Читать книгу Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz? - Группа авторов - Страница 15

3 Medienindifferenz und Medienvergessenheit

Оглавление

Koch/Oesterreicher beziehen den Ausdruck ‘Medium’, wie sie in ihrem 1985er-Aufsatz schreiben, auf „die beiden Realisierungsformen für sprachliche Äußerungen“ (1985, 17), auf die phonische und auf die graphische Ebene. Man mag diese Engführung problematisch finden (siehe dazu einzelne Beiträge in dem Sammelband von Feilke/Hennig 2016); man muss dies aber zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Das gilt um so mehr, wenn man das Modell aus medienlinguistischer Sicht betrachtet. In der Medienlinguistik (und so auch in der neueren Internetforschung) herrscht ein anderes Medienverständnis vor, Medien werden hier als Institutionen (z.B. Fernsehanstalten), als Publikationsformen (z.B. Zeitungen) oder als technische Hilfsmittel gesehen – und schnell besteht die Gefahr, diese Konzepte in Verbindung zu ‘Medium’ bei Koch/Osterreicher zu bringen. Auf den Umstand, dass sie ihrerseits von einem anderen Medienbegriff ausgehen, weisen Koch/Oesterreicher in ihren neueren Arbeiten aber deutlich hin (vgl. Koch/Oesterreicher 2011, 14).

Einen instruktiven Überblick über die verschiedenen Deutungen des Medienbegriffs findet man sowohl in der Medien-Kulturgeschichte von Wolfgang Raible (vgl. Raible 2006, 12) als auch in der Textlinguistik-Einführung von Kirsten Adamzik (vgl. Adamzik 2016, 61). Adamzik stellt fest, dass man für das, was Koch/Oesterreicher unter ‘Medium’ verstehen, „inzwischen […] einen anderen Terminus vorzieht, nämlich Modus bzw. Modalität“ (Adamzik 2016, 64; Fettdruck im Original). Koch/Oesterreicher verwenden den Ausdruck ‘Modalität’ gelegentlich auch selbst, so z.B., wenn sie in ihrer letzten gemeinschaftlichen Publikation erläutern, dass Medien (in ihrem Sinne, C.D.) bestimmte „sensorische Modalitäten“ ansprechen und dieses Konzept von Medien von „Speicher- und Übertragungsmedien, Telefon, Internet usw.“ (Oesterreicher/Koch 2016, 53) zu unterscheiden sei. Diese beiden Medienbegriffe werde ich im Folgenden mit Medium1 (modalitätsbezogen) und Medium2 (technikbezogen) unterscheiden und damit deutlich machen, um welches Medienkonzept es jeweils geht. Denn wie wir noch sehen werden, beziehen sich die kritischen Überlegungen zur ‘Medienindifferenz’ auf den Medium1-Begriff (der für Koch/Oesterreicher zentral ist). Dagegen legt die Kritik an der ‘Medienvergessenheit’ (s.u.) den Medium2-Begriff (der in der neueren Medienlinguistik zentral ist) zugrunde.

Darüber hinaus wird dem Modell noch eine zweite Art von Medienvergessenheit angelastet, und die Vertreter dieser Position (z.B. Jan Georg Schneider) setzen nochmals ein anderes Medienkonzept an (Medium3). Sie vertreten die Auffassung, dass das „Zeichen mitsamt seinen medial-materiellen Eigenschaften“ in der Zeichenprozessierung nicht nur übermittelt, sondern dadurch erst konstituiert werde (vgl. Schneider 2016, 343; siehe auch Schneider et al. 2018, 57–69). Schneider bezieht sich hier auf Fehrmann/Linz (2009) und stellt in Anlehnung an deren Publikation fest, „dass es keine nichtmediale Kommunikation“ (Schneider 2016, 343) gebe. Daran wiederum übt Thomas Krefeld Kritik. Er merkt an:

