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Kriegsende – wirklich das Ende des Krieges?

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Jahrgang Oktober 1945, das bin ich. Der Krieg mit seinen Schrecknissen war zum Zeitpunkt meiner Geburt schon fünf Monate vorbei. Und so ist der erste Gedanke, der in mir hochschießt: „Was hab ich mit dem Krieg zu tun?“ Der zweite Gedanke, der sofort darauf folgt: „Nachkriegszeit? Was habe ich mit ihr zu schaffen? Da war ich doch viel zu klein, um irgendetwas bewusst wahrzunehmen!“ Doch die Frage nach den Auswirkungen setzt sich fest, krallt sich in meine Gedanken, lässt mich nicht mehr los. Haben der 2. Weltkrieg oder die Nachkriegszeit tatsächlich keinerlei Spuren in mir hinterlassen?

Ich mache mich auf Spurensuche. Ich trage zusammen, was ich über diese Zeit weiß. Als erstes fällt mir auf, dass meine Mutter sehr wenig aus dieser Zeit erzählt hat. Nur wenn ich sie explizit danach fragte, gab sie mir einige kurze, sachlich gehaltene Informationen. Bei jeder Frage über ihr Leben während des Krieges und der Zeit danach stieg immer wieder das Gefühl in mir auf, dass ihr derartige Fragen unangenehm waren. Sie wich aus und antwortete – wenn es nicht anders ging- ohne ihre Gefühle zu zeigen. So versiegte mein Fragen. Ich habe es hingenommen, da auch in der Schule mir ein ähnliches Schweigen entgegenkam.

Wir Kinder aber spürten unbewusst trotzdem die geheime Trauer und Angst unserer Eltern, ihren Schmerz, ihre Scham oder ihre unausgesprochene Verzweiflung. Dieses Unbekannte, Nicht-Greifbare machte uns Angst – eine Angst vor Dingen, die wir nicht selbst erlebt hatten, sondern stellvertretend für unsere Eltern erlebten. Oft mussten wir stark sein für unsere verletzten Eltern.

Und waren selbst verletzt. Der Psychiater Florian Holsboer sagte: „Traumata sorgen nicht nur für Narben in der Seele, sondern auch für Narben im Erbgut.“ Ich gehe dieser Spur nach. Mitten im Krieg wurde ich gezeugt. Das Durcheinander des Krieges hatte meine Eltern zusammengebracht. In Friedenszeiten wären sie sich sicher nie begegnet.

Ich lebte in meiner Mutter im Sudetenland, einem Land, dessen deutschsprachige Gebiete 1938 von Hitler annektiert wurden. Die Tschechen wurden vertrieben und ermordet. Der Hass auf die Deutschen stieg. In dieser Zeit begann meine Menschwerdung. Ab der 15. Schwangerschaftswoche konnte ich schon Ärmchen und Beinchen bewegen. Ab der 20. Woche fing ich an zu hören. Was hörte und spürte ich? Bombenangriffe, Granateneinschläge, Flakabwehr, Schreie der Verwundeten und Verschütteten, Zusammensturz von Häusern, prasselnde Feuer und angsterfüllte Dunkelheit. Was erlebte ich durch meine Mutter? Todesgefahr, Angst, Hunger, Entsetzen vor Tod und Verwüstung, vor Brutalität; Auflösung der bisherigen Werte, Bespitzelung durch die Umwelt, ohnmächtiges Ausgeliefertsein, panische Angst vor den näher rückenden Russen, unaufhörliches Gefühl von existentieller Bedrohung.

Die heutige Neuropsychologie würde in einer solchen Situation von einer permanenten Ausschüttung von Stresshormonen bei der Mutter sprechen, die im späteren Leben zu einer erhöhten Anfälligkeit ihres Kindes für Druck und Belastung führt, oft verbunden mit „unerklärlichen“ Angstattacken, Herz-, Atem- und Kreislaufproblemen. Dinge, die mir in der Tat bekannt sind.

