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Deutsche Ahnensuche in ukrainischen Archiven

von Oksana Grytsenko

Backsteinhäuser unter Ziegeldächern, farbenfrohe alte Fabrikgebäude, Gräber mit lateinischen Inschriften – diese Überreste deutscher Gemeinden finden sich in vielen ukrainischen Städten und Dörfern, obwohl dort fast keine Deutschen mehr leben. Für viele Nachkommen ukrainischer Deutscher sind diese alten Gemäuer jedoch kostbar.

Irina Peter erinnert sich, dass sie bei ihrem Besuch in Gottliebsdorf, einer deutschen Siedlung bei Korosten in der Oblast Schytomyr, dem Heimatort ihrer Vorfahren, ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. „Ich musste weinen, als wenn ich all die Tränen vergösse, die meine Großeltern nicht vergießen durften, als sie 1936 deportiert wurden“, sagt sie. Geboren wurde Irina Peter in Nur-Sultan (ehemals Astana), der Hauptstadt von Kasachstan. Dorthin mussten ihre Großeltern zwangsweise migrieren, da der sowjetische Diktator Josef Stalin in Erwartung eines Krieges mit Nazideutschland die Umsiedlung der Deutschen angeordnet hatte, die nahe der westlichen Grenze der Sowjetunion lebten. Peters Familie lebte seit dem 19. Jahrhundert im Gebiet der heutigen Oblast Schytomyr, die früher zum Gouvernement Wolhynien gehörte. Sie waren deutsche Lutheraner, aus Ostpreußen über Polen gekommen und in der Landwirtschaft tätig.

Nach Daten der letzten Volkszählung von 2001 gibt es in der Ukraine 33 300 Deutsche, nur einen winzigen Bruchteil der Zahlen einiger Jahrzehnte zuvor. Die Volkszählung 1939 zeigte, dass allein in der sowjetischen Ukraine mehr als 627 000 Deutsche lebten. Die meisten von ihnen wurden jedoch in den darauffolgenden Jahren nach Zentralasien oder Russland deportiert, ohne die Erlaubnis zurückzukehren.

Irina Peter, die 1992 nach Deutschland ausgewandert war, bemühte sich jahrelang so deutsch wie möglich zu sein. Angeregt durch die Geschichten, die ihre Großmutter Olga über das wunderschöne Wolhynien erzählte, begann sie jedoch, die Vergangenheit ihrer Familie zu erforschen. Im Jahr 2018 besuchte Peter schließlich die Ukraine und erforschte in Schytomyr ihre Familiengeschichte in den freigegebenen Archiven des KGB, der ehemaligen sowjetischen Geheimpolizei. Dort stieß sie auf die Einbürgerungsurkunde ihres Ururgroßvaters.

Die Archive in der Ukraine sind seit 2015 vollständig für die Öffentlichkeit freigegeben und enthalten nach Angaben von Heimatforschenden die umfangreichsten frei zugänglichen Informationen über die sowjetische Geheimpolizei in Europa. Später gewährten die Behörden außerdem Zugang zu den Archiven der sowjetischen Polizei, der Gefängnisse und der Staatsanwaltschaft. Ein Großteil der sowjetischen Militärarchive wurde ebenfalls öffentlich zugänglich gemacht.

Schwarzmeerdeutsche

In Odesa, einer Hafenstadt am Schwarzen Meer, recherchiert Oleksij Köhler über ortsansässige Deutsche in historischen Dokumenten, die er aus den dortigen Archiven kopiert. Er unterstützt auch andere Menschen bei der Suche nach Unterlagen über ihre deutschen Vorfahren.

„Manchmal finde ich eine einzelne Karte im Archiv und – beruhend darauf – findet dann jemand Unterlagen über ungefähr fünf bis sieben Generationen seiner Vorfahren“, so Köhler. „Dann finden Leute die genauen Namen in Kirchenbüchern und können die Geschichte ihrer Familie aufschreiben oder ihre deutschen Wurzeln nachweisen.“

Köhler durchsucht seit den 1990er-Jahren die Archive; damals leitete er einen orts-

ansässigen deutschen Heimatverein (die deutsche Gebietsgesellschaft „Wieder-

geburt“). Er konnte in den Archiven die Geschichte seiner Familienmitglieder auf-

stöbern, deutsche Siedler und Siedlerinnen, die aus dem heutigen Baden-Württemberg ins Russische Reich gekommen waren. „Vor einigen Jahren stieß ich auf die

Ausweisnummer meines Urgroßvaters Carl Köhler. Er kam 1809 in die Ukraine und lebte in einer Kolonie namens Sulz im Gebiet der heutigen Oblast Mykolajiw“, sagte er.

