera auf Santorini in der Ägäis 1628 v. Chr. wurde mit dem Untergang der minoischen Zivilisation in Verbindung gebracht, mit der Sage von Atlantis und dem Exodus der Israeliten aus dem von Plagen erschütterten Ägypten, von dem die Bibel berichtet.25 Eine respekteinflößende Liste, doch die Geschichte des Tambora wird diese sogar noch übertrumpfen. Die folgenden Kapitel werden die Argumente dafür liefern, dass der Ausbruch des Tambora 1815 ein Ereignis von welthistorischer Bedeutung war, auf derselben Stufe mit der Thera-Eruption vor dreieinhalbtausend Jahren stand und auf gewundenen Wegen vergleichbare Veränderungen für die gesamte Menschheit und das totemistische Denken mit sich brachte.

Vulkanwinter 1816

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