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Scham – ein Nicht-Thema?

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Es hat Nachteile, wenn wir Scham zu einem Nicht-Thema machen. Einmal ist das sehr schmerzhaft für die Minderheiten, die zu Verkörperung der Scham gemacht, verachtet und ausgegrenzt werden. Aber wir alle verlieren etwas, wenn wir die Scham zu einem Nicht-Thema machen. Denn sie ist zwar schmerzhaft, hat aber auch positive Aufgaben. León Wurmser nennt Scham die Wächterin der menschlichen Würde (Wurmser 1997, S. 74). Das heißt, wenn wir die Menschenwürde wirklich verstehen möchten, ist es hilfreich, die Scham zu kennen.

»Die Würde des Menschen ist unantastbar«, steht zwar im Grundgesetz, und das ist großartig.

Aber fragt man Leute auf der Straße: »Was ist denn die Menschenwürde?« »Ja, sie ist wichtig!« Und fragt man nach, was bedeutet sie denn? Dann kommt oft nichts. Oft schauen die Menschen nach oben, weil der Begriff »Menschenwürde« für sie abstrakt ist. Und solange dieser Begriff als etwas Abstraktes erlebt wird, bleibt er folgenlos.

Mir geht es darum, den Begriff von »oben« nach »unten«, in die Praxis zu bringen, und dazu hilft uns die Scham, weil sie psychologisch für die Würde »zuständig« ist.

Nochmal kurz zurück zum Roman von Rushdie. Er schildert, wie die Schamgefühle der Eltern in die Seele eines Kindes weitergegossen werden. Er schildert eine Geburt, im Krankenhaus; der Vater blickt auf sein soeben geborenes Kind: Er blickt voller Wut und Verachtung, als er sieht, dass sein Erstgeborenes nur ein Mädchen ist, nur ein Mädchen. Daraufhin errötete das Baby. Seit dem ersten Blickkontakt schämte es sich zu viel. Es wächst heran, geistig behindert, und wird schließlich zur Mörderin.

Soweit Rushdie, immer sehr zugespitzt. Wichtige Eigenschaften der Scham sind hier schon geschildert.

Erstens, ihre Entwicklung beginnt sehr früh. Die Vorläufer der Scham beginnen, nach Leon Wurmser, mit dem ersten Blickkontakt. Das heißt, wenn wir mit Schamgefühl zu tun haben, ist dies nicht nur eines von vielen Gefühlen, sondern eins, das ganz an den Anfang, an den Kern der Existenz geht.

Zweitens ist wichtig, ob ein Mensch mit Wut und Verachtung angeschaut wird, wie in Rushdies Romanszene, oder mit Liebe und Anerkennung. Es geht also gar nicht um komplexe Kommunikationstechniken, sondern um die Qualität des Blicks. Wie schauen wir? Das kennen wir wahrscheinlich alle: Ob die Beziehung zum Beispiel mit einem Klienten oder einer Klientin gelingt, entscheidet sich oft schon mit dem ersten Blickkontakt.

Das Interessante am Blickkontakt ist, dass wir ihn ja nur bedingt »machen« können. Es geht also nicht um aufgesetzte Kundenfreundlichkeit. Meiner Frau und mir ist das neulich passiert: Wir kommen in ein Restaurant und sind die einzigen Gäste. Es ist deutlich spürbar, dass wir den Kellner stören. Endlich kommt er dann doch auf uns zu und zieht im letzten Moment noch die Mundwinkel nach oben (offenbar hat er irgendwann ein Kundenfreundlichkeitstraining absolviert) und sagt: »Ja, bitte?«, »Bitte schön!«, »Gerne«. Das hat vorne und hinten nicht gestimmt. Die ganze Haltung signalisierte: »Lassen Sie mich in Ruhe«, darüber war aufgesetzte Kundenfreundlichkeit. Darum geht es mir nicht, sondern um eine Haltung. Und eine Haltung der Menschenwürde erreichen wir, wenn wir in Kontakt sind mit der Scham. Was ich damit meine, möchte ich mit einer anderen Begebenheit illustrieren: Ein Bekannter berichtete von einem Besuch bei der Familie der Tochter. Im Laufe des Besuchs hat das Enkelkind die Oma gehauen, bis Letztere irgendwann sagte: »Tobias, hör auf, du tust mir weh!« Jetzt schämt sich der kleine Tobias und kommt zum Opa, um zu kuscheln. Da sagt der Opa: »Tobias, du brauchst dich aber nicht zu schämen.«

