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Der erste Meteorologe

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Jeff Masters, Professor für Meteorologie an der University of Michigan, ist vielleicht der meistgelesene Wetterblogger in den Vereinigten Staaten. In einem langen Posting bezeichnete er im Juni 2011 die Welle an apokalyptischen Stürmen, Überschwemmungen und Dürren in den vorausgegangenen zwölf Monaten in den Vereinigten Staaten und auf dem gesamten Globus als wahrscheinlich turbulenteste planetenweite Serie extremer Wetterereignisse seit 1816.15 Dass Masters, ein herausragender Meteorologe und Historiker unserer eigenen Ära der Klimaverschlechterung, 1816 als Bemessungsgrundlage für globales »Extremwetter« im einundzwanzigsten Jahrhundert betrachtet, macht uns das historische Ausmaß der Unwetter deutlich, die Mary Shelley und ihren talentierten Zirkel in jenem Sommer am Genfer See inspirierten. Und: In den zwölftausend Jahren, seit der Rückzug der Gletscher der menschlichen Zivilisation die Tür aufmachte, haben die Menschen nur selten, wenn überhaupt einmal, ein Wetter wie jenes erlebt.

Die volkstümlichen Schilderungen über die Wetterextreme von 1816 nehmen, vor allem in Europa und Nordamerika, in den Köpfen der Meteorologen breiten Raum ein. Dass die unzähligen Erzählungen vom »Jahr ohne Sommer« eine gewisse statistische Basis in den Temperaturaufzeichnungen haben, ist – zumindest in England – einem Mann mit begründetem Anspruch auf den Titel »Vater der Meteorologie« zu verdanken: Luke Howard, dem gestrengen Quäker aus Tottenham. Mit seiner wegweisenden Veröffentlichung Essay on the Modification of Clouds (Essay über die Veränderung von Wolken, 1803) führte er die grundlegende Wolkenklassifikation – Cirrus, Nimbus usw. – ein, die heute noch in Gebrauch ist. Der Essay regte den deutschen Dichter-Wissenschaftler Goethe zu einem Fanbrief an, während Thomas Forster 1813 »die täglich wachsende Aufmerksamkeit, die dieser Wissenschaft zuteil wird«, Howard zuschrieb.16

Die erste Welle des neuzeitlichen Interesses in Europa für die Meteorologie, mit Luke Howard als Vorreiter, fiel mit dem historisch kalten und bewölkten Jahrzehnt der 1810er Jahre zusammen.17 Von 1807 bis 1819 gab Howard den ersten professionellen Almanach zum britischen Wetter heraus, inklusive detaillierter statistischer Tabellen und ausführlicher Kommentare. Schon in dem Titel Climate of London ist der erste Grundsatz der modernen Klimatologie enthalten: dass das »Klima« das Aggregat von Wetterbedingungen in einer bestimmten Region im Laufe der Zeit und – als legitime Wissenschaft – von vulgärem Klatsch, Anekdoten und Aberglauben zu unterscheiden ist, die sich traditionell um das Wetter ranken (ein Diskurs, der genauso »trüb« ist wie oftmals das Wetter).

Howards Climate of London liefert harte Beweise für die geänderten Wettermuster in ganz Westeuropa, die der Ausbruch des Tambora bewirkte. Bis zur ersten Januarwoche 1816 verzeichnete Howard beinahe täglich »Orkane« und »heftige Wind- und Regenstürme« in London und anderswo. Von Korrespondenten in der Provinz erhielt er Berichte über nie zuvor beobachtete Sturmaktivitäten. Der Winter brachte auch die ersten Anzeichen der historisch kalten Temperaturen, unter denen das Land im ganzen Jahr 1816 und danach leiden sollte. Howard schrieb:

Ich hatte … Gelegenheit, in Tottenham die intensive Kälte des 9.–10. des zweiten Monats 1816 zu beobachten … bei einem Orkan aus Nordosten hatte sich die Feuchtigkeit, die zuvor reichlich vorhanden war, in Schnee niedergeschlagen… So kalt war der Boden am 9. zur Mittagszeit, dass die scheinende Sonne, entgegen ihrer gewöhnlichen Wirkung in unserem Klima, nicht das geringste bisschen Feuchtigkeit im Schnee erzeugte, dessen glänzende Flächen ihre Form behielten und die Strahlen mit all der Brillanz von Tautropfen zurückwarfen.18

Die Tagestemperatur am 9. Februar 1816 stieg nicht über 6,5 °C, sank in der Nacht auf minus 20,5 °C und blieb zwölf Stunden lang auf diesem Wert. Es war ein Kältephänomen, das in höheren Breiten »nicht ungewöhnlich« war, wie Howard anmerkte, für den Süden Englands allerdings wirklich etwas Besonderes darstellte. Die Sonne schien, hatte aber anscheinend ihre wärmende Kraft verloren.

