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1.1 Was sind metaphysische Fragen?

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Ich begrüße Sie zur ersten der sechs Vorlesungen mit dem Thema „Metaphysik“. Der Begriff Metaphysik ist vielen vermutlich unbekannt. Es ist kein Schulfach wie die Physik oder andere Fächer, die wir gemeinhin schon in jungen Jahren kennen lernen. Und man verbindet damit oft etwas Esoterisches, vielleicht sogar etwas Unwissenschaftliches. Aber das ist sicherlich nicht der Fall. Die Metaphysik ist der Versuch, auf die allgemeinsten und grundlegendsten Fragen über die Strukturen der Wirklichkeit mit wissenschaftlicher Strenge Antworten zu finden. Die Metaphysik liefert uns sogar Weltbilder, große zusammenhängende Bilder dessen, was überhaupt wirklich ist.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Den Gegensatz zwischen einem „physikalistischen“ wie wir heute sagen, früher hätte man gesagt „materialistischen“ Weltbild, im Vergleich zu einem „idealistischen“ Weltbild. Beide beruhen auf metaphysischen Annahmen. Wir haben sie nicht direkt aus der Erfahrung gewonnen wie die Naturwissenschaften, sondern es ist eine spekulative Gesamtsicht der Wirklichkeit. Der „Materialist“ oder „Physikalist“ sagt, dass die Wirklichkeit letztendlich nur aus materiellen Partikeln oder Teilchen besteht. Und diese unterste Ebene der Materie legt alles andere, was es gibt, fest. Alles andere fährt sozusagen nur Huckepack auf der Verteilung der Teilchen. Dazu gehören auch die Lebewesen, die Personen, die sind nichts anderes als komplexe Anordnungen von solchen Teilchen. Es gibt in der Welt keinen Geist, es gibt keine objektiven Werte, es gibt keinen Sinn und kein Ziel. Die gesamte Wirklichkeit ist eigentlich nur die Bewegung von Teilchen in Raum und Zeit.

Ein idealistisches Weltbild wird dahingegen behaupten, dass die physikalischen Fakten nicht alle Fakten festlegen. Es wird behauptet, dass es nichtphysische und nichtmaterielle Entitäten, also Seiende, gibt und dass wir nicht alles, was es gibt, vor allen Dingen die geistigen Phänomene, auf rein Materielles zurückführen, also reduzieren können. Und es wird weiterhin in diesem Weltbild manchmal behauptet, dass es objektive Werte gibt, dass es Ziele gibt, dass es eine geistige Realität gibt, die wir mit unserer Vernunft erfassen können und die wir nicht direkt sinnlich wahrnehmen können.

Eine bekannte Variante einer solchen Weltsicht ist natürlich die religiöse Weltsicht, wo behauptet wird, dass jenseits des beobachtbaren Kosmos noch eine transzendente Realität existiert, die die Religionen „Gott“ nennen.

Jeder wird zugeben, dass diese Weise, die Welt zu interpretieren, zu den fundamentalsten geistigen Herausforderungen eines jeden intellektuell bewusst geführten Lebens gehört. Jeder Mensch wird sich im Laufe seines Lebens über diese Frage selbst vergewissern und sich fragen: Wie sehe ich das eigentlich? Habe ich eine materialistische Weltsicht oder keine materialistische Weltsicht? Halte ich es für vernünftig, an eine transzendente Realität zu glauben, halte ich das für unvernünftig?

Diese Fragen nach den allgemeinsten Strukturen der Wirklichkeit sind metaphysische Fragen. Und die These der Metaphysik ist es, dass diese Fragen keine reinen Geschmacksfragen sind, sondern dass man mit der großen Geschichte der Philosophie und auf ihr aufbauend Methoden hat und Methoden entwickelt hat, diese Fragen vernünftig und rational anzugehen.

Wir müssen diese Weise des Vorgehens der Metaphysik absetzen von den rein empirischen Fragen, wie wir sie in den Naturwissenschaften zunächst vorfinden.

Die Physik arbeitet mit dem Experiment, der Beobachtung: Die Natur wird befragt, indem ich sie im Experiment um eine Antwort bitte. Einen Test sozusagen durchführe. Die Metaphysik arbeitet nicht mit dieser Methode der Empirie. Ihr nächster Verwandter ist eine Wissenschaft, die Sie alle kennen, weil man in der Schule nicht darum herum kommt, nämlich die Mathematik.