Hm … würden wir so mit Trauer umgehen? Wenn ein Kind trauert, weil die geliebte Schwester gestorben ist, würden wir ihm sagen: »Du musst aber nicht traurig sein«? Natürlich darf ein Kind trauern. Und genauso, denke ich, darf Tobias sich schämen. Weil die Scham so schmerzhaft ist, steckt für ihn das Entwicklungspotenzial drin: »Das tue ich nie wieder!« Wenn wir – gut gemeint – Tobias die Scham nehmen, nehmen wir ihm die Chance für moralische Entwicklung. Ich vermute, dass der Opa die Scham seines Enkels nicht ausgehalten hat. Wenn aber der Opa in Kontakt wäre mit seiner Scham, dann könnte er die Haltung vermitteln: »Tobias, ich kenne die Scham. Ich weiß, wie schmerzhaft sie ist. Von daher kann ich einfühlen, wie du dich fühlst. Willkommen, hier darfst du sein mit deiner Scham. Ich werde deine Scham nicht banalisieren. Ich nehme dich ernst mit deiner Scham. Ich werde dich aber auch nicht zusätzlich verspotten oder verhöhnen.« – Dies ist die Haltung, um die es mir geht.

Wie finden wir in der Arbeit mit Klienten eine Haltung, sodass sie spüren: »Hier darf ich sein mit meiner Scham. Hier werde ich damit ernst genommen.« So wie wir von Trauerarbeit sprechen, so spreche ich von Schamarbeit. Beides ist schmerzhaft.

Drittens weist Rushdies Roman auch auf die transgenerationale Qualität der Scham hin:

Unbewusste Schamgefühle können über viele Generationen weiterwirken. Viele Menschen fragen sich: »Warum sind die Deutschen eigentlich so, wie sie sind?« Ich bin überzeugt, um diese Frage zu beantworte, müssen wir mindestens bis zu unserem großen Trauma zurück, dem Dreißigjährigen Krieg. Wir denken, 400 Jahre seien ewig lang her. Psychologisch ist das aber gerade sozusagen um die Ecke.

Sigmund Freud hat mal geschrieben: »Das Unbewusste ist zeitlos« (Freud 1915, S. 145). Das heißt, bei unbewussten Prozessen brauchen wir ein ganz anderes Zeitkonzept …

Wer das damals überlebt hat, 30 Jahre – der war wahrlich traumatisiert. In manchen Gegenden überlebte ein Drittel der Bevölkerung oder noch weniger. Magdeburg zum Beispiel wurde fast völlig ausgelöscht. Wir wissen heute aus der Traumaforschung und Familientherapie, dass Überlebende von Folter, Vergewaltigung, auch die Täter, mit massiven Schamgefühlen zurückbleiben. Und wenn die nicht aufgearbeitet werden, wirken sie weiter und weiter. Das hat dann (natürlich in Kombination mit vielen anderen Einflüssen) zum Ersten Weltkrieg geführt, zur Weimarer Republik, zum Zweiten Weltkrieg, Holocaust und so weiter und so weiter.

Dieses unbewusste Weitergießen von Schamgefühlen, durch immer neue, fortgesetzte Beschämung, dies haben wir über Jahrhunderte praktiziert, in der Schule, im Umgang miteinander. Ich finde, es reicht! Es ist wirklich an der Zeit, damit aufzuhören und Würde in die zwischenmenschlichen Beziehungen einzuführen, in der Beratung, in der Schule, im Umgang miteinander in West und Ost u. v. a.

Vom Träumen und Aufwachen

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