Energisch widersprechen muss man allerdings der ‘Auffassung […], dass es keine nichtmediale Kommunikation gibt’ (S. 343). Es zeigt sich hier, dass Schneider die eigentliche linguistische Schwachstelle des Medienbegriffs von Peter Koch & Wulf Oesterreicher ebenso wenig gesehen hat wie die anderen Autoren des Bandes. (Krefeld 2018, 12)

Krefeld argumentiert, dass das Phonische eine Sonderstellung habe; in der linguistischen Analyse könne man dabei nicht von der Artikulation/Audition abstrahieren, es sei ein „unmittelbares Sprechen, ohne irgendein zusätzliches Mittel“ (Krefeld 2018, 12) – und dieses Sprechen sei nicht medial. Das schließe natürlich nicht aus, dass akustische Sprache medial übermittelt werden könne; es sei aber falsch, die Materialität des Zeichens mit seiner Medialität gleichzusetzen.1

Man muss in der Diskussion um das Modell von Koch/Oesterreicher also zwischen mindestens drei Medienbegriffen – Medium1, Medium2 und Medium3 – und zwei Arten von Medienvergessenheit unterscheiden. Das mag verwirrend erscheinen, hängt aber damit zusammen, dass der Medienbegriff selbst so facettenreich ist. Doch vermutlich hätten Koch/Oesterreicher gut daran getan, nicht ihrerseits den Terminus ‘Medium’ zu bemühen; besser hätten sie von Beginn an von ‘Modalität’ gesprochen und folglich von ‘Modalität und Konzeption’, nicht von ‘Medium und Konzeption’.2 Die vielen medientheoretischen Auseinandersetzungen rund um ihr Modell wären dann vielleicht ausgeblieben.

Worauf bezieht sich der Vorwurf der Medienindifferenz nun aber genau, und was wird unter dem Schlagwort ‘Medienvergessenheit’ verstanden? Kommen wir zunächst zur Medienindifferenz: Ich übernehme diesen Ausdruck von Selig (2017); in anderen Arbeiten ist von Medienunabhängigkeit oder Medienneutralität die Rede (z.B. Feilke 2016). Ausgangspunkt der Kritik ist die Aussage von Koch/Oesterreicher, dass die Ebenen ‘Konzeption’ und ‘Medium’ unabhängig voneinander seien. Das zeige sich unter anderem daran, dass es keine festen Korrelationen zwischen der Einordnung von Äußerungsformen im Nähe/Distanz-Kontinuum und ihrer medialen Realisierung gebe. Es bestünden zwar Affinitäten, d.h. bevorzugte Beziehungen (z.B. medial schriftlich – konzeptionell schriftlich), es seien aber auch gegenläufige Kombinationen möglich (z.B. medial schriftlich – konzeptionell mündlich). Dieser Punkt ist in der Rezeption des Modells unbestritten und hat dem Ansatz gerade in der Medienlinguistik viel Zustimmung eingebracht. Was aber als problematisch angesehen wird, ist die „medium transferability“, die Koch/Oesterreicher in diesem Zusammenhang geltend machen (vgl. z.B. Oesterreicher/Koch 2016, 21). Sie orientieren sich dabei sowohl an Ludwig Söll als auch an John Lyons, dessen Arbeiten in den 1980er Jahren breit rezipiert wurden. In seiner mehrfach aufgelegten Einführung „Language and Linguistics“ schreibt Lyons:

A distinction must be drawn between language-signals and the medium in which the signals are realized. Thus it is possible to read aloud what is written and, conversely to write down what is spoken. […] In so far as language is independent, in this sense, of the medium in which language-signals are realized, we will say that the language has the property of medium-transferability. (Lyons 1981, 11; Fettdruck im Original)

In ihrem 1985er-Aufsatz verweisen Koch/Oesterreicher nur in einer Fußnote auf die hier mit dem Ausdruck „medium-transferability“ bezeichnete Übertragbarkeit von einem Medium in das andere (vgl. Koch/Oesterreicher 1985, 17),3 in späteren Arbeiten bauen sie diesen Aspekt in den Text selbst ein. Sie wollen damit der Aussage Nachdruck verleihen, dass „selbstverständlich […] Transpositionen aller genannten Äußerungsformen in das jeweils andere Realisierungsmedium jederzeit möglich sind“ (Koch/Oesterreicher 1985, 21). Als Beispiel nennen sie einen Tagebucheintrag, den man laut vorlesen kann, oder den Vortrag, den man abdrucken kann.

