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Scham im Gehirn

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Was passiert dabei im Gehirn? Ich erinnere mich, als Schüler stehe ich vorne an der Tafel, ich gebe eine ungeschickte Antwort, meine Mitschüler lachen, und dann geht gar nichts mehr. Vor drei Minuten noch wusste ich diese verdammte Physikformel, aber plötzlich, im Zustand von Ungeschicktheit (die Scham darüber ist meine eigene Leistung) plus Ausgelachtwerden (Beschämung von außen) kann ich mich nicht an die Formel erinnern. Zu viel Scham macht das, was wir umgangssprachlich »dumm sein« nennen. Gehirnforscher wie Donald Nathanson sagen dasselbe etwas eleganter: Dies ist wie ein Schock, der höhere Funktionen der vorderen Hirnrinde zum Entgleisen bringt. Höhere Funktionen der vorderen Hirnrinde: Dort sind z. B. Mathe- und Physikformeln, Sprachvermögen, die »Zehn Gebote«, moralisches Bewusstsein gespeichert (Nathanson 1987, S. 26).

Schön, dass es dies gibt; aber im Zustand von Schamüberflutung sind diese Regionen nicht mehr verfügbar, weil das sogenannte Reptilienhirn die Regie übernimmt. Es geht nur um »Weg von der Angstquelle, um jeden Preis!« durch Angreifen, Fliehen oder Sichverstecken, Im-Abgrund-versinken-Wollen.

Wir kennen das vermutlich alle: Es gibt eine schamauslösende Situation, zunächst passiert scheinbar gar nichts – und plötzlich eine Reaktion wie vom anderen Planeten, weil auch tatsächlich ganz gegensätzliche Gehirnregionen jeweils im Vordergrund stehen.

Es gibt noch weitere Ergebnisse aus der Gehirnforschung, die den Moment akuter Scham als extreme Fehlregulation von Sympathikus und Parasympathikus beschreiben. Diese beiden Teile des autonomen Nervensystems arbeiten normalerweise abwechselnd. In der Regel wird morgens der Sympathikus hochgefahren, mit der Folge, dass Herz, Lunge, Gehirn mehr arbeiten. Abends wird der Parasympathikus hochgefahren und sein Gegenspieler nach unten; daher werden Herz und Gehirn ruhiger: So entsteht ein Wechsel zwischen »aktiv« und »passiv«, Anspannung und Entspannung, Sympathikus und Parasympathikus.

Im Zustand von massiver akuter Scham sind nun beide Systeme extrem hochgefahren: extrem aktiv und zugleich extrem passiv. Hierbei gibt es starke Übereinstimmung mit dem traumatischen Prozess, daher ist auch der Begriff »traumatische Scham« stimmig.

Extrem aktiv und zugleich extrem passiv: In diesem fehlregulierten Zustand fällen wir eine Entscheidung, wie wir auf die Schamszene reagieren. Dies konnten wir gut in einer kleinen Studie beobachten: Sportunterricht, Schüler spielen Fußball. Ein Junge macht einen Fehler, spielt einen schlechten Pass und wird ausgelacht von seinen Mitschülern. Ein paar Momente später konnten wir sehen, wie dieser ausgelachte Schüler plötzlich brutal einem Mitschüler in die Knochen tritt. Das heißt, er springt aus der Scham in die Gewalt.

Dies ist das Schwierige bei der Scham: Kaum jemand sagt: »Ich schäme mich.« Was wir stattdessen von außen beobachten, sind andere Verhaltensweisen. Weil alles andere erträglicher ist als die Scham – jedenfalls solange wir keinen bewussten Umgang mit ihr lernen (wir tun ja so, als gäbe es sie nicht, sie ist ja eine tabuisierte Emotion).

Vom Träumen und Aufwachen

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