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Hunger und etliche Diebereien

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Wir hatten nach dem Krieg unser ganzes Haus voller Flüchtlingsfamilien, mit Kindern, die auf die verschiedenen Zimmer des Hauses nach bestem Vermögen verteilt waren. Da das Haus ursprünglich nur für eine – wenn auch große – Familie ausgerichtet war, war es mit dem Kochen schwierig; denn alle Familien mussten in der großen Küche meines Elternhauses kochen. Das ging nur im Schichtdienst.

Schwierig war auch die Toilettenfrage; denn es gab in der großen Eingangsdiele eine geräumige Gästetoilette und im Küchentrakt des Hauses eine weitere kleine. Im ersten Stock gab es ein sehr großes Badezimmer mit Toilette und zwei weitere einzelne Toiletten. Es gab aber in allen Schlafzimmern kein fließendes Wasser, sondern Waschtische, auf denen wunderbare mit bunten Blumen bemalte Waschschüsseln und Wasserkannen aus Porzellan standen. Wie das damals mit so vielen fremden Menschen – es waren insgesamt sechs Flüchtlingsfamilien, alle mit vier bis sechs Personen – überhaupt geklappt hat, weiß ich heute nicht mehr.

Ich erinnere mich vor allen Dingen an die vielen Kinder, die mitgekommen waren, so dass ich an Spielgefährten keinen Mangel hatte. Als Einzelkind hatte ich mir immer Geschwister als Spielgefährten gewünscht und nun war in kurzer Zeit das ganze Haus voll davon, und ich fand es herrlich.

Mein Großvater funktionierte unseren riesigen Garten, der mein Elternhaus umgab, zu Kartoffel- und Gemüsegärten um, so dass jede Familie einen eigenen Garten zugewiesen bekam, in dem sie anpflanzen konnte, was sie wollte. Rasenflächen und gepflegte Kieswege, wie vorher, gab es damals nicht mehr. Lediglich Bäume durften nicht gefällt werden, um etwa Platz für Ackerflächen zu schaffen. Die Flüchtlinge kamen teilweise aus dem Osten, aber auch aus der schwer zerstörten nahegelegenen Stadt Bremen.

In dieser schweren Zeit war es meinem Großvater gelungen, von einem Bauern in der Nachbarschaft ein Schwein zu organisieren, das in der Waschküche zerlegt und portioniert wurde. Es wurde gemeinsam eingekocht, in Gläser gefüllt, gepökelt und geräuchert oder zu Würsten verarbeitet. Alle Hausbewohner waren glücklich; denn es besserte das tägliche Gemüse- und Kartoffeleinerlei auf.

Eines Morgens kam meine Großmutter zusammen mit einer Ostpreußin völlig entsetzt aus dem Keller: der Vorratsraum, in dem das Fleisch in Gläsern und die Würste aufbewahrt wurden, war leer. Das Problem wurde im ganzen Hause lebhaft diskutiert; denn es konnte schließlich nur ein Mitbewohner gewesen sein, da es keine Einbruchsspuren von außen gab und kein Fremder so einfach ins Haus gelangen konnte. Der Täter wurde nie gefunden.


Gerda mit ihrer Mutter

In unserem Hause wohnte zu der Zeit auch eine Familie aus Oberschlesien, die von den umliegenden Bauernhöfen die Schafswolle aufkaufte. Frau Jacziewski, so hieß die Familie, spann die Wolle, wusch und trocknete sie und fertigte daraus wunderbare Pullover, Jacken und Socken an. Solch eine weiß-braune Schafwolljacke ist mit mir durch meine ganze Kindheit gegangen, sie wuchs einfach mit. Einmal hatte Frau Jacziewski große Mengen frisch gesponnener und anschließend gewaschener Wolle auf die Wäscheleine zum Trocknen gehängt. Da es Sommer und sehr warm war, ließ sie die noch nasse Wolle über Nacht auf der Leine draußen hängen. Am nächsten Morgen war die gesamte Wolle verschwunden. Die mühsame Spinnarbeit vieler, vieler Tage war umsonst gewesen. Die Wolle tauchte nie wieder auf, und auch ein Dieb war nicht zu ermitteln.

Da es nach dem Krieg ja so wenig zu essen gab, hatten alle Familien unseres Hauses außer den Gartenflächen auch Hühner, die frei herumliefen, und vor allen Dingen Kaninchen als willkommene Fleischlieferanten. Von einer Familie bekam ich ein Kaninchen geschenkt, und der Mann baute mir sogar einen eigenen Stall auf vier hohen Holzbeinen auf. Mein Kaninchen war einfarbig grau und durch das viele Anfassen und Streicheln von mir ganz zahm und zutraulich. Eines Morgens, als ich mein Kaninchen füttern wollte, war der Stall leer. Ich war entsetzt und prüfte all die vielen anderen Ställe der Kaninchen der Hausbewohner, aber es war nirgends. Ich habe furchtbar geweint und immer nur gedacht, dass mein Kleines gestohlen und geschlachtet würde, wie all die anderen Kaninchen auch. Das ganze Haus tröstete mich und man versprach mir ein neues, sobald ein neuer Wurf alt genug wäre. Aber ich wollte kein neues Kaninchen mehr. Dann geschah das Unglaubliche: Eines Morgens saß mein Kaninchen wieder in seinem Ställchen. Es war unzweifelhaft meines; denn es war einfarbig grau, zahm und hörte auf seinen Namen. Ich konnte vor Glück gar nicht aufhören zu weinen. Auch in diesem Falle hat sich nie herausgestellt, wo es gewesen war und wer es mir – vielleicht gerührt durch meine Trauer – wiedergegeben hatte.

In meiner Erinnerung war es eine wunderbare Zeit, als unser Haus so voll war. Ich war nie alleine. Bemerkenswert fand ich in späteren Jahren, dass auch meine Familie das überquellende Haus nicht nur lästig, sondern auch als Bereicherung empfunden haben muss; denn mit allen Flüchtlingsfamilien – bis auf eine – blieben die Kontakte auch nach deren Auszug aus unserem Haus bestehen. Ich selbst war tief gerührt, als so viele der damaligen Flüchtlinge bei den Beerdigungen meiner Urgroßmutter und Großeltern in den folgenden Jahrzehnten anwesend waren.

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