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Universalität von Scham

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Scham ist universell. Schon die im Alten Testament beschriebenen allerersten Menschen erlebten Scham. Das heißt, Scham beginnt dort, wo der Mensch beginnt. Jeder Mensch kennt die Scham (abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen, wenn etwa so etwas vorliegt, das wir einen »Gehirndefekt« nennen). Jeder Mensch kennt die Scham, was nicht bedeutet, dass wir die Schamgefühle unseres Gegenübers so ohne Weiteres erkennen.

Jeder Mensch kennt die Scham, aber sie ist individuell unterschiedlich. Meine Geschichte mit Scham ist anders als Ihre: weil wir verschiedene Familiengeschichten haben, weil wir in verschiedenen Teilen Deutschlands aufgewachsen sind usw. Aber es geht noch weiter:

Boris Cyrulnik (2011), ein französischer Neuropsychiater, schätzt, dass jedes fünfte oder sechste Kind mit einer genetischen Besonderheit geboren wird, die dazu führt (übersetzt in die Metapher, die ich hier verwende), dass sie sozusagen wie kleine Gefäße sind. Das müssen wir erst einmal akzeptieren. Es hilft nicht, einen »kleingefäßigen« Menschen jetzt noch zusätzlich zu beschämen: »Stell dich nicht so an!«, »Jetzt seien Sie mal nicht so überempfindlich!« Es hat seine guten Gründe, dass manche Menschen wie ein kleines Gefäß sind: familiengeschichtliche, gesellschaftliche, häufig auch genetische Gründe.

Dies muss jedoch kein lebenslängliches Schicksal sein. Stellen wir uns vor, ein »kleingefäßiges« Menschenkind wird geboren in eine Familie, in der die Eltern liebevoll, würdeachtend miteinander umgehen. Dann kann das Gefäß allmählich weiter werden. Aber wenn die Eltern vielleicht selber traumatisiert sind oder das Kind schlagen oder verächtlich mit ihm umgehen, dann wird das Kind gezwungen, auf seine »Kleingefäßigkeit« zurückzuschrumpfen. Und Jahre, Jahrzehnte später, wenn so ein »kleingefäßiger« Mensch zu Ihnen in Beratung oder Therapie kommt, ist es wichtig, dass Sie mit ihm so umgehen, dass das Gefäß weit werden kann. Und vielleicht erlebt ein Klient bei Ihnen zum allerersten Mal in seinem Leben, wie es ist, ein großes Gefäß sein.

Hinzu kommen Unterschiede, wofür Männer bzw. Frauen sich jeweils schämen und womit sie möglicherweise unterschiedlich umgehen; dazu gleich mehr.

Außerdem gibt es kulturspezifische Unterschiede, d. h., wenn wir mit Menschen aus anderen Kulturen, aus anderen Ländern, aus anderen Schichten (als denen, denen wir selbst angehören) arbeiten, dann ist die Scham vielleicht ganz anders angeordnet, es gibt andere Umgangsweisen, Grenzen, Begriffe. Da hilft es nicht zu sagen: »Mein Umgang mit Scham ist universell gültig.« Zum Beispiel tragen bei den Tuareg in Nordafrika traditionell Männer einen Gesichtsschleier, und wenn ein traditioneller Tuareg in der Öffentlichkeit den Schleier abnehmen muss, dann fühlt er sich so, wie wir uns fühlen würden, wenn wir plötzlich nackt herumlaufen müssten. Ebenso wenig hilfreich wäre die Einstellung: »Der west- (bzw. ost)deutsche Umgang mit Scham gilt für alle!«

Wenn wir die Schamgrenze unseres Gegenübers nicht achten, besteht die große Gefahr von Missverständnissen, Kontaktabbruch oder Schlimmerem. Weil Scham so schmerzhaft ist; sie ist eine der stärksten Emotionen überhaupt. So stark, dass wir im Zustand von massiver akuter Scham vielleicht gar nicht mehr klar denken können; vielleicht nur noch stammeln. Stattdessen treten körperliche Reaktionen auf wie: Schwitzen, Rotwerden oder Die-Hände-vor-die-Augen-Halten. So zeigt auch die Körpersprache, dass zu viel Scham die Beziehung unterbricht; sie isoliert, macht einsam, trennt, entsolidarisiert. Wenn unser Gegenüber zu viel Scham erlebt, dann ist es »weg«, dann können wir in der Beratung noch so wichtige Sätze sagen, das hört unser Gegenüber eventuell gar nicht.

Die Körperhaltung bei Scham ist interessant: Die betroffene Person wendet sich ab, schaut weg und krümmt sich nach unten. Das weist auf eine wichtige Eigenschaft der Scham hin; dies bringt auch die deutsche Sprache zum Ausdruck: »Ich schäme mich«, »Er schämt sich« usw., das heißt: Die sich schämende Person kreist um sich selbst.

Psychologisch gesehen, sind Narzissmus und Scham häufig verbunden. Nehmen Sie zum Beispiel einen Patienten, der Jungen sexuell »missbraucht« hat und seinem Therapeuten wieder und wieder sagt: »Ich schäme mich«. Er kreist nur um sich selbst. Zwar ist es wichtig, dass er sich schämt (dazu gleich mehr), aber solange er sich nur schämt, bleibt dies ein narzisstisches Um-sich-selbst-Kreisen.

Bei Scham denkt man oft an etwas ganz Intimes. Und doch kann die Scham in jeder Beziehung und jeder Begegnung mit Menschen auftauchen. Sie ist der soziale Affekt; Scham ist das Gefühl, welches das Zwischenmenschliche reguliert. – Was bedeutet das für die zwischenmenschlichen Beziehungen einer Gesellschaft, wie zum Beispiel der deutschen, die das Bewusstsein für die Scham so massiv abgeschafft hat? Dies hat verheerende Auswirkungen, das sehen wir jeden Tag auf der Straße, in der Politik …

Scham und Beschämung werden oft verwechselt; es ist mir wichtig, sie zu unterscheiden. Ich beginne mit einem leeren Glas und erzähle ein Beispiel aus der Schule. Sagen wir: Ein Schüler hat etwas geklaut aus der Schultasche einer Mitschülerin, z. B. einen Apfel. Dafür schämt er sich.

Vom Träumen und Aufwachen

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