Meine Mutter entschloss sich zu fliehen, gab alles auf. Sie ließ alles zurück, was ihr wichtig geworden war, und versuchte – nur mit einem Rucksack auf dem Rücken – in den Westen, in eine ungewisse Zukunft zu flüchten. Sie erlebte den Kampf um das Einsteigen in übervolle Züge, das Recht des Stärkeren, das Alleinsein. Immer wieder blieb der Zug auf freier Strecke stundenlang stehen. Die Bombardierung der Züge, in denen sie saß oder aus denen sie flüchtete, ließ sie ständig den Atem des Todes spüren. Zwischendurch hielt der Zug, um die Leichen verstorbener Kinder oder an Erschöpfung gestorbener alter Leute auszuladen. Manchmal schlug sie sich kilometerweit zum nächsten Bahnhof durch, um wieder in einen einsatzbereiten Zug steigen zu können. Über 1000 Kilometer Weg – eine von Existenzangst durchtränkte Ewigkeit.

Sie erreichte das Rheinland, suchte nach einer Bleibe in der vom Krieg total zerstörten Stadt Köln: abertausend Ruinen, durch Trümmer verschüttete Straßen, Hunger, Armut – ein grausamer Überlebenskampf erwartete sie.

Zum Zeitpunkt meiner Geburt wanderte sie durch die Stadt, um ein Krankenhaus zu finden, in dem sie entbinden konnte. Aber „es gab keinen Raum in der Herberge“. Hochschwanger klopfte sie vergeblich an Krankenhauspforten. Niemand nahm sie auf. So irrte sie kilometerweit. Dann endlich kam ich auf die Welt. Eine Nottaufe fand statt, da es nicht sicher war, ob ich überleben würde. Aber ich überlebte, und meine Mutter brachte sich und mich sicher nach Hause.

Ich trank nicht genug. Meiner Mutter fiel das nicht auf, da sie felsenfest davon überzeugt war, dass Kinder instinktiv so lange essen, bis sie satt sind. Es war ihr unvorstellbar, dass ein Säugling nicht genug trinkt, obwohl genügend Milch vorhanden war. Ich kam schließlich wegen lebensbedrohlicher Unterernährung in ein Krankenhaus. Dort erfuhr ich mein erstes Alleinsein, denn meine Mutter durfte und konnte nicht bei mir bleiben.

Als ich ein Jahr alt wurde, gab sie mich in ein Kinderheim. So konnte sie in dieser äußerst schwierigen Nachkriegszeit – ohne die Belastung durch mich – Geld für unseren Lebensunterhalt verdienen.


Im Kinderheim

Sie war sich sicher, dass ich im Kinderheim genügend zu essen und eine gute Betreuung bekam. Für mich aber bedeutete es die zweite Trennung von meiner Mutter in meinem jungen Leben. Wie oft stand ich als kleines Kind am Gittertor des Kinderheims und schrie und weinte nach meiner Mutter, wenn sie mich nach einem Besuch wieder einmal im Heim zurückließ. Dieses Zurückgelassenwerden, dem ich viele Jahre hilflos ausgeliefert war, hat mein späteres Leben lange Zeit geprägt.

Irgendwann nach meinem sechsten Geburtstag holte mich meine Mutter wieder zu sich. In der Folgezeit erinnere ich mich an immer wiederkehrende Sprüche wie: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz!“ oder „Stell dich nicht so an!“ oder „Mach nicht so ein Theater!“ Diese Worte trafen mich schmerzlich in Situationen, in denen ich Trost und emotionales Mitschwingen gebraucht hätte. Ich war hingefallen oder meine Puppe hatte ihr Bein verloren. Ich wollte getröstet und in den Arm genommen werden. Diesen Trost erhielt ich aber nicht. Und so lernte ich bald, keine Gefühle zeigen zu dürfen. Es war nicht richtig, zu weinen oder zu klagen. Man musste funktionieren, ohne eigenen Gefühlen Bedeutung zu geben oder sie gar zu zeigen. Auch der Austausch von positiven Gefühlen oder Zärtlichkeiten war äußerst selten und schamhaft besetzt. Auch das lernte ich schnell.


