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Vorwort

von Marieluise Beck, Direk­to­rin Ostmitteleuropa

beim Zentrum Liberale Moderne

Wir wollen nach Europa! Dieser Ruf des Maidans war eine der mächtigsten Antriebskräfte des demokratischen Aufbruchs in der Ukraine. Europa – das stand für Demokratie, Rechtsstaat, Reisefreiheit und ein besseres Leben. Historisch, geografisch und kulturell gehört die Ukraine ohnehin zu Europa. Diese Gegebenheit ist nach der Teilung Europas in Jalta in Vergessenheit geraten. Mehr als ein halbes Jahrhundert hielt sich diese Teilung in Ost und West, die Roosevelt, Churchill und Stalin auf der Krim besiegelt hatten. Damit geriet unsere gemeinsame Geschichte in Vergessenheit. Vergessen wurden die alten Zugehörigkeiten, die alten Namen, verdrängt die Sprachen, die Kenntnis der geografischen Koordinaten.

Mit dem Eisernen Vorhang ging auch die nationale Selbstbestimmung des östlichen Europas verloren. Die Versuche, das sowjetische Imperium abzuschütteln, wurden in Budapest, Prag und Warschau blutig niedergeschlagen.

Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und schließlich der Europäische Union entstand eine auf den Westen begrenzte europäische Gemeinschaft. Die Völker im Osten gerieten zunehmend aus dem Blick. Man war bereit, sich mit der Teilung Europas zu arrangieren. In Vergessenheit geriet, dass Mittelosteuropa multikulturell war, dass die Memel als jüdischer Fluss galt, dass es einst ein mächtiges litauisch-polnisches Königreich gab, die Hanse von Lübeck bis Riga reichte, der Adel in St. Petersburg französisch sprach, Odesa ein Ort italienischer Baumeister, begnadeter Musiker und deutscher Klavierbauer war. Vergessen wurde auch, dass sich Armenien wie Georgien als Teil des christlichen Europas verstanden.

Der Fall des Eisernen Vorhangs eröffnete uns die unverhoffte Chance, dieses Europa wieder als Ganzes zu entdecken. Wir stoßen auf Vergessenes und Verdrängtes, auf den Missbrauch und die Verdrehung historischer Fakten und auf viele Tabus. Wir treffen auf Völker, denen es lange versagt blieb, als eigenständige Nationen auf der Landkarte zu erscheinen, und deren Sprachen systematisch zugunsten des Russischen verdrängt wurden. Ungeheure Gewalttaten, die mit dem Namen Stalin verbunden sind, haben Millionen von Menschen durch Hunger, Zwangsarbeit und Erschießungen in den Tod getrieben. Mit unfassbaren Verbrechen haben SS und Wehrmacht die jüdische Bevölkerung systematisch vernichtet und die Slawen als „Untermenschen“ behandelt. Timothy Snyder hat den Landstrich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer als „Bloodlands“ bezeichnet – die Erde dort ist getränkt von Blut.

Der mächtige Ruf nach Freiheit und nach dem Ende der korrupten Herrschaft weniger über viele, nach dem Ende von Willkür und Gewalt – das war der Maidan des Jahres 2013/14. Mit ihm gelangte die Ukraine wieder auf die kognitive Landkarte Europas. Fast siebzig Jahre unter dem Dach der Sowjetunion hatten das Land nahezu unsichtbar gemacht.


Tief eingebrannt in die ukrainische DNA ist die Erfahrung des Holodomors: millionenfacher Hungertod im Land der fruchtbaren Schwarzerde, Hunger vor allem auf dem Land, wo selbst das Saatgut konfisziert wurde. Wie viele Millionen Menschen diesem gezielt herbeigeführten Massensterben zum Opfer fielen – wir wissen es nicht genau. Dass Stalin neben den Bauern auch die Intelligenzija und die ukrainischen Kader der Kommunistischen Partei ermorden ließ, deutet auf alle Merkmale eines systematisch angelegten Genozids. Wer diese Vorgeschichte nicht kennt, wird womöglich fragen, weshalb die meisten Ukrainer und Ukrainerinnen den vermeintlichen Schutz Moskaus so vehement ablehnen. Sie haben ein feines Gespür dafür, dass die Herren des Kremls bemüht sind, das russische Imperium wiederherzustellen. Eine unabhängige, souveräne Ukraine steht diesen Ambitionen im Weg.

