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1. Institutionalisierte Solidarität

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Die Gegenüberstellung von traditionellen und modernen Gesellschaften macht zwei ganz unterschiedliche Typen von Solidarität deutlich, die mit der Einbettung in den Lebensprozess zu tun haben.8

Die alte (traditionelle) Solidarität verbindet sich mit dem herkömmlichen Begriff der „Gemeinschaft“: innere Verbundenheit mit bestimmten Anderen; eine Beschränkung individueller Handlungsziele zugunsten der Kollektivität; gemeinsame Normen und Werte; die Erwartung spontaner Kooperation; Kontrolle durch soziale Anerkennung;9 ein Konglomerat aus Zwangsregelungen und Willkür, Gefühlen und Vorteilserwägungen, Austauschbeziehungen und Bestärkung von Ähnlichkeiten.10 Es war immer klar, dass Gemeinschaftlichkeit dieser Art an Überschaubarkeit, an kurze Handlungsketten, an Face-to-face-Situationen gebunden ist. Das ruft bestimmte assoziative Felder wach, rund um die Solidarität: Familialität, Verwandtschaftsgruppen, Siedlungsgemeinschaft, Dörflichkeit. Die Verbundenheit von Individuen resultiert einerseits aus jener Unmittelbarkeit von Mensch zu Mensch, in der auch altruistisches Verhalten selbstverständlich ist, andererseits findet sich aber auch ein hohes Maß an sozialer Kontrolle; denn die Gemeinschaft bedeutet nicht nur lauschige Behaglichkeit, sondern auch massiven Konformitätsdruck. Zudem wurde die Grenze der Zugehörigkeit scharf gezogen: Außerhalb der eigenen Gruppe fanden sich die anderen, die als bloße Barbaren oder gar als Nicht-Menschen betrachtet wurden.11

Die neue (moderne) Solidarität bezieht sich auf größere Gruppen, auf Massengesellschaften, auf das Leben in der Moderne. Die unmittelbare Bekanntschaft der Menschen miteinander schwindet dahin, die Anzahl flüchtiger Kontakte nimmt zu, Interaktionen werden anonym und formal. Die Beziehungen werden in gewissem Maße entemotionalisiert, sie rufen kein unmittelbares, selbstverständliches Verpflichtungsgefühl mehr wach. Mit steigender Gruppengröße, jenseits einer bestimmten Fühlbarkeitsschwelle, ist fast nur noch auf formalisierte Beziehungen beziehungsweise Kontrollen Verlass. Kooperation kann nicht mehr grundsätzlich erwartet werden, Freerider-Verhalten ist in vielen Fällen vorteilhaft. Die Großgesellschaft ist zu unübersichtlich, um Trittbrettfahrer zuverlässig ausschalten oder sanktionieren zu können.12 Wenn Solidarität unter diesen Bedingungen stattfinden soll, dann muss sie institutionalisiert werden. Problemlösung durch unmittelbaren Altruismus wird in komplexeren sozialen Systemen kaum vorgesehen, weil die Unübersichtlichkeit den Hilfswillen erlahmen lässt. Deshalb sind die modernen Sozialversicherungssysteme jene Gebilde, in denen eine gleichsam „geronnene“ Solidarität ihre institutionelle Repräsentation gefunden hat.

Zur allerneuesten (zweitmodernen) Solidarität müssen wir noch einen Schritt weiter gehen. Es gibt zwar zuweilen nostalgische Reminiszenzen an oder Illusionen über eine Kleingruppengesellschaft, in Wahrheit aber würden Individuen, die in einer modernen Gesellschaft aufgewachsen sind, unter den traditionellen Verhältnissen (geistig-sozialer Beengtheit) nicht leben können. Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass die erste Moderne mit einem Prozess der Auflösung von solidarischen Face-to-face-Gemeinschaften verbunden ist; aber sie beklagt zeitweise diesen Prozess noch. Die zweite Moderne schüttelt es hingegen vor Grauen, wenn sie an Gemeinschaft (im herkömmlichen Sinn) denkt; der Gegenwartsmensch versteht sich als aufgeklärter Akteur, als autonomes Wesen, als reflexives Individuum, als mündiger Bürger; als einer, der auf niemanden anderen angewiesen und in diesem Sinne mit niemandem anderen verbunden ist – schlechthin „gemeinschaftsfeindlich“, ein ganz originäres Individuum, im Idealfall losgelöst aus allen Ligaturen. Kann ein solches Individuum überhaupt „solidarisch“ sein? Aus welchen eingespielten Lebensformen könnte Solidarität entspringen? Solidarisch mit wem und unter welchen Bedingungen, und wie sieht seine Solidarität aus?

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