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Vorwort

von Dmytro Kuleba, Außenminister der Ukraine

1991 erhielt die Ukraine mit der Unabhängigkeit das natürlichste Recht eines jeden Landes und Volkes – das Recht auf sein eigenes historisches Gedächtnis. Während der „Revolution der Würde“ in den Jahren 2013–2014 wählten die Ukrainerinnen und Ukrainer die Freiheit im Gegensatz zu postkolonialen Syndromen. Seitdem werden wir von der russischen Aggression auf die Probe gestellt und haben auf diesem dornigen Weg unumkehrbare Punkte überschritten. Das gilt auch für die Geschichte. Das ukrainische Volk wird niemals zum sowjetisch-russischen Paradigma zurückkehren, niemals dessen historische Umdeutungen akzeptieren.

Heute ist die Ukraine ein gleichberechtigter Teil einer globalen historischen Diskussion, und diese Teilnahme hat sie sich verdient. Ein Volk, das fast alle grausamen Ereignisse des 20. Jahrhunderts durchmachen musste, hat ein bedingungsloses Recht darauf, dass seine Geschichte in den Lehrbüchern korrekt dargestellt wird – unter anderem, um totalitären Krankheiten vorzubeugen. Die ukrainische Geschichte des 20. Jahrhunderts enthält das Konzentrat der komplexen Geschichte Europas in diesem Jahrhundert.

Eine nationale Tragödie ist nicht abstrakt. Sie ist ein Mosaik vernichteter menschlicher Existenzen. Sie ist das Leid, von dem jede Familie heimgesucht wurde. Das 20. Jahrhundert wurde für das ukrainische Volk zum Jahrhundert einer nationalen und einer privaten Tragödie. Die moderne Ukraine kann man nicht begreifen, wenn man ihre tragische Vergangenheit nicht kennt.

Deswegen stehen im Mittelpunkt dieses Bandes sowohl Berichte über Repressionen unter Stalin und den Holodomor als auch Reflexionen über den Zweiten Weltkrieg, die Nazibesatzung und den Holocaust.

Der Mut und die Würde, mit denen die deutsche Gesellschaft gelernt hat, über unangenehme Themen zu sprechen, verdienen tiefen Respekt. Seit mehr als sieben Jahrzehnten besteht die deutsche Gesellschaft erfolgreich eine der schwierigsten Prüfungen der Welt: mit einem ehrlichen Blick in den Spiegel der eigenen Geschichte standzuhalten. Und diese Ehrlichkeit zahlt sich aus: Auf den Trümmern seiner eigenen Identität hat Deutschland es geschafft, ein neues, erfolgreiches und wohlhabendes Land aufzubauen. Jetzt nimmt die Bundesrepublik Deutschland eine Führungsposition in der Europäischen Union ein und nutzt sie, um für die gemeinsame Sicherheit und einen stabilen, unversehrten Frieden in Europa zu sorgen – ein hart erkämpftes Gut aus schrecklichen Zeiten, das unter keinen Umständen verloren gehen darf.

Die gründliche Analyse der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges dauert an. Die Verfasser dieses Bandes machen den notwendigen Schritt, um endlich unter die Oberfläche eines überholten Ideologems der „deutschen historischen Verantwortung gegenüber dem sowjetischen Volk“ zu schauen. Irrtümlicherweise wird diese deutsche historische Verantwortung als ausschließlich gegenüber Russland geltend gesehen. Es gab aber nie ein sowjetisches Volk. Und wer nur von „Russen“ spricht, missachtet die Vertreter anderer Völker, die unter Nazismus und Kommunismus gelitten und gegen diese beiden Regimes gekämpft haben, insbesondere Ukrainerinnen und Ukrainer.

Einst bildete eine Reihe von nationalen Republiken die UdSSR. Heute hat jede von ihnen ihre eigenen Beziehungen zum modernen Deutschland. So soll es auch bei der Arbeit an der tragischen Vergangenheit sein. Jede Nation hat das Recht auf eine eigene Betrachtung.

Die Ukraine will kein „Opfer der Geschichte“ sein. Sie unterzieht sich einer „Therapie“, um ihre Traumata des 20. Jahrhunderts hinter sich zu lassen. Gleichzeitig versucht sie, das Bluten der offenen Wunden zu stoppen und sich das Recht zu erkämpfen, für sich selbst zu sprechen.

Ich bin den Autoren und Autorinnen dieses Bandes aufrichtig dankbar für ihre Bereitschaft, die Vergangenheit gemeinsam zu thematisieren, die trotz ihrer Schmerzhaftigkeit angesprochen werden muss.

Dieser Sammelband soll beim Leser keine Tränen der Rührung hervorrufen, weil die Menschen in der Ukraine so viel Unglück und Leid erlebt haben. Ziel ist es, den modernen deutschen Diskurs zu bereichern, ihm Perspektive und Kontext hinzuzufügen. Dieses Buch soll einen authentischen Blick auf die Geschichte des ukrainischen Volkes werfen, das einen wichtigen Teil des historischen Mosaiks Europas ausmacht. Ukrainische Tragödien sollen als Teil des gemeinsamen Schmerzes gesehen werden. Dieser unerbittliche Schmerz brachte die Werte des modernen Europas hervor, die wir heute teilen und verteidigen.

Ich glaube, dass dieser frische Blick und dieses offene Gespräch den Weg für ein besseres gegenseitiges Verständnis ebnen. Dieser Ansatz entspricht voll und ganz der positiven und progressiven Dynamik der modernen deutsch-ukrainischen Beziehungen.

Kyjiw, im Oktober 2020

Aus dem Ukrainischen von Sofija Onufriv.

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