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Einleitung

von Timothy Snyder

Warum sollten wir heute, wo in ganz Europa der Populismus blüht, wo die Demokratien in den Vereinigten Staaten von Amerika oder in Großbritannien von innen und außen unter Druck stehen und wo Russland militärisch in die Ukraine eingedrungen ist – warum sollten wir gerade in dieser turbulenten Zeit über historische Verantwortung sprechen?

Die Antwort ist: Es sind ebendiese Probleme, weshalb wir über historische Verantwortung sprechen müssen. Es gibt viele Ursachen für die Konflikte innerhalb der Europäischen Union, es gibt viele Gründe für die Krise der Demokratie in den Vereinigten Staaten. Einer davon ist das Unvermögen, mit bestimmten Aspekten der Geschichte umzugehen.

Lassen Sie mich über Deutschland sprechen, indem ich mit den Vereinigten Staaten beginne. Warum haben wir die Regierung, die wir jetzt haben? Wie konnten wir 2016 einen amerikanischen Präsidenten wählen, der sich unverantwortlich in rassistischer Weise äußert? Wie konnten wir einen Generalstaatsanwalt haben, der als Verfechter weißer Vorherrschaft gilt? Die Antwort lautet: Weil wir uns mit wichtigen Fragen unserer Vergangenheit nicht auseinandergesetzt, keine historische Verantwortung übernommen haben.

Der Präsident fragt sich öffentlich, warum wir den Amerikanischen Bürgerkrieg geführt haben, warum es überhaupt dazu kam, dass es in Amerika einen Konflikt über Sklaverei gab. Die Frage der Sklaverei und die Frage, was eine Kolonie ist, was ein Imperium ist, führen uns zu dem zentralen Punkt, den ich für einen blinden Fleck im historischen Gedächtnis Deutschlands halte.

Die Ukraine im Zentrum von Hitlers Ideologie

Amerika wurde zu einem großen Teil durch Sklavenarbeit errichtet. Es ist gerade dieses Modell der Grenzkolonisation, des von Sklaven errichteten Imperiums, das Hitler bewunderte. Für Hitler stand fest, wer im deutschen Ostimperium die „rassisch Niedergestellten“, die Sklaven, sein sollten. Die theoretische Antwort gab er in „Mein Kampf“, die praktische ab 1941 im Ostfeldzug: Die Ukrainer.

Sie standen im Zentrum seiner Kolonisations- und Versklavungspolitik. Die Ukrainer sollten behandelt werden wie „Afrikaner“ oder „Neger“, wie deutsche Dokumente aus dem Krieg zeigen. In Analogie zu den Vereinigten Staaten war Hitlers Idee, eine auf Sklaverei beruhende Kolonialherrschaft in Osteuropa zu errichten, in dessen Zentrum die Ukraine stehen sollte.

Und weil die Eroberung der Ukraine ein zentrales Ziel für Hitler war, ist es sinnlos, an den Zweiten Weltkrieg zu erinnern, ohne die Ukraine besonders zu berücksichtigen. Jedes Gedenken, das an die ideologischen, wirtschaftlichen und politischen Absichten des Naziregimes erinnert, muss daher mit der Ukraine beginnen.

Hitlers Politik konzentrierte sich geradezu auf die Ukraine: Der Hungerplan mit der Vorstellung, Zigmillionen Menschen im Winter 1941 verhungern zu lassen; der Generalplan Ost mit der Idee, in den folgenden Jahren weitere Millionen Menschen gewaltsam umzusiedeln oder zu töten, und schließlich die „Endlösung“, Hitlers Plan von der Vernichtung der Juden – all diese Vorstellungen gingen einher mit der Idee der Invasion in die Sowjetunion, deren Hauptziel die Eroberung der Ukraine war.

Folgen der deutschen Besatzung für die Ukraine

Die Folgen für die Ukraine waren katastrophal: Dreieinhalb Millionen Zivilisten der Sowjetukraine wurden Opfer deutscher Tötungspolitik zwischen 1941 und 1945. Hinzu kommen weitere dreieinhalb Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen, die als Soldaten der Roten Armee oder indirekt an den Folgen des Krieges starben.

Natürlich sind die Zahlen für die gesamte Sowjetunion viel höher. Aber es lohnt sich, hier spezifisch zu sein und sich der Unterschiede zwischen der Ukraine und dem Rest der Sowjetunion gewahr zu werden. Erstens stand die Ukraine als Lebensraum und Kornkammer im Zentrum des ideologischen Kolonialismus‘ Hitlers. Zweitens war das Land die meiste Zeit des Krieges komplett besetzt, während die deutschen Armeen weniger als fünf Prozent von Sowjetrussland erobert haben (und selbst das nur für einen relativ kurzen Zeitraum).

Ohne jeden Zweifel litten das russische und das ukrainische Volk unter dem Zwei-

ten Weltkrieg in einer Weise, die für Westeuropäer undenkbar ist. Aber wenn wir über die Sowjetunion nachdenken, ist die Stellung der Sowjetukraine dennoch besonders, selbst im Vergleich zu Sowjetrussland. In absoluten Zahlen starben nach Schätzungen russischer Historiker im Zweiten Weltkrieg mehr Einwohner der Sowjetukraine als Einwohner Sowjetrusslands. Relativ gesehen war die Ukraine somit viel mehr Gefahren während des Kriegs ausgesetzt als Sowjetrussland.

Mit anderen Worten: Es ist wichtig, an den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu erinnern. Aber im Zentrum dieses Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion stand nicht nur Russland, sondern vor allem die Ukraine.

