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2. Institutionalisierte Solidarität

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Es ist also, je nach gesellschaftlicher Formation, eine andersartige Solidarität, von der wir sprechen. Aber die moderne, institutionalisierte Solidarität schleppt eine Hypothek mit sich herum: Viele bezweifeln, ob es sich überhaupt um Solidarität handelt.

Wenn wir Sozialversicherungssysteme ins Auge fassen, so handelt es sich doch um rechtlich-bürokratische Apparaturen, bei denen etwaige Gefühle von Altruismus und Mitmenschlichkeit keine Rolle spielen. Es ist keine „gelebte Solidarität“. Wenn wir das Solidarisch-Sein irgendwie mit Gefühlen und Haltungen verbinden, dann sind die wohlfahrtsstaatlichen Maschinerien zwar für Betroffene segensreich, aber sie dienen möglicherweise auch bloß einer Verschiebung von Notlagen, mit denen die meisten Menschen in ihrem Alltag nichts mehr zu tun haben wollen. Wohlhabende Personen wollen nicht von Bettlern belästigt werden, und sie schaffen Einrichtungen, die das sicherstellen, von der Fürsorgebürokratie bis zum Einkaufszentrum. Insofern hat sich der Vorwurf verbreitet, dass in der Moderne die Solidarität unter den Zeitgenossen relativ gering sei, dass die mitmenschliche Hilfsbereitschaft abnehme und kein Gefühl mehr für die Not der anderen bestehe. Die herkömmliche Solidarität war eine „wirkliche“, die neue ist verdächtig. Die traditionelle Gesellschaft war demzufolge der wahre Ort der Solidarität.

Wir stehen nun allerdings bei dieser Beschreibung der Solidarität vor einem sonderbaren Paradoxon. Einerseits wird das Gefühl wach, dass solidarisches Verhalten in einer dichten Gemeinschaft wohl jene Art von Solidarität sei, die uns vor Augen schwebt: Hilfe, Brüderlichkeit, Altruismus, Nähe, Einbettung; eine Gemeinschaft, in der jeder für den anderen da ist; ein Kollektiv, welches in der Bewältigung seiner Aufgaben zusammenschmilzt. Andererseits erhebt sich die Frage, ob man bei derartigen lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten überhaupt von Solidarität sprechen kann. Handelt es sich bei einem Verhalten, welches nicht bewusst gelebt wird, für das man sich also nicht in Abwägung verschiedener Handlungsmöglichkeiten entscheidet, überhaupt um Solidarität? Das „unbewusste Miteinander“ ist eine Selbstverständlichkeit, in gewissem Sinne auch eine existenzielle Notwendigkeit. Man lebt so, weil man gar nicht anders kann, weil man sich anderes gar nicht vorstellen kann. Es ist ein Zusammengehörigkeitsgefühl, welches zudem in Gruppen, die nur wenig oberhalb des Existenzminimums leben, durch überlebensnotwendige Kooperation erzwungen wird. Wenn wir diesem Gedanken folgen, dann ist die alte Solidarität gar keine Solidarität; vielmehr ist der wahre Ort, an dem Solidarität stattfindet, die Moderne.

Was könnte es für Indizien dafür geben, dass sich die Moderne als solidarische Gesellschaft versteht? Für die Vermutung spricht, dass das Ausmaß der Umverteilung enorm gestiegen ist. Wie sonst sollten wir Solidarität messen als dadurch, welches Quantum an Ressourcen eine Gesellschaft für Zwecke der Umverteilung, der sozialen Hilfe, der Beseitigung von Notlagen und der Angleichung von Lebenschancen verwendet? Wenn wir diesen empirischen Indikator betrachten, dann sind moderne Wohlfahrtsstaaten die solidarischsten Systeme, die es in der Geschichte der Staaten je gegeben hat. Die sozialstaatlich geformte Leistungsgemeinschaft wird durch das sozialstaatliche System zu einem sittlichen Zusammenhang: „Die sozialstaatliche Grundkonstruktion überführt die Chaotik des Marktprozesses in die relative Ruhe einer statusbewahrenden Leistungsgemeinschaft, in der Moralität und Gemeinwohl zur praktischen Geltung gebracht sind.“13 Freilich, Vorstellungen einer solidarischen Haltung haben sich immer auch auf individuelle Emotionen und persönliche Haltungen bezogen, und die Reduktion zeitgenössischer Solidaritätsverwaltung auf den Aufgabenbereich von Sozialämtern, Pensionsanstalten, Familienbeihilfenbehörden und Arbeitsämtern löst ein gewisses Unbehagen aus.14

