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Margarete Gritli Blickensdörfer

1944 in Homburg/Saar geboren. Sie lebte bei ihren Großeltern, bis sie mit der Einschulung zu ihren Eltern und jüngeren Geschwistern in die Pfalz zog. Als sie selbst eine eigene Familie gründete, machte ihr ein weiterer Umzug zu schaffen.

Drei Generationen – drei Erfahrungen mit Krieg

Ich bin bald 70 Jahre alt, lebe die meiste Zeit meines Lebens in friedlichen Zeiten, hier, in Deutschland. Seit vielen Jahren bin ich Mitglied einer kirchlichen Friedensgruppe: im Mennonitischen Friedenszentrum Berlin, MFB. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir, die wir in einem demokratischen Land, im Europa des einundzwanzigsten Jahrhunderts leben, alles tun müssen, um Frieden zu bewahren. Das heißt für mich, in der kleinsten „Zelle“, der Familie und in der Nachbarschaft bereits anfangen, friedlich miteinander umzugehen. UND: NIE WIEDER KRIEG!

Ich möchte berichten, wie mich selbst die beiden letzten Weltkriege als Kind „gestreift“, meine Kinderseele belastet haben. Als werdendes Kind, im Mutterleib noch, zog ich mit meiner Mutter über Land, um Essbares zu beschaffen von Bauernhöfen des Saarlandes und aus „dem Reich“(so wurde Großdeutschland damals genannt). Meine Mutter marschierte weite Strecken, nahm einen Zug, wenn einer fuhr. Einmal musste sie sogar mit einem Boot einen Fluss überqueren, der als Grenze galt zwischen einer englisch besetzten und ihrer, der französisch besetzten Zone. Sie hatte erfahren, dass sie dort zwei Ziegen kaufen könne. Die Reise war beschwerlich, das Verhandeln bzw. „Fuggern“, wie es dort hieß, dauerte lang, doch letztlich konnte sie mit ihren beiden Ziegen und den streng kontrollierten Frachtpapieren auf dem Boot Platz nehmen. Ihre Nerven hatten sich nach dem Verladen der beiden störrischen Ziegen langsam wieder beruhigt, als sie gerade noch den letzten Schnipsel Papier im mahlenden Maul einer der beiden Ziegen entdeckte. Zu spät! Die Papierschnipsel stammten von den Frachtpapieren! Ziegen knabbern alles, schlucken fast alles! Auch wichtige Dokumente, die sie „als gekauft“ und nicht „als gestohlen“ auswiesen. Trotzdem schaffte es meine Mutter, sie nach Hause zu bringen. Diese beiden Ziegen, d.h. die Milch, die sie täglich für die werdende Mutter, wie für meine Großmutter gaben, waren sehr wichtig für uns drei!

Vertraute Männer gab es zu der Zeit nicht im dreistöckigen Haus! Im Erdgeschoss lebte eine ängstliche kinderlose Frau, deren Mann „als vermisst“ galt, so, wie mein Vater ebenfalls damals vermisst war. Meine Mutter hatte ihre Wohnung im dritten Stock, hielt sich jedoch die meiste Zeit bei ihrer Mutter, in der Mitte des Hauses auf. Sie gaben einander Halt in den schweren Zeiten des tobenden Zweiten Weltkrieges, rieben ihre verschiedenen Charaktere aneinander. In lauten Disputen „unterhielten“ sie sich manchmal und trockneten hernach vergossene Tränen der Reue.

Hinter dem großen Haus bepflanzten sie einen Gemüsegarten, am äußersten Ende „wohnten“ die oben genannten Ziegen in einem kleinen Stall. Außer den Ziegen gab es zwei Kaninchen, sowie freilaufende Hühner, die Eier lieferten. Einen Gockel gab es auch! Wenn die Tiere genügend gefüttert worden waren, vertrieben sie mit ihren Erzeugnissen Hunger und Not. Ich, im Bauch meiner Mutter, profitierte als „persona incognita“ mit! Mir ging es gut – zumindest, was die Ernährung anging!

Die Ängste, die immer wieder ausgehalten werden mussten, und die tiefe Trauer wegen des Todes zweier sehr junger Söhne meiner Großmutter bzw. Brüder meiner Mutter, bedrückten die Seelen der tapferen Frauen sehr. Das Bangen um den Ehemann, der irgendwo in Gefangenschaft oder gar verschwunden war, die ganz direkt bedrohlichen Erlebnisse – all das spürt ein sich entwickelndes Kind genauso mit. Wie seine Mutter mussten alle Frauen tapfer sein! Auch die nächtlichen Bombenangriffe auf die Stadt oder die Evakuierungen in weniger gefährdete Landstriche mussten viele erdulden. Die Flucht in fremde Gegenden, in denen sie als „Flüchtlinge“ galten, blieb Mutter und Großmutter zum Glück erspart!

