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3. Individualisierte Solidarität

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Bislang sind wir aber immer noch weitgehend bei den Problemen der ersten Moderne geblieben: bei der Ablösung traditioneller Kleingemeinschaften durch die moderne Großgesellschaft und bei der Ersetzung karitativer Hilfeleistungen durch institutionalisierte Systeme. In der zweiten Moderne setzen sich jedoch Veränderungen durch, die tiefgreifend genug sind, um eine neue gesellschaftliche Epoche ausrufen zu können – und dies lässt das Verständnis von Solidarität nicht unangetastet.

Die Moderne ist zunächst und vor allem einmal eine entfaltete individualistische Gesellschaft.17 Sie zeichnet sich durch die Beschwörung der Identität des Einzelnen aus, die jeder bewusst, überlegt und gezielt auszuformen hat.18 Die äußeren Verlässlichkeiten, die „großen Erzählungen“, sind verschwunden; der Glaube an Religion ist zerbröckelt, das Vertrauen in den Sozialismus ist ebenso unplausibel geworden wie jenes in andere große Ideologien, und die Botschaften der Vernunft und der Wissenschaft haben auch schon einmal größere Resonanz gefunden. „Da draußen“ (in der gesellschaftlichen Landschaft) ist nichts, worauf man vertrauen kann – und die je individuelle Identität, die man als authentischen Kern der eigenen Persönlichkeit finden möchte, scheint die einzige verlässliche Basis für das Leben. Soweit das Gebot der angemessenen „Individualitätskonstruktion“ durch den Einzelnen wirksam ist, führt es zur weiteren Zerstörung der äußeren Haltepunkte und Vorgaben; man braucht hiezu Enttradionalisierung, Entbettung, Auflösung von Obligationen und Ligaturen. Erst dort, wo sich die Außenwelt nicht mehr aufdrängt, können die eigene Person zum zentralen Bezugspunkt des Lebens und die multioptionale Wahlfreiheit realisiert werden.19 Deshalb müssen alle Eigentumsansprüche, alle äußeren Bezugssysteme, alle Traditionen entrümpelt werden. Die erste Moderne verlangt die Hinterfragung, allseitig und permanent. Sie beseitigt alle Reflexions- und Kritikverbote. Die zweite Moderne hat diesen Prozess abgeschlossen, sie ist mit radikalem Sinnabbau konfrontiert. Sie will wählen, aussuchen, entscheiden können – und das kann man nur, wo nichts aus sich heraus gilt. Deshalb sind auch Bindungen (Verpflichtungsgefühle, Verantwortlichkeiten, Solidaritäten) wählbar. Herkunftsbindungen werden auf Wahlbindungen umgestellt. Solidaritäten, in die man hineingeboren war, werden umgestellt auf „gewählte Solidaritäten “: Entscheidung statt Schicksal.

Es ist eine Art von „erfreulichem Vakuum“, welches man vorfindet, und hinein in dieses Vakuum ist nun die eigene Person zu stellen; eine Person, die als solche erst zu gestalten ist. Das ist in einer Welt allseitiger Flexibilisierung und Pluralisierung, in einer Welt von Patchworks, nicht einfach. Es gibt eine Überfülle von Materialien, aus denen sich eine Identität basteln ließe,20 ohne dass doch zu gleicher Zeit diese Identität als eine beliebige verstanden oder wahrgenommen werden kann. Es ist dem Individuum auferlegt, seine Besonderheit, seine „unique selling proposition“, herauszuarbeiten; und doch soll diese Identität eine vorgefundene, authentische sein. Jedenfalls gilt die Übernahme von Wertewelten, die Einsozialisierung in Verwandtschaften und Nachbarschaften, als unzulässig, wo doch jeder nicht nur eine Kopie, sondern ein Original und ein Unikat zu sein hat.

Emile Durkheim hat solidarische Gefühle in einer traditionellen Gesellschaft dadurch begründet gesehen, dass die Individuen – mangels gesellschaftlicher Differenzierung und Arbeitsteilung – einander ähnlich sind; wenn alle dieselbe Weltsicht und dieselben Werte aufweisen, dann sind sie einander sympathisch.21 Wenn die Gemeinschaftlichkeit von Deutungen und Wertungen jedoch reduziert wird, wie dies schon in der modernen und erst recht in der spätmodernen Gesellschaft der Fall ist, kann die soziale Integration (und damit auch das Gefühl der Solidarität) nicht mehr auf Ähnlichkeit beruhen. Wenn in der Spätmoderne, im „triumphierenden Individualismus“, die Ähnlichkeit gegen Null tendiert (was natürlich eine ideologische Übertreibung darstellt), dann gibt es auch keine Grundlage mehr für diese Art von Solidarität – jeder ganz anders, jeder ein Fremder.