Im Sommer 1816 dann – der so unrühmlich in Erinnerung blieb – setzten sich die Stürme, Orkane und die Kälte fort. Erstaunte Einheimische berichteten von Schneefällen auf dem Gipfel des Helvellyn im Norden Englands im Juli und von fünf Fuß hohen Schneeverwehungen im nördlichen Schottland. Als er zur Zeitung griff, las Howard im Juli Berichte der Marine über Bedingungen auf hoher See, die sich eher nach dem schlimmsten strengen Winter anhörten, etwa »starke Orkane, Schiffe auf festem Land und [der] Verlust von Ankern«. Für die Briten entwickelte sich der Sommer 1816 zu einer regelrechten Wetterkatastrophe: »Aus allen Teilen des Landes hören wir von Schäden, die von den letzten Stürmen verursacht wurden, und Überschwemmungen, die infolge starker Regenfälle zustande kamen.«19

Wie viele begüterte Engländer in jenem Sommer, nutzte Luke Howard die Gunst der Stunde nach dem lang ersehnten Ende der Napoleonischen Kriege, um durch Europa zu reisen, das Touristen zwei Jahrzehnte lang verschlossen gewesen war. Für Howard wurde es ein Arbeits-Urlaub, denn mit seinem Meteorologenblick verblüffte ihn das den Kontinent umfassende Ausmaß der Klimakrise im Jahr 1816:

Von Amsterdam bis Genf hatte ich reichlich Gelegenheit, die Tatsache zu beobachten, dass die exzessiven Regenfälle dieses Sommers nicht auf unsere eigenen Inseln begrenzt geblieben waren, sondern sich in einem großen Teil des Kontinents Europa ereigneten. Von den Quellen des Rheins in den Alpen bis zu seiner Mündung in die Nordsee sowie in einem zwei- oder dreimal so breiten Raum von Ost nach West bestand die ganze Jahreszeit aus einer Abfolge von Stürmen und Überschwemmungen.

Wohin er auch kam, überall sah Howard Dörfer und ganze Viertel großer Städte unter Wasser stehen. Er stieß auf durch Springfluten zerstörte Deiche und zertrümmerte Brücken. Er fuhr an weiten Feldern vorbei, deren Feldfrüchte überflutet waren, andere waren schlicht von Wasserbächen weggespült worden, die gnadenlos in alle Richtungen flossen und die für Touristen in der Sommerzeit so gefällige Geographie des agrarischen Europas in ein den ganzen Kontinent umfassendes Katastrophengebiet verwandelten.

Mit der biblischen Sintflut vor Augen war Howard denn doch verblüfft, als er hörte, dass im Norden, in Skandinavien, Äcker »von der Dürre versengt« lagen und dass in den Kirchen von Danzig und Riga nächtelange Fürbitten um Regen gehalten wurden. Durch die Verschiebung der Niederschläge aus den gewohnten Breitengraden und die Intensivierung des Wetters weltweit brachte der Ausbruch des Tambora in den Jahren 1816 bis 1818 sowohl Fluten als auch Dürren nach Europa, ein Muster, das wir auch noch andernorts auf dem Globus antreffen werden.

Als er durch die Schweiz fuhr, nahm Howard dieselben landschaftlich reizvollen Routen wie Mary Shelley und ihr Freundeskreis. Während Byron und die Shelleys Schauergeschichten austauschten, war Howards professioneller Blick von der erstaunlichen Menge Schnee im Sommer sogar in den tiefen Lagen der Alpen fasziniert:

Ich sah den Schnee vom vergangenen Winter in sehr dicken Schichten liegen, in Senken auf der Bergkette des Jura und auf dem Môle bei Genf, von wo sie gewöhnlich im Sommer verschwinden; und dies zu einer Zeit, da neuer Schnee bereits auf ebendiese Gipfel zu fallen begann.