Wenn wir über deutsche historische Verantwortung für Russland sprechen wollen, müssen wir mit der Ukraine beginnen. Die größte zerstörerische Praxis des deutschen Krieges traf die Ukraine. Wenn es ernsthaft um die deutsche Verantwortung für den Osten gehen soll, muss deshalb die Ukraine an erster Stelle genannt werden.

Verantwortung für den Holocaust bedeutet auch Verantwortung für die Ukraine

Der Holocaust ist integral verbunden mit dem Vernichtungskrieg und dem Bestreben, die Ukraine zu erobern. Hätte Hitler nicht die koloniale Vorstellung gehabt, einen Krieg in Osteuropa zu führen, um die Ukraine zu kontrollieren, hätte es den Holocaust nicht gegeben. Denn es war dieser Plan, der die deutsche Staatsmacht nach Osteuropa brachte, wo die europäischen Juden mehrheitlich lebten.

Erst der Krieg in der Ukraine brachte Wehrmacht, SS und die deutsche Polizei an Orte,

wo Juden massenhaft umgebracht werden konnten. Es waren Orte wie Babyn Jar

oder Kamjanez-Podilskyj, wo 1941 erstmals in der Geschichte der Menschheit Zehntausende Menschen durch Massenerschießungen ermordet wurden. Hier wurde den Nationalsozialisten klar, dass so etwas wie der Holocaust möglich war.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass jeder Deutsche, der den Gedanken der Verantwortung für den Holocaust ernst nimmt, auch die Geschichte der deutschen Okkupation der Ukraine ernst nehmen muss.

Deutsche Urteile über die Ukraine sind nicht unschuldig

Als Historiker weiß ich, dass die Geschichte der Ukraine unbekannt und kompliziert erscheint. Aber das ist nicht das einzige Problem. Ein Teil des Problems hat mit Denkgewohnheiten in Bezug auf Kolonisation, Denkgewohnheiten in Bezug auf Aggressionskriege und in Bezug auf das Bestreben, andere Völker zu versklaven, zu tun. Dieses Bestreben, ein anderes Volk zu versklaven, kann nicht ohne Schuld sein – auch nicht für kommende Generationen. Es wird Spuren hinterlassen, wenn ihm nicht begegnet wird.

Es wird Spuren hinterlassen, wie die verbreitete Neigung, ein Volk zu übersehen, es nicht als Volk anzusehen. All das Reden von der Ukraine als keiner richtigen Nation, als einem failed state oder als kulturell gespaltenem Land – all dieses Reden in deutscher Sprache ist nicht unschuldig. Das ist ein Erbe der Bestrebung, ein Volk zu kolonisieren, das nicht als Volk angesehen wird.

Urteile über die Ukraine, die das Land mit anderen Maßstäben messen, oder die Verwendung von Formulierungen wie der, dass es keine ukrainische Nation und keinen ukrainischen Staat gebe – wenn dies auf Deutsch gesagt wird, sind diese Worte nicht unschuldig.

Aus jüngster Erfahrung als Amerikaner kann ich sagen: Wenn man die Geschichte von Kolonisation und Sklaverei falsch versteht, kann sie zurückkehren. Und Deutschlands Geschichte mit der Ukraine ist gerade eine Geschichte von Kolonisation und Sklaverei.

Verantwortung übernehmen, um Deutschland zu helfen

Als ich im September 2016 in der Ukraine war, um über Babyn Jar zu sprechen, als ich vor Millionen ukrainischen Fernsehzuschauern stand und versuchte, über diese Dinge zu sprechen, war mein wesentlicher Punkt: Gedenkt Babyn Jars nicht wegen der Juden und Jüdinnen, gedenkt Babyn Jars wegen eurer selbst. Ihr gedenkt des Holocaustes, weil es Teil des Aufbaus einer verantwortlichen Gesellschaft und hoffentlich in Zukunft funktionierenden Demokratie in der Ukraine ist. Das gilt für die Ukraine. Aber das gilt auch für mich. Und das gilt für uns alle.

Der Zweck des Gedenkens an die deutsche Verantwortung für sechseinhalb Millionen Tote, hervorgerufen durch den deutschen Krieg gegen die Sowjetunion, ist nicht, der Ukraine zu helfen. Das ukrainische Volk ist sich dieser Verbrechen bewusst. Die Ukrainer und Ukrainerinnen leben damit, die Kinder, Enkel, Urenkel der unmittelbar betroffenen Generation leben bereits mit dem Erbe dieser Verbrechen.

Es geht vielmehr darum, Deutschland zu helfen – Deutschland als Demokratie gerade in diesem historischen Moment, mit den niedergehenden und immer weniger demokratischen Vereinigten Staaten von Amerika. Genau in diesem Moment kann Deutschland es sich nicht leisten, wichtige Teile seiner Geschichte falsch zu verstehen. Genau in diesem Moment muss Deutschland seine Wahrnehmung der Verantwortung vervollständigen.

Es hatte europäische Folgen, die Geschichte der Ukraine im Jahr 2013 und 2014 falsch zu verstehen. Die Geschichte der Ukraine heute falsch zu verstehen, während Deutschland die verbliebene führende Demokratie des Westens ist, wird internationale Folgen haben.


Dieser Text basiert auf einem Vortrag, den der Autor im Juni 2017 zum Thema „Deutschlands historische Verantwortung für die Ukraine“ im Deutschen Bundestag gehalten hat. Der Text wurde für diesen Sammelband vom Autor aktualisiert.

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