Die Mathematik arbeitet nicht mit der Sinnenerfahrung, also, wie die Philosophen sagen, sie ist nicht a posteriori, sondern sie ist reine Begriffsanalyse oder wie die Philosophen sagen a priori. Ist die Metaphysik eine Geisteswissenschaft?

Das ist eine gute Frage. Oft sagt man, die Philosophie ist eine Geisteswissenschaft. Aber die Unterscheidung von Natur und Geisteswissenschaften macht bei der Philosophie in gewisser Weise wenig Sinn. Warum ist das so?

Die Geisteswissenschaften in ihrer bekannten Form untersuchen normalerweise Produkte des menschlichen Geistes, zum Beispiel die Literaturwissenschaft die Produkte menschlicher Vernunft in der Geschichte einer Kultur, einer Sprache untersucht. Die Philosophie, insbesondere die Metaphysik untersucht nicht einfach Produkte des menschlichen Geistes, das tut vielleicht die Philosophiegeschichte, aber die Philosophie selbst untersucht die Grundstrukturen der Wirklichkeit, auch der Natur. Insofern ist die Metaphysik auch eine Naturwissenschaft. Aber auf eine andere Weise als die Naturwissenschaften wie wir sie kennen, die empirisch arbeiten.

Sie stellt viel allgemeinere Fragen. Zum Beispiel: Welche Arten von Dingen, von Entitäten gibt es überhaupt in der Welt? Gibt es nur solche, die in Raum und Zeit existieren, also Elementarteilchen, Konglomerate aus Elementarteilchen, oder gibt es auch Entitäten, die nicht in Raum und Zeit existieren? Das könnte zum Beispiel der Gegenstand der Mathematik sein. Zahlen, die Idee des Dreiecks oder vielleicht auch Werte. Oder alle anderen Wissenschaften setzen voraus, dass Dinge, Einzeldinge Eigenschaften haben. Keine Wissenschaft, außer der Metaphysik, fragt: Was ist überhaupt eine Eigenschaft? Was ist überhaupt ein Einzelding? Damit werden wir uns in späteren Vorlesungen dieser Reihe noch beschäftigen müssen.

In vielen Wissenschaften spricht man von Möglichkeiten. Zum Beispiel: Etwas ist wasserlöslich. Unter bestimmten Bedingungen, wenn es in Wasser gegeben wird, löst es sich auf. Aber die Naturwissenschaften sagen uns nicht, was überhaupt eine Möglichkeit ist. Die Metaphysik beschäftigt sich damit.

Oder in den Naturwissenschaften beschreiben wir Veränderungen. Normalerweise mit Differentialgleichungen. Aber die Frage ist: Was ist überhaupt Veränderung? Denn wenn sich etwas verändert, muss es ja in bestimmter Weise dasselbe bleiben, sonst hätten wir nicht eine Veränderung, sondern das Auftauchen von etwas völlig Neuem. Und unter anderer Rücksicht muss es sich ändern, sonst haben wir eben einfach nur dasselbe. Wie ist dieses Zusammenspiel von Gleichbleiben, Identität bewahren und die Identität nicht bewahren, neue Eigenschaften zu bekommen, bei Veränderungen zu verstehen? Was ist überhaupt Veränderung? Das wär eine Frage, die die Metaphysik stellt.

Klassisch gesehen hat man neben dieser allgemeinen Metaphysik drei spezielle Metaphysiken unterschieden, oder neben der klassischen Metaphysik gab es diese drei Disziplinen der speziellen Metaphysik, nämlich Gott, Seele und Kosmos. Diejenige, die sich mit Gott beschäftigt, die Metaphysik des Absoluten oder die philosophische Gotteslehre fragt nach der Metaphysik des absolut notwendig Seienden. Die Metaphysik der Person oder der Seele fragt: Was heißt es überhaupt eine Person zu sein? Und dazu gehört auch – das ein eigener Gegenstand dieser Vorlesung– was ist das Verhältnis von Körper und Geist, das Leib-Seele-Problem. Und die Metaphysik des Kosmos ist die Frage nach den philosophischen Problemen, die sich aus der Kosmologie, aus der Astrophysik und verwandter Gebiete ergeben. In dieser Vorlesung werde ich diese spezialen Metaphysiken wenig berühren, außer der Metaphysik der Person. Ich behandle hier primär die Frage: Was sind die allgemeinsten Strukturen der Wirklichkeit? Und ein wenig auch die Frage, was ist unser Platz als Mensch, als Menschen in dieser Wirklichkeit.

Eine eigene Vorlesung in dieser Reihe wird der Frage gewidmet sein: Gibt es Freiheit? Was ist der metaphysische Freiheitsbegriff?

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