Ihre Aussagen zur „medium-transferability“ haben Koch/Oesterreicher den Vorwurf der Medienindifferenz bzw. Medienneutralität eingebracht (vgl. dazu ausführlich Feilke 2016, 143–148; Adamzik 2016, 70–72; Selig 2017, 119–123). Helmuth Feilke stellt z.B. fest, dass sich die „Autoren durch ihre apodiktische Trennung von Medialität und Konzeption […] in der Linguistik und Sprachdidaktik vielfacher Kritik ausgesetzt haben“ (2016, 145), und Maria Selig merkt an: „Vollständig zurückzuweisen ist schließlich der Gedanke an die mediale Äquivalenz beim Transkript eines spontanen Gesprächs“ (2017, 122). Ein transkribiertes Gespräch sei eben kein Gespräch, nur aus der Perspektive des Wissenschaftlers könne man von Äquivalenz und Austauschbarkeit sprechen. Doch eine solche Austauschbarkeit meinten Koch/Oesterreicher meines Erachtens nicht; sie schreiben ja selbst, dass ein Brief, wenn er vorgelesen werde, einen anderen Charakter bekomme und die dadurch entstehenden Veränderungen (z.B. durch die dialektale Aussprache) „eben auch für Modifikationen im konzeptionellen Profil der Äußerungen verantwortlich sind“ (Oesterreicher/Koch 2016, 22). Was sie aus meiner Sicht einzig betonen wollten, ist, dass Sprache prinzipiell von einer Modalität in die andere transponierbar ist (vgl. dazu auch Feilke 2016, 144). Wie sonst könnte man als literaler Mensch laut lesen, was man schreibt, und aufschreiben, was man spricht? Das bedeutet aber nicht, dass die Äußerungen im Nähe/Distanz-Kontinuum an derselben Stelle eingeordnet werden müssten. Wie wir weiter unten auch am Vergleich von Chat-Konversationen und Gesprächen sehen werden, gibt es hier wesentliche Unterschiede, die eine Eins-zu-Eins-Entsprechung in der Positionierung solcher Kommunikationspraktiken auf phonischer und graphischer Ebene verbieten (vgl. Abschnitt 4). WhatsApp-Chats beispielsweise unterliegen, stellt Jakob (2018) fest, spezifischen pragmatischen Bedingungen, und diese „Affordanzbündel“ sind nicht dieselben wie in einer Face-to-Face-Kommunikation. Insofern ist auch die Rede von „getippten Gesprächen“ (vgl. den Titel eines Beitrags von Angelika Storrer aus dem Jahr 2001) in Bezug auf die Chat-Kommunikation irreführend.

Weiter oben wurde schon festgestellt, dass die Kritik an dem Modell von Koch/Oesterreicher an verschiedene Medienbegriffe anschließt. Wenn Jannis Androutsopoulos in seinem Aufsatz „Neue Medien – neue Schriftlichkeit?“ von einer „Medienvergessenheit“ des Ansatzes spricht, „der den Medienbegriff nur auf die grafische Realisierung des Zeichensystems Sprache bezieht und die Rolle technischer Medien kaum reflektiert“ (Androutsopoulos 2007, 80), dann legt er einen technischen Medienbegriff (= Medium2) zugrunde.4 Diese Kritik lässt sich aber schnell entkräften. Denn es war gar nicht der Anspruch Koch/Oesterreichers, die Rolle technischer Medien zu „reflektieren“; sie haben (nun einmal) einen anderen Medienbegriff (vgl. dazu Dürscheid 2016). Das Problem liegt hier eher in der Medienlinguistik, die den Koch/Oesterreicher’schen Ansatz an ihrem Medienbegriff misst, nicht am Modell selbst.