Endlich Schulkind

Und so haben meine Mutter und ich nie über unser Innerstes, unsere Empfindungen miteinander gesprochen. Wir haben uns voreinander abgekapselt; jeder machte seine Probleme mit sich selbst aus und behielt seine Gefühle für sich. Die für meine Mutter überlebenswichtige Verleugnung der Gefühle, der lebensnotwendige Selbstschutz, um die traumatischen Erlebnisse des Krieges überstehen zu können, hatte sie an mich weitergereicht.

Erst viel später wurde ich mir dieser unterdrückten Emotionalität bewusst. Eines Tages fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Zuneigung kannst du weder zeigen noch verbalisieren. Auch körperliche Zuwendung ist dir fremd. Du kannst sie weder geben noch empfangen. Sogar noch heute passiert es mir manchmal, dass ich kämpfen muss, diese innere Sperre zu überwinden. Ich spüre plötzlich Scham, wenn ich meine erwachsenen Kinder umarme, obwohl ich sie liebe. „Lass dich nicht so gehen! Mach nicht so ein Theater!“ hallt dann eine Stimme in mir.

Dazu kam noch eine unbewusste Wut auf meine Mutter. Uneingestanden brannte sie in mir und errichtete eine weitere unsichtbare, undurchlässige Mauer zwischen uns. Das Gefühl des Abgeschoben-Worden-Seins erstickte jede Nähe und tiefes Vertrauen. Die Unterbringung in dem Kinderheim war kriegsbedingt, aber von mir emotional lange Zeit als Ablehnung verstanden worden.

Ich forsche weiter. Welche Wesensarten oder Verhaltensweisen hat meine Mutter an mich weitergereicht? Ich lausche in mich hinein. Gibt es da weitere Sprüche, die sich tief in mich eingegraben haben? „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!“ „Mit Essen spielt man nicht!“ Die Angst vor dem Hunger, der Mangel an Essen während des Krieges und der Nachkriegszeit hatte diese Haltung bei meiner Mutter entstehen lassen. Sie wurde an mich weitergegeben. Ich kann mich noch gut erinnern, wie verkommen und schuldig ich mich fühlte, als ich eines Tages eine halbe, vertrocknete Brotschnitte heimlich in den Mülleimer warf. Auch heute in der Überfülle des Wohlstands ist es für mich immer noch sehr schwierig, Essen wegzuwerfen.

Ich habe auch einen Drang zum Hamstern von Lebensmitteln. Es ist für mich unabdingbar, dass immer ein bestimmter Vorrat an lebenswichtigen Esswaren im Haus sein muss, obwohl ich sie heutzutage fast zu jeder Zeit in einem Geschäft kaufen kann.

In unserem Haus fehlte der Vater, wie bei so vielen anderen Kindern meiner Generation. 2,5 Millionen deutscher Kinder waren durch den Krieg Halbwaisen, 100.000 zu Vollwaisen geworden. Die Vaterlosigkeit spielte in meinem Leben eine wichtige Rolle. Zunächst war ich mir dessen nicht bewusst. Ich wuchs auf mit der Gewissheit, dass mein Vater im Krieg gefallen war, und der Erfahrung, dass das Thema „Vater“ tabuisiert war. Ich fragte nicht nach ihm, ich traute mich nicht, über ihn zu sprechen. So verdrängte ich ihn und die Folgen der Vaterlosigkeit aus meinem Bewusstsein.

Dann aber, erst vor wenigen Jahren, wurde dieses Tabu durch einen nicht vorhersehbaren Zufall durchbrochen. Ich erfuhr, dass mein Vater noch lebte. Plötzlich stand die Frage nach einem Vater, meinem Vater, im Raum; ich konnte und wollte ihr nicht mehr ausweichen. Plötzlich wurde ich mir der Leere in mir bewusst. Ich fühlte mich irgendwie halbiert. Die eine Hälfte von mir, die Mutter, war mir bekannt. Sie konnte ich jeden Tag erleben. Aber die andere Hälfte, die mich auch ausmachte, lag im Dunkeln. Wer war mein Vater? Wie war mein Vater? Bestehen Ähnlichkeiten zwischen ihm und mir? Die kärglichen Informationen, die ich von meiner Mutter erhalten hatte, halfen mir wenig, das schwarze Loch, das ich immer stärker spürte, zu füllen. Ich wusste nichts über meinen Vater, ich wusste aber auch nicht, wie es sich anfühlt, einen Vater zu haben. Ich hatte Schwierigkeiten, meine Identität zu finden. Das machte mich oft tieftraurig.