Russische Zaren hatten die Deutschen eingeladen, sich in der dünn besiedelten Schwarzmeerregion niederzulassen; die Einwanderer erhielten unentgeltlich Land, Religionsfreiheit und Steuerbefreiungen. In der Region zwischen den Flüssen Dnister und Südlicher Bug, im heutigen Gebiet der Oblaste Odesa und Mykolajiw, gab es laut Köhler mehr als 400 deutsche Siedlungen. Aber als das Russische Reich von der Sowjetunion abgelöst wurde, griff die neue Obrigkeit meist hart und repressiv gegen die sesshaft gewordenen deutschen Kolonisten durch. Köhlers Großvater kam 1937 ins Gefängnis, im Jahr der größten Repressionen Stalins.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die meisten Deutschen, die im Süden der Ukraine lebten (sogenannte Volksdeutsche), von den sich auf dem Rückzug befindenden deutschen Truppen ins Gebiet des heutigen Polens geschickt. Nach dem Krieg schickten die Sowjets sie zurück in die UdSSR und deportierten sie hauptsächlich nach Sibirien oder Zentralasien.

Köhlers Vater, damals gerade sieben Jahre alt, wurde in die Oblast Iwanowo in Zentralrussland deportiert, in ein spezielles Lager für internierte Kinder, wo er bestraft wurde, wenn er außerhalb der Deutschstunden deutsch sprach oder seinen Deutschlehrer verbesserte. Köhlers Vater schaffte es, heimlich in die Ukraine zurückzukehren und sich in der Nähe von Odesa niederzulassen, aber die Familie hatte jahrelang Angst ihre deutsche Herkunft preiszugeben. „Mein Vater hatte bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er-Jahren Angst, deutsch zu sprechen“, sagte Köhler.

Verborgene Schätze

Es wurde allgemein angenommen, dass die meisten Unterlagen über Deutsche in der Sowjetunion in den 1920er- bis 1940er-Jahren entweder von den Nazis entwendet oder von der sowjetischen Geheimpolizei zerstört worden seien. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR jedoch stießen Historiker und Historikerinnen in den ukrainischen Archiven auf verborgene Schätze.

Köhler erinnert sich, wie er 1992 seinen deutschen Kollegen Alfred Eisfeld ins Archiv der Oblast Odesa brachte. Eisfeld war erstaunt, dass dort ungefähr 200 000 Archivdokumente über Schwarzmeerdeutsche aufbewahrt wurden.

Eisfeld, mittlerweile Leiter des Instituts für Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttinger Arbeitskreises e. V., sagte, er habe in Odesa viele Unterlagen über Deutsche gefunden, die bis ins 19. und frühe 20. Jahrhundert zurückreichten. Er reiste wiederholt in die Ukraine und fand viele weitere interessante Materialien in den Archiven von Dnipro, Cherson, Mykolajiw und Simferopol. „Wir entdeckten lange vergessene und kaum untersuchte Seiten der multinationalen Geschichte der Ukraine“, sagte Eisfeld.

Ebenso wie Köhler war Eisfeld aufgrund seiner eigenen familiären Geschichte an den Geschichten der Deutschen in der Ukraine interessiert. Seine Vorfahren kamen im späten 18. Jahrhundert aus Deutschland in das Gouvernement Jekaterinoslaw, das heute das Gebiet der Oblast Dnipropetrowsk bildet. Einige von ihnen lebten in einer deutschen Kolonie, Josefstal, die nun am Stadtrand von Dnipro liegt.

Versuche, das deutsche Erbe wieder aufleben zu lassen

In Gottliebsdorf, einst vollständig von Deutschen bewohnt, stieß Irina Peter auf nur wenige verbliebene deutsche Häuser. Das Dorf hat nun einen ukrainischen Namen, Zorianka. Sie konnte eines dieser einstöckigen Häuser besuchen und sehen, dass es dem Haus ähnelte, in dem ihre Großmutter in Kasachstan gelebt hatte.

Nun zurück in Mannheim, plant Irina Peter, erneut in die Ukraine zu reisen und ihre Familiengeschichte weiter zu erforschen, so traurig diese auch sein mag. „Ich mag keine Happy Ends, darum mag ich die traurigen Geschichten meiner Familie irgendwie, und ich versuche, sie für die Zukunft zu erhalten, indem ich über sie schreibe“, meint sie.

In der Stadt Nowhorodske in der Oblast Donezk, nahe der Frontlinie im Krieg zwischen der Ukraine und den von Russland unterstützten Separatisten, versuchen lokale Aktivisten, ihre deutsche Vergangenheit wiederzubeleben. Diese Stadt wurde im späten 19. Jahrhundert von deutschen Mennoniten gegründet und nach ihrem Herkunftsort, der norddeutschen Stadt Jork bei Hamburg, New Jork genannt. Mittlerweile wird der Name meist mit New York in den Vereinigten Staaten verwechselt.

Die meisten Deutschen wurden dort an einem einzigen Tag im Oktober 1941 von den sowjetischen Machthabern nach Kasachstan deportiert. Ihre Häuser befinden sich jedoch noch in recht guter Verfassung. Mithilfe einheimischer Unternehmen und mit Geldern der Vereinten Nationen konnte die Kommunalverwaltung in diesem Jahr einen ehemaligen deutschen Buchladen sanieren und dort eine Begegnungsstätte namens „Ukrainisches New Jork“ eröffnen, so Tetiana Krasko, Schriftführerin des Stadtrats.

Die Kommunalverwaltung entwickelt nun auch touristische Wege entlang der Hauptstraße, die einst Gartenstraße hieß – ein Name, der auf die wunderschönen Obstgärten, die dort von Deutschen angelegt wurden, zurückgeht.

Aus dem Englischen von Meike Temberg.

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