Nach England zurückgekehrt, berichtete Howard im Herbst 1816 weiter von apokalyptischem Wetter. Am 7. Oktober erlebte er in der Mittagszeit eine »laute Explosion der Elektrizität« – einen Blitzschlag –, der den Boden in Tottenham mehrere Sekunden lang erbeben ließ. »Donner mit lang anhaltenden Schlägen und lebhaften Blitzen« folgten danach noch über eine Stunde lang. Am 6. November hüllte eine dichte Wolke des Tambora-Vulkanstaubs Chester im Westen Englands ein. Gegen Mittag zündeten die Bürger der Kathedralenstadt in undurchdringlicher Dunkelheit Kerzen an und trugen Laternen durch die Straßen. In den folgenden Tagen gab es Hagel, Frost und zwei Fuß hohen Schnee. Dieselben Bedingungen herrschten später in jenem Monat in London, wo Howard eine Mittagstemperatur von minus 16,6 °C notierte und die Kutscher tagsüber wegen der Dunkelheit absteigen mussten, um ihren Pferden mit Laternen den Weg zu weisen.

Das entsetzte Schaudern über die vom Tambora verursachte ungewohnte Witterung war deren unerbittlichen Extremen geschuldet. Am Anfang des zweiten Winters nach dem Vulkanausbruch sammelte Howard immer noch Berichte über Sturmsysteme »einer nahezu beispiellosen Stärke«. Im Dezember führte er nur für Tottenham Hagelunwetter, Orkane mit einem »exzessiven Grad an Heftigkeit« und durch Blitze verursachte Beben auf. Wie dem Maler William Turner fiel auch Howard der ihm bislang unbekannte, erstaunliche Effekt der Aerosolwolke des Tambora auf das Farbspektrum der Atmosphäre auf. Am 27. Dezember, inmitten von Sturmwolken, erschien die untergehende Sonne ihm wie ein zorniger Riese, »feuerrot und stark vergrößert«.

Als das kalte verrückte Jahr 1816 endlich vorbei war, konnte Howard dessen Rauheit auf der Basis harter statistischer Daten beurteilen. Die Ergebnisse müssen sogar diesen sanftmütigen Quäker erschreckt und auf den Gedanken gebracht haben, das sei die Rache Gottes. In den neun Jahren 1807 bis 1815, in denen er die Temperatur beobachtet hatte, – ein bereits unter dem Durchschnitt liegendes Sample wegen der Folgen der Eruption des 1809 Unbekannt – hatte die durchschnittliche Tagestemperatur in London 10 °C betragen. 1816 fiel das Mittel um fast 7 Grad auf 3,3 °C.20 Das »Jahr ohne Sommer« erscheint da doch als Bezeichnung für dieses meteorologische Annus horribilis, das 1816 war, noch allzu milde. Es war eher ein »Jahr ohne Sonne«.

Im Climate of London beschränkt sich das Interesse Howards in den Abschnitten vor der Tambora-Zeit eindeutig auf die kleinräumige Wetterbeobachtung auf den Britischen Inseln und vor allem im Großraum London. Nachdem er das vulkanische Wetter in Kontinentaleuropa aus erster Hand erlebt hatte, achtete Howard allerdings darauf, auch Berichte aus dem Ausland im Auge zu behalten. Sein Almanach von 1817 listet »Hurrikane« in Hamburg und Amsterdam, Hagelunwetter in ganz Frankreich, »exzessive Kälte« in Lissabon und kontinuierliche »Überschwemmungen« in der Schweiz auf. In dem amateurhaften Wetterfan, dessen Horizont sich in den Jahren 1816/17 erweitert hat, erleben wir die Ursprünge der modernen synoptischen Meteorologie, die das Wetter als ein Phänomen begreift, das den ganzen Kontinent umfasst, und nicht nur als Schwankungen lokaler Bedingungen.