Der fehlende und unbekannte Vater bestimmte für eine lange Zeit meine Beziehungen zu Männern. Ich unternahm im Laufe meines Lebens mehrere Anläufe, diese Leere und dieses Verlustgefühl zu verändern.

Bei meinen Versuchen, meine im Alter immer stärker werdenden psychosomatischen Auffälligkeiten zu lindern, habe ich einen Mangel an Selbsteinfühlung und die Gefühlsferne in Bezug auf eigene Empfindungen festgestellt. So war ich lange Zeit nicht in der Lage zu sagen, wie ich mich fühlte und was ich mir wünschte. Ich fühlte mich nicht. Ich war mir fremd. Hinzu kam, dass ich nur sehr schwer über mich sprechen konnte. Deshalb blieb ich mir und auch den anderen fremd und erlebte oft das Fremd-Gefühl anderen Menschen gegenüber. Ich erinnere mich noch gut daran, wie verzweifelt ich einst war, als ich auf die Frage: „Wie kann Selbstliebe aussehen?“ keine Antwort zu geben wusste. Ich wusste es tatsächlich nicht. Ich wusste zwar genau, was Pflichterfüllung, was Verantwortlichkeit für andere war, aber was Selbstliebe war, davon hatte ich keine Ahnung.

Betrachte ich heute zurückblickend die mir bewusst gewordenen Auswirkungen des Krieges, so denke ich, dass viele von ihnen ihre Ursache in der Traumatisierung meiner Eltern haben. Wie sollte meine Mutter, deren Welt zusammengestürzt war, die tagtäglich dem Tod gegenüber gestanden und die in ihrem Leid erstarrt war, sich in die Situation und die Gefühlslage ihres Kindes hineinfühlen können? Sie kannte sich nicht einmal selbst. So verleugnete meine Mutter ihre inneren Nöte und ihren inneren Kummer, sie verdrängte ihre Gefühle und Wünsche. Sie war nicht in der Lage, sich selbst und ihr Schicksal zu betrauern und ihre schrecklichen Erlebnisse mitzuteilen. Und so gab sie unausgesprochen und unbewusst ihre Verletzungen und ihre psychischen Folgen an mich weiter und es entstand ein Zustand, den ein anderes Kriegskind einmal so ausdrückte: „Ich trage einen Schmerz, der meiner, aber doch nicht meiner ist.“ (B. Alberti, Seelische Trümmer, S. 22, Kösel, 2010)

Wenn ich zudem daran denke, dass meine Mutter, die als Erwachsene den 2. Weltkrieg erlebte, selbst ein Kriegskind des 1. Weltkrieges war, dann wird mir klar, dass sie emotionale und körperliche Nähe, emotionale Sicherheit, emotionale Verlässlichkeit und Bindungsfähigkeit nicht weitergeben konnte. Wie sollte sie als zweifach Traumatisierte die Kraft und die Fähigkeit dazu haben? Sie konnte ihre Zuneigung allein durch materielle Versorgung zeigen – in Form von Essen, Trinken, Haus und Geld.

Als Nachkriegskind, das den zwei vorherigen Kriegsgenerationen entsprossen ist, habe ich viel mehr „Altlasten“ zu tragen, als es mir vorher je bewusst gewesen ist.

Ich weiß, dass ich selbst die Verantwortung für mein Leben übernehmen muss. Ich kann nicht die vorherige Generation dafür verantwortlich machen. Mir geht es darum, die Verletzungen, die verunsichernden Erfahrungen in meiner Kindheit, meine früh erlernten Verhaltensmuster aufzudecken und mein Erleben ihnen gegenüber zu verändern. So kann ich die lange Familienkette der Verdrängungen und die Weitergabe an meine Kinder und Enkel durchbrechen.

Dem Neuen entgegen leben

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