Ich kam am 13. August 1944, einem Sonntagmorgen, zur Welt. In der Universitätsklinik Homburg/Saar. Bis kurz zuvor hatte meine Mutter dort als Krankenschwester ab und zu gearbeitet. Nach der Geburt packten Helferinnen mich mit anderen Säuglingen in einen großen Wäschekorb und brachten die „wertvolle Fracht“ in den Luftschutzkeller der Klinik. Meine gerade schlafende Mutter ließen sie in der Aufregung zurück. Ein Drama gab es, als meine Mutter aufwachte und um mich Angst bekam!

Nach einigen Tagen holte uns meine Großmutter nach Hause. So wuchs ich als dritte Generation Frauen heran. Meine Mutter bekam irgendwann Nachricht von meinem Vater, „getürmt“ aus den Fängen des Feindes. Er musste sich jedoch noch mit Briefen aus der Feder meiner Mutter begnügen – erst viel viel später durfte er zum Fronturlaub nach Hause, um seine Ehefrau und sein erstes Kind zu begrüßen.

Nach dem Krieg, inzwischen war das Jahr 1947, wollte sich mein Vater als Arzt niederlassen. Das wurde ihm nicht gestattet, da das Saarland zu der Zeit unter französischer Verwaltung stand, mein Vater als Deutscher galt und deshalb keine Praxis eröffnen durfte. In der angrenzenden Pfalz fand er schließlich eine verwaiste Arztpraxis in einem Dorf. Die dortige Verwaltung erlaubte ihm die Niederlassung als praktischer Arzt. Meine Eltern verzogen mit meiner inzwischen geborenen Schwester nach Rheinland-Pfalz, quasi ins Ausland.

Mich ließen sie zurück in Homburg, bei meinen Großeltern. Das empfand ich zunächst als großen Verlust: kleine Schwester weg, Mama weg und der noch kaum vertraute Vater auch schon wieder weit weg! Kinder trösten sich. Ich tröstete mich, da mir meine Großmutter ja blieb! Großvater ging sechs Tage in der Woche zur Arbeit, von morgens bis abends war ich mit Oma alleine in der Wohnung, im Garten, auf dem Markt beim Einkaufen. Klingt alles heil und gut, war es aber nicht!

Oma wollte mich ganz, sie ließ mich nicht zu anderen Kindern, aus Angst, mir passiere etwas. Den Tod ihrer beiden Söhne konnte sie nicht verwinden, ihr Mann konnte oder wollte nie mit ihr darüber sprechen. So „erlebte“ i c h durch sie immer wieder den Schrecken, den sie mir durch ihre Erzählungen nahebrachte. Sie erzählte mir auch Märchen, sang mit mir Lieder. Sie sang gut, sie konnte auch Gedichte und Balladen. Aber sie erzählte auch immer wieder „Kriegsgeschichten“! Wenn ich fieberte, musste ich das Gehörte ganz grauenvoll nacherleben: Dann sah ich „Tannenbäume am Himmel“, Vorzeichen kommender Fliegerangriffe! Feuer, Feuer... und erwachte schreiend oder wimmernd.

Meine Großmutter hatte keine Therapie bei einem Arzt oder einem Therapeuten! Sie prahlte sogar, dass sie nie einen Doktor brauche, dass sie sich immer mit „Hausmitteln“ helfen könne. So sah ich auch nie einen Kinderarzt, selten meine Eltern. Die waren sehr mit ihrer Arbeit und dem weiteren Kindersegen beschäftigt. Ihre Älteste beklagte sich nie am Telefon, wünschte sich nie, zu ihnen und den Geschwistern zu gelangen. Es ging ihr ja gut! Und Oma wurde über den Verlust ihrer Söhne getröstet, abgelenkt und beschäftigt durch das heranwachsende Kind.

Als viele Jahre später meine Seele erkrankte, ich nach und nach in eine schwere Depression abglitt, wusste ich lange Zeit nicht, wo die Ursache für die Erkrankung zu suchen war. Erst mit Hilfe von Psychologie wurde mir selbst klar, dass auch ich ein Opfer von Krieg und Schrecken geworden bin. Die enorme Vorstellungskraft eines kleinen Kindes bzw. meine junge Seele konnte die Kriegsfolgen nicht verkraften.

Heute empfinde ich mich als geheilt. Gott sei Dank!

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