Der imperiale Wahn Hitlerdeutschlands traf die „Bloodlands“ in besonders grausamer Weise. Der Zweite Weltkrieg begann mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 im Westen. Nur 17 Tage später gesellte sich Stalins Rote Armee aus dem Osten hinzu. Stalin und Hitler hatten einen Teufelspakt geschlossen, dessen Umsetzung Polen zerstörte und Galizien zum Ort grausamer nationalistischer Exzesse machte. Bei den Anhängern des ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera weckte der deutsche Angriff auf die Sowjetunion die verheerende Illusion, die Deutschen würden sie vom sowjetischen Joch befreien.

Unvorstellbare Verbrechen an der slawischen Bevölkerung gehen auf das Konto der deutschen Wehrmacht. Deutsche sollten den Ort Korjukiwka kennen, in dem die Wehrmacht fast 7000 Zivilisten in zwei Tagen als Vergeltung für Partisanenangriffe ermordete. Adolf Hitler bot dem rumänischen Diktator Ion Antonescu Transnistrien, die Bukowina und den Süden der Ukraine als Lohn für seine Kumpanei an. Und so mordeten sie gemeinsam. Die jüdische Bevölkerung in Tscherniwzi wurde durch rumänische Truppen ausgelöscht. Deutsche Truppen standen vor Odesa und überließen dann das Morden ihren rumänischen Verbündeten. Im Oktober 1941 wurden mindestens 25.000 Jüdinnen und Juden in Militärbaracken verbrannt, in die man sie vorher getrieben hatte. Die Dimension dieses Verbrechens erinnert an Babyn Jar.

Hunderttausende Jüdinnen und Juden wurden in Ghettos nach Transnistrien verschleppt und verendeten dort jämmerlich. In der Ukraine gab es laut Yahad-In Unum 2000 Erschießungsplätze, auf denen SS, Polizeibataillone, Soldaten der Wehrmacht und lokale Hilfspolizisten vor allem jüdische Menschen ermordeten. Auch slawische Partisanen und französische Kriegsgefangene zählten zu den Opfern. Die „Shoah durch Kugeln“ ging den industriellen Vernichtungslagern wie Auschwitz voraus.

Diese Geschichte der doppelten Gewaltherrschaft durch die beiden imperialen Großmächte Sowjetunion und „Drittes Reich“ begründet in der Ukraine wie in anderen osteuropäischen Ländern ein tief liegendes Unbehagen gegenüber Berlin, wenn es wie einst mit Moskau Verträge zulasten Dritter abschließt.

Es ist an der Zeit, sich dieser Geschichte zu stellen. Ihre langen Linien wirken fort. Ihre destruktive Kraft verliert sie nur, wenn die historischen Erfahrungen, die erlebte Gewalt und die traumatischen Erfahrungen der mittelosteuropäischen Völker zur Sprache kommen. Nur die Wahrheit macht Versöhnung möglich.

Wir danken all jenen, die es uns möglich machten, Vergessenes wiederzuentdecken und somit auch unsere eigene Geschichte neu zu verstehen. Deutschland, die Ukraine und 47 andere Länder: Gemeinsam sind wir Europa. Mein besonderer Dank gilt den Autorinnen und Autoren dieses Buches und dem Redaktionsteam des „Zentrum Liberale Moderne“, insbesondere Saskia Heller, Julia Eichhofer, Valeriya Golovina und Mattia Nelles.

Berlin, im Oktober 2020

Ukraine verstehen

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