Was den zweiten Vorwurf zur Medienvergessenheit betrifft, der oft fälschlich mit dem ersten gleichgesetzt wird, geht dieser von einem anderen Medienbegriff aus: Medien sind dieser Position zufolge Verfahren der Zeichenprozessierung (s.o.), sprachliche Zeichen seien von diesem Prozess (und damit den Kommunikationsbedingungen, unter denen sie produziert werden) nicht abtrennbar und nicht auf den phonischen und graphischen ‘Kode’ reduzierbar (vgl. Schneider 2016, 343). In diesem Sinne könne es keine „Medientheorie ohne Medien“ geben (so der Titel des Beitrags von Fehrmann/Linz 2009), jede Kommunikation sei medial; in der Face-to-Face-Kommunikation sei es z.B. die „Stimmlichkeit der Stimme etwa, die Mimik und Gestik, die Interaktion im gemeinsamen Wahrnehmungsraum, der Augenkontakt“ (Schneider 2016, 340), die „mehrdimensionale mediale Bezugnahmen“ (Fehrmann/Linz 2009, 138) darstellten.

Jan Georg Schneider wendet sich damit gegen einen seiner Meinung nach verkürzten Medienbegriff, in dem die Kommunikationsbedingungen (z.B. die Entkoppelung von Produktion und Rezeption) von der Medialität abgetrennt werden und der Umstand nicht berücksichtigt wird, dass es „sowohl im Mündlichen wie auch im Schriftlichen unterschiedlichste mediale Verfahren“ (Schneider et al. 2018, 62) gebe. Dieser Ansatz erinnert in gewisser Weise an das Interaktionskonzept von Hausendorf et al. (2017), nur ist jenes soziologisch, dieses medientheoretisch ausgerichtet: Auch Hausendorf et al. (2017, 41) betonen, dass die Face-to-Face-Kommunikation „weit über Mund und Ohren“ hinausgehe und hierbei nicht notwendig gesprochen werden müsse. Sie schlagen deshalb vor, auf die Termini ‘Mündlichkeit’ und ‘Schriftlichkeit’ zu verzichten und sie durch das Begriffspaar ‘Anwesenheit’ und ‘Lesbarkeit’ zu ersetzen (s.o.). Schneider seinerseits fordert dazu auf, die konzeptionelle Dimension nicht von der Medialität zu trennen und den Medienbegriff anders zu definieren. Er kritisiert, dass „in der Linguistik bis heute ein dinglicher Medienbegriff“ vorherrsche (mit dem er vermutlich sowohl Medium1 als auch Medium2 meint) und an diese Stelle ein prozessorientierter Medienbegriff (= Medium3) treten solle (vgl. Schneider 2016, 553). Daran freilich übt wiederum Thomas Krefeld Kritik (s.o.). Er wendet sich dagegen, die Materialität des Zeichens (also seine Artikulation/Audition) mit der Medialität zu identifizieren (vgl. Krefeld 2018, 12), und vertritt seinerseits einen Medienbegriff, der ansatzweise in eine technische Richtung geht (= Medium2).

Es gibt also zahlreiche Diskussionen rund um den Koch/Oesterreicher’schen Medienbegriff und verschiedene kritische Stimmen zu dem von ihnen beschriebenen Verhältnis von Medium und Konzeption. Auf einige wichtige Publikationen wurde Bezug genommen (Schneider, Feilke, Androutsopoulos, Selig, Krefeld), auf andere konnte hier nicht eingegangen werden. Deshalb sei an dieser Stelle nochmals auf den instruktiven Sammelband von Feilke/Hennig (2016) verwiesen. Darin findet man sowohl im zweiten Themenblock unter der Überschrift „Zur wissenschaftstheoretischen und -historischen Verortung“ (S. 73–186) als auch im vierten Themenblock „Zur medialen Dimension von Nähe und Distanz“ (S. 333–415) gute weiterführende Literaturhinweise zur Rezeption des Modells.

Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?

Подняться наверх