In Deutschland war ein anderer aufstrebender Meteorologe, der Universalgelehrte Heinrich Wilhelm Brandes, hinsichtlich der breiteren geografischen Größenordnung des Wetters zum selben Schluss gelangt. Nach dem Trauma des mitteleuropäischen »Betteljahrs« – und ohne Zweifel gedemütigt wegen der durch Fluten zerstörten Deiche, die er selbst an der Weser in Niedersachsen konstruiert hatte – setzte sich Brandes für eine den ganzen Kontinent umfassende Beobachtung von Wettermustern ein. In einem Rückblick auf das katastrophale Jahr behauptete Brandes in einem Brief aus dem Dezember 1816, dass »präzisere Berichte des Wetters, selbst wenn es nur für ganz Europa ist, sicherlich sehr instruktive Resultate ergeben würden. Wenn man von Europa Wetterkarten für alle 365 Tage des Jahres zeichnen könnte, dann würde sich natürlich zum Beispiel zeigen, wo die Grenze der großen regenführenden Wolken, welche im Juli ganz Deutschland und Frankreich bedeckten, verlief.«21 Dementsprechend begann Brandes die ersten Wetterkarten der Welt zu entwerfen und zusammenzutragen, die 1820 veröffentlicht wurden, im gleichen Jahr wie Howards wegweisendes Climate of London.22 Das können Sie intellektuelle Telekonnektion nennen. Die Eruption des Tambora war die Mutter eines globalen Leids in epochalem Ausmaß, gilt jedoch auch als Geburtsstunde der modernen Meteorologie. Der katastrophale Klimawandel führt zu weltverändernden Ideen, aber genauso zu einem globalen Trauma.

Howards Beobachtungen des verrückten Wetters setzten sich das ganze Jahr 1817 hindurch fort. Hagelkörner »so groß wie Haselnüsse« und »Taubeneier« prasselten den Sommer über vom Himmel, während im dritten Jahr in Folge Winterstürme auf die Britischen Inseln mit der Heftigkeit von Jahrtausendereignissen niedergingen, die mit einem epischen Unwetter am 4. März 1818 ihr Ende fanden, das durch den Süden Englands eine Schneise der Verwüstung zog. Dabei wurde auch ein berühmter Baum in Plymouth zerstört; der Zeitungsbericht darüber liest sich fast wie die Blitzschlag-Passage in Frankenstein, der im Monat dieses denkwürdigen Unwetters veröffentlicht wurde:

Die Folgen des letzten Gewitters [waren] die ungewöhnlichsten, die in diesem Land jemals auftraten … Der fragliche Baum ist seit Langem wegen seines Umfangs und seiner edlen Proportionen bewundert worden, da er über 100 Fuß hoch und fast 14 Fuß dick ist; doch es gibt ihn nicht mehr, er wurde buchstäblich durch die elektrische Flüssigkeit in Stücke gehauen. Einige seiner Teile liegen 260 Fuß von der Stelle entfernt, und andere bestreuen den Boden in allen Himmelsrichtungen, sodass alle zusammen eine Szene verwüsteter Vegetation bieten, die einfacher zu imaginieren denn zu beschreiben ist.23

Dann, im nächsten Monat, dem dritten Jahrestag des Tambora-Ausbruches, wütete erneut ein bizarrer Frühjahrssturm über der Umgebung von London; er deckte Dächer ab und brachte Mauern zum Einsturz. In Hampstead Heath – wo Coleridge, Keats, der Maler Constable sowie die Shelleys eine Zeit lang wohnten – wurden Dutzende Bäume entwurzelt.

Die Liste der durch eine Klimaveränderung bedingten Zerstörung nach der Tambora-Eruption zu lesen ist ermüdend und in ihrer Monotonie fast schon langweilig. So viele Bäume umgeknickt und Felder überflutet, so viele die Ernten vernichtende Fröste und Schneefälle. Doch im Gegensatz zum Klimawandel im einundzwanzigsten Jahrhundert, bei dem kein Ende, sondern nur eine unerbittliche Beschleunigung absehbar ist, ging die Tambora-Wetterkatastrophe schließlich vorüber. Im Juni 1818 konnte Luke Howard »klaren warmen Sonnenschein« vermelden, der eine Phase mit dem wärmsten Wetter seit 1808 brachte und »eine Periode der Trockenheit, der seit 1810 nichts gleichkam«. Während er durch die halb ländliche Umgebung von Tottenham streifte, fielen Howard »das tiefere Grün des Laubs und die kräftigere Farbe vieler Blumen« auf.24 Als sich die globale Staubwolke des Tambora verflüchtigt hatte, erschien dies wie eine Auffrischung der Welt. Das satte Grün der Blätter und die Blumen in voller Blüte – fast vergessene alltägliche Freuden – nahmen nun für Howard wieder ihre gewohnte Nische in der hochgeschätzten sichtbaren Welt ein. Im Herbst dann kehrten, von frühen Frösten verschont, die zarte Kapuzinerkresse und die Rosskastanien wie alte Freunde wieder. Was für ein erhebender Anblick muss das für den praktizierenden Quäker, der nach Zeichen für Gottes Gnade Ausschau hielt, gewesen sein.

Vulkanwinter 1816

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