Selbst wenn wir zugestehen, dass die Sozialstaatlichkeit als Ausdruck solidarischer Weltsicht verstanden werden kann, können wir uns allerdings in der zweiten Moderne nicht zurücklehnen und die eigene Tugendhaftigkeit preisen. Institutionalisierte Solidarität könnte in Spannung zur moralischen Substanz einer Gesellschaft geraten. Nicht von der üblichen „Faulenzerdebatte“ ist hier die Rede, in der unterstellt wird, dass eine gewisse sozialstaatliche „Verwöhnung“ den Arbeitsdruck für die „Nehmer“, also die Begünstigten des Sozialstaates, mildere und zu einer strategischen Nutzung von Gratis-Zahlungen führe, sondern von den moralischen Konsequenzen einer Entlastung der „Zahler“. Diese könnten zwar in einer Geisteshaltung, die aus einer vormodernen-modernen Epoche stammt, der Errichtung eines sozialstaatlichen Sicherungssystems zustimmen, aber gerade das Funktionieren dieses Systems der institutionalisierten Solidarität könnte dadurch, dass Mitmenschlichkeit formalisiert, anonymisiert und bürokratisiert wird, zu einem Abbau der allgemeinen Solidaritätsgefühle führen: Wenn sich zum einen der Einzelne um soziale Notlagen und um das Schicksal seiner Mitmenschen nicht mehr kümmern muss, ja überhaupt altruistische oder moralische Gedanken von sich weisen kann, und wenn es richtig ist, dass auch Solidarität (im Sinne mitmenschlichen, empathischen Handelns) eingeübt werden muss, weil sie – wie andere Fähigkeiten – bei Nichtausübung erlahmt oder verkümmert, dann ist das Abschieben von mitmenschlicher Sorge in zuständige Institutionen ein Geschehen, welches nicht folgenlos bleibt: Vielmehr intensiviert sich ein Prozess der lebensweltlichen Entsolidarisierung, der ohnehin zur zweitmodernen Individualisierung, Pluralisierung und Monadisierung passt. Die Wahrnehmung einer Notlage wird mit dem Verweis auf die zuständigen Ämter beantwortet oder im Vertrauen auf die systemische Zuständigkeit überhaupt ignoriert. Verantwortung im sozialen Nahbereich muss nicht mehr wahrgenommen, eine moralische Gemeinschaftspraxis nicht mehr eingeübt werden, die den Bedürftigen, aber im Bedarfsfall auch den Helfern zugute kommt. Es kommt zu einer Desinvestition in die „moralische Infrastruktur“.15 Es ist kein finanziell-rationales, sondern ein moralisch-emotionales Crowding-out.

Man kann allerdings auch in diesem Falle einen Schritt weitergehen, wenn man die Ablöse der ersten durch die zweite Moderne betrachtet. Möglicherweise ist der europäische Sozialstaat immer noch das Beste, was unter den Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft verfügbar ist. Denn für viele ist mittlerweile auch die europäische Sozialstaatlichkeit ein typisches Phänomen der Moderne, die im 20. Jahrhundert ihre Entfaltung gefunden hat, sie ist aber nicht mehr unbedingt ein Charakteristikum der zweiten Moderne, die das 21. Jahrhundert prägt. Es sind einerseits die steigenden finanziellen Zwänge, die europäische Sozialversicherungssysteme gehörig unter Druck setzen und Gründe für ihre allmähliche Reduktion liefern, andererseits aufstrebende Ideologien insbesondere aus dem angelsächsischen Raum, die neuerdings eher die problematischen, ja schädlichen Wirkungen eines Sozialstaates (im Vergleich mit stärker vermarktlichten Systemen) hervorheben.

Erstens: Die finanziellen Zwänge sind seit langem bekannt, ohne dass sie zu den erforderlichen politischen Maßnahmen geführt haben. Die Explosion der Kosten angesichts einer alternden Bevölkerung und einer niedrigen Geburtenrate ist nicht erläuterungsbedürftig; es herrscht ein harter Kampf der Interessen, in dem die größere Wählerschaft der älteren Menschen zählt, und sie bedient sich ungeniert aus den Zukunftschancen ihrer Kinder und Enkel. Über die Expansion der Gesundheitsausgaben kann vorderhand ohnehin nur spekuliert werden; sicher ist, dass alles zusammen in drei Jahrzehnten nicht mehr finanziert werden kann. Auch das Abmauern der Seniorenverbände gegen jede Änderung, eine glatte Ausbeutungsmaßnahme, läuft unter dem Titel Solidarität: Nur wird die aktuelle Solidarität mit der älteren Generation herausgestellt und die Solidarität mit den zukünftigen Generationen verdrängt.

Zweitens: Der Aufschwung von Marktideologien ist den Solidaritätsgefühlen nicht förderlich; die Grundidee einer Marktgesellschaft besteht ja darin, dass sich in Marktergebnissen Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit niederschlagen und dass dergestalt jeder Einzelne „verdient“, was am Ende eines Marktprozesses für ihn übrig bleibt. Gerade in einer Gesellschaft, die viele Optionen bietet, ist es dann die Folge seiner eigenen Fehlentscheidungen, wenn er keinen Erfolg hat. Die Berufung auf das Schicksal und auf die Obrigkeit wird unplausibel, und es bleibt nur der eigene Fehler – oder ein bisschen Pech. Jedenfalls fühlt sich der Staat weniger aufgerufen, für eine ausgewogene Gesellschaft zu sorgen, er zieht sich auf die Rolle eines Supervisors zurück. Er bietet einen Rahmen, aber es ist ein Spiel der Menschen selbst. Wenn solche Einschätzungen noch einen ererbten religiösen Unterton aufweisen (wie dies für das amerikanische Selbstverständnis typisch ist), dann ist kaum ein Spielraum für solidarische Gefühle; denn der Arme ist mit dem Sünder beinahe identisch, und für keinen von beiden muss man Mitgefühl aufbringen.16

Solidarität

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