Durkheims Vorstellung war es, dass die „mechanische Solidarität“ der traditionellen Gesellschaft zu einer „organischen Solidarität“ der Moderne umgewandelt wird, und diese letztere gründet auf dem Bewusstsein von der wechselseitigen Abhängigkeit der Individuen in einer differenzierten oder vermarktlichten Gesellschaft. Sie mögen einander, weil sie wissen, dass sie einander brauchen, und dies, obwohl sie voneinander ganz verschieden sind. Dieses Argument würde eher für eine Aufwertung und Ausdehnung der Solidarität sprechen; denn einerseits haben sich die Handlungsketten verlängert und kompliziert, sodass jeder von jedem abhängig ist (Universalisierung der Interdependenz), und andererseits haben die lebensbestimmenden Vernetzungen globale Dimensionen gewonnen, sodass sich eine durch wechselseitige Interdependenzen generierte Solidarität über die ganze Welt erstrecken müsste, anders als früher, wo die Solidarität bestenfalls im Nahbereich gegeben war und mit steigender Entfernung rasch abgenommen hat (Globalisierung der Interdependenz).

Es fragt sich bloß, ob Durkheims Argument haltbar ist: dass ein Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeit und Nützlichkeit eine Haltung hervorbringt, hinsichtlich derer man tatsächlich einigermaßen sinnvoll von „Solidarität“ sprechen kann.22 Ich bin mit dem Verkäufer, der mir die Funktionen der Kaffeemaschine erläutert, freundlich und höflich, aber nicht unbedingt solidarisch. Soweit solidarische oder moralische Gefühle bestehen, müssen sie wohl anderen Quellen entspringen als den Akten eines Güter- und Geldaustausches. Die meisten Vermutungen gehen heute dahin, dass Markt-Interaktionen eher eine rationale, ja egoistische Perspektive fördern und nicht so sehr eine altruistische. Dort, wo noch Solidarität besteht, scheint es sich tatsächlich eher um traditionale Relikte zu handeln, wo Herkunftsbindungen im Vergleich zu Wahlbindungen stärker sind. Das zeigt sich auch in ethnisch-kulturellen und nationalstaatlichen Zusammenhängen: Denn die Herkunftsbindungen „enthalten immer schon ein geteiltes Vor-Verständnis, ein Kapital an Gemeinsamkeit, das für Problemlösungen mobilisiert werden kann. Es ist ökonomischer, mit Leuten zusammenzuarbeiten, mit denen man Sprache, Wertvorstellungen und vieles andere teilt, als mit solchen, mit denen solche Gemeinsamkeiten erst herausgefunden oder hergestellt werden müssen.“23 Die Ideologie der Vermarktlichung löst jedoch die Vorstellung, dass die Menschen sowohl als Individuen (als Personen) als auch als Kollektive (in Gemeinschaften) existieren, auf; und sie beseitigt damit das Bewusstsein von der Notwendigkeit und von der Vorzugswürdigkeit der Solidarität. Denn die Vermarktlichungs-Lehre nimmt, wie die letzten Jahre gezeigt haben, den sozialen Eliten ihre Scham. Wenn nicht einmal mehr versucht wird, eine gerechte Verteilung der Lasten glaubhaft zu machen, lassen sich keine Gerechtigkeits- und Solidaritätsgefühle wachrufen. Tatsächlich sind die Wirtschaftseliten in den reichen Ländern einen anderen Weg gegangen: Sie stecken ein, auf legalem und illegalem Weg, was immer möglich ist; sie fordern Opfer von den anderen und kassieren ihre Prämien; und im Risikofall ertönt der Ruf nach dem ansonsten so geschmähten Staatseingriff. Die „normalen Menschen“ fungieren in dem Spiel als „Zahler“. Für sie gilt zwar der Befehl zur Individualisierung und Subjektivierung; zunehmend ist dies allerdings nicht als Selbstentfaltung zu verstehen, als Konstruktion des wahren, authentischen Ich, sondern als Herrichtung und Training des Einzelnen für ein „funktionales Ich“, welches sich in einer harten Konkurrenzsituation befindet.24 Die Bestimmung der eigenen Identität erfolgt in einem solchen Ambiente nicht durch die Situierung in Gruppen oder Milieus, sondern in einem beweglichen System von Relationen, einem System mit Chancen und Gefahren, bei dem allerdings schon durch einen kleinen Fehltritt jederzeit der Absturz möglich ist. Die immerwährende Konkurrenzhaltung wird zu einem gesellschaftlich anerkannten Denk- und Deutungsmuster; man ist Gewinner oder Verlierer, Erster oder Zweiter, In oder Out, „Take-it-all-winner“ oder „Loser“.

Den Markt als Chance zu begreifen, Risikobereitschaft zu zeigen und sich als Mover zu erweisen bedeutet danach (idealtypisch), auch zu den Gewinnern zu gehören; den Markt als Bedrohung anzusehen, darauf mit Strategien der Sicherung zu reagieren, ohne sich zu bewegen, also Stayer zu sein, macht zum Verlierer.25

Die Verlierer beneiden die Mobilen, die Gewinner verachten die Stabilität.

Diese Situation ist dem Gedeihen solidarischer Haltungen nicht besonders förderlich. Es könnte also eher so sein, dass die mechanische Solidarität einer traditionellen Gesellschaft, die sich noch in eine moderne Gesellschaft hineingeschleppt hat, in der zweiten Moderne endgültig aufgelöst wird, während die Hoffnung auf eine organische Solidarität, die aus Arbeitsteilung und Differenzierung erwächst, sich als ungerechtfertigt erweist.

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