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Die Psychologie der Scham

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Die eigentliche Scham beginnt ab Mitte des zweiten Lebensjahres, wenn eine bestimmte Gehirnregion sich entwickelt, die uns Menschen befähigt, wie von außen auf uns selbst zu blicken (Selbstobjektivierung). Genau dieser Entwicklungsschritt wird übrigens im Alten Testament beschrieben, in der Geschichte von Adam und Eva: Sie waren nackt, hatten kein Bewusstsein davon und schämten sich nicht. Aber dann verändert sich etwas: Sie aßen eine Frucht vom Baum der Erkenntnis, und plötzlich erkannten sie, dass sie nackt waren. Sie blickten auf sich selbst und schämten sich.

Übertragen auf mein Beispiel: Der Junge blickt auf sich und erkennt, »Oh, ich bin ja ein Dieb« – und schämt sich. Insofern ist die eigentliche Scham wie eine eigene Leistung, sie ist wie eine sprudelnde Quelle. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Es kann schon sein, dass wir dem Jungen sagen müssen: »Stopp, es ist nicht in Ordnung zu stehlen!« Was nicht bedeutet, dass wir ihn beschämen dürfen.)

Scham ist eine eigene Leistung des sich Schämenden, die es anzuerkennen gilt. Das heißt, Ihre Klienten, die zu Ihnen kommen, in Beratung oder Therapie, bringen ihr mehr oder weniger volles Glas an Scham mit. Dies ist ihre Scham, sie gilt es anzuerkennen. Wenn wir mit Menschen arbeiten, ist es nicht unser Auftrag, unsere eigene Scham »los«zuwerden, indem wir sie, metaphorisch gesprochen, unserem Gegenüber eingießen. – Dies geht ja ganz einfach, wir kennen das:

Erstens werden Menschen beschämt, wenn wir sie missachten, etwa durch verächtliche Haltung, arrogante Sprache oder indem wir ihre Lebensleistung vom Tisch wischen. Indem wir, mit anderen Worten, ihr Grundbedürfnis nach Anerkennung verletzen.

Zweitens beschämen wir Menschen, wenn wir ihr Grundbedürfnis nach Schutz verletzen, etwa indem wir etwas, was privat ist, in die Öffentlichkeit zerren, etwas Körperliches oder Seelisches.

Drittens werden Menschen beschämt, wenn wir ihnen zu verstehen geben, sie seien »falsch«; zum Beispiel (aus Sicht der dominierenden Werte der alten Bundesländer:) nicht genügend jung, schön, schlank, fit, leistungsfähig, selbstoptimiert, erfolgreich u. v. a. Wenn wir also ihr Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit verletzen.

Viertens beschämen wir Menschen, wenn wir ihr Grundbedürfnis nach Integrität verletzen, z. B. indem wir all das, was ihnen über Jahrzehnte wichtig war, für nichtig erklären. Oder wenn wir sie zu Zeugen von Unrecht machen, wie dies durch die Massenmedien tagtäglich geschieht: Etwa wenn Otto Schily, kurz nach der ersten gesamtdeutschen Wahl, eine Banane in die TV-Kamera hält, um all die Wähler verächtlich zu machen, die nicht für seine SPD gestimmt haben.

Wenn wir die Art und Weise, wie die beiden Deutschland »wiedervereinigt« wurden, aus der Sicht dieser vier Grundbedürfnisse betrachten, wird m. E. deutlich, dass sie mit massiven Beschämungen verbunden war, für alle. Auch wenn ich dies »nur« aus der Ferne, vom Schwarzwald aus, und nur vermittelt über die Medien verfolgt habe: Ich schäme mich noch heute für vieles, was in dieser Zeit passiert ist.

Zurück zur Psychologie der Scham.

Es gibt Menschen, deren Glas, metaphorisch gesagt, halb leer ist; hier könnte man noch eingießen. Aber es gibt Menschen, die sind schon übervoll mit Schamgefühlen. Was passiert dann? Schamforscher wie Micha Hilgers unterscheiden zwischen einerseits einem gesunden Maß an Scham (»gesunder Scham«), wenn die Psyche des Menschen, das Gefäß sozusagen, halb leer oder halb voll ist; wenn er oder sie noch damit umgehen und daraus lernen kann. Im Unterschied dazu steht »traumatische Scham«, wenn das Ich wie überflutet wird, ertrinkt in Schamgefühlen. Ertrinkende zeigen ja manchmal ganz unerwartete Reaktionen, schlagen z. B. um sich. Dasselbe passiert bei traumatischer Scham. Wenn wir mit Schamgefühlen überflutet werden, sind dieselben Gehirnregionen aktiv wie beim Ertrinkenden (vgl. Marks 2021, S. 79).

Nehmen wir z. B. zwei Schüler, die durchs Abitur gefallen sind; beide schämen sich. Der eine von beiden nimmt Nachhilfe, belegt Ferienkurse, er lernt, übt, büffelt und macht ein Jahr später ein super Abitur. Sein Freund, auch durchgefallen, geht auf den Dachboden und erhängt sich. Beide Male Scham; in dem einen Fall ein ganz starker Entwicklungsanstoß. Weil die Scham so schmerzhaft ist, ist sie einer der stärksten Entwicklungsimpulsgeber, in einem gesunden Maß. Wenn aber zu viel Scham da ist, traumatische Scham, können Chancen sich nicht verwirklichen, und es geschieht etwas ganz anderes.

Vom Träumen und Aufwachen

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