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Scham und Abwehr: Projektionen, Ressentiments, Wut, Gewalt

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Wir alle lernen, Scham durch etwas anderes zu ersetzen, zum Beispiel in der Schule, in der Ausbildung, durch unseren Filmhelden u. v. a. Überall werden uns verschiedene Möglichkeiten gezeigt, Schamgefühle nicht zu spüren, sondern abzuwehren, durch etwas anderes zu ersetzen. In der Fachliteratur, z. B. bei Leon Wurmser (1997) und Micha Hilgers (1997), finden Sie ganze Kapitel über häufige Abwehrmechanismen. Nachfolgend möchte ich einige Beispiele geben für Verhaltensweisen, die den Zweck haben, Scham sozusagen »los«zuwerden:

•Projektion: Das, wofür man sich schämt, wird auf andere projiziert. Etwa in der Schule: Ein Schüler schämt sich für seine homosexuellen Fantasien und projiziert dies auf einen Mitschüler: »Das ist eine schwule Sau.« In einem Seminar für Führungskräfte berichtet eine Teilnehmerin von einem Mitarbeiter ihres Teams als »faulem Sack«. Es stellt sich heraus, dass sie selber extrem erschöpft ist und erholungsbedürftig. Das erlebt sie als Schwäche, wofür sie sich schämt. Dies ist im Grunde ihr eigenes Thema, aber sie projiziert es auf einen Kollegen.

•Ein weiterer Abwehrmechanismus ist die Umwandlung von »passiv« nach »aktiv«. Um die eigene Scham nicht fühlen zu müssen, werden andere gezwungen, sich zu schämen. Dazu werden sie beschämt, verachtet, lächerlich gemacht, zum Gespött gemacht, in die Ecke gestellt, abgewertet, gemobbt, ausgegrenzt u. v. a. Je nach Umfeld kann dies auf eine ganz subtile Weise geschehen. Wenn ich etwa auf mein Studium in den 70er-Jahren zurückblicke, merke ich, dass ich mich oft so dumm gefühlt habe, wenn der Professor Dr. vorne mit seinen Fremdwörtern, Fachausdrücken und verschachtelten Sätzen sprach. Erst in Nordamerika lernte ich Professoren kennen, die sich verständlich ausdrücken; das kannte ich bis dahin gar nicht. Arroganz ist eine verbreitete Abwehrform. Leon Wurmser schreibt: »Man stolziert wie ein Gockel und zwingt andere, sich dumm, klein, hässlich zu fühlen« (Wurmser 1997, S. 306).

•Ressentiments: Man verbarrikadiert sich, vergräbt sich voller Verachtung, Groll, Rachsucht und unerbittlichem Hass auf bestimmte Gruppen oder »die da oben«. Die neuen Medien bieten ganz neue Möglichkeiten, ressentimentgeladen ganz um sich selbst kreisen. Im Internet, wo alles Mögliche und Unmögliche angeboten wird, kann man sich mit wenigen Klicks Bestätigung und Gleichgesinnte suchen, mit denen man sich kollektiv-narzisstisch als Subkultur in einer selbst gebastelten Scheinwelt verbarrikadiert. Für Außenstehende ist es oft schwer, gegen Ressentiments mit wissenschaftlich belegten Fakten zu argumentieren: Diese Fakten werden als Fake News oder Produkte der »Lügenpresse« und dergleichen zurückgewiesen.

•Größenfantasien und Idealisierung: Man identifiziert sich mit einem Sportverein oder einer Nation, an deren vermeintlicher Größe man teilhaben möchte. Man träumt sich aus seiner erniedrigenden Existenz heraus, indem man sich oder seine Gruppe als großartig fantasiert.

•Wiederherstellung der verlorenen Ehre: Was tun Menschen nicht alles, wenn sie in Schande geraten sind! In Erich Kästners Roman Das fliegende Klassenzimmer springt der Schüler Uli mit dem Regenschirm vom Dach des Schulhauses, um nicht länger von Mitschülern als Feigling gehänselt zu werden. Wie viele Generationen von Männern sind in den Krieg gezogen oder haben sich an Kriegsverbrechen beteiligt, um nicht als Feiglinge verachtet und ausgegrenzt zu werden! Wie viele haben sich duelliert für die Ehre!

•Scham wird häufig durch Trotz, Wut oder Gewalt abgewehrt. Dies soll durch ein Experiment illustriert werden: Zu Beginn des letzten Krieges USA gegen den Irak (dieser Krieg richtete sich gegen Saddam Hussein), wurden in den USA junge Männer befragt: »Was hältst du von diesem Krieg, und was für ein Auto würdest du gerne kaufen?« Das Experiment war so aufgebaut, dass die jungen Männer in zwei Gruppen eingeteilt wurden. Die eine Hälfte wurde ganz normal befragt, die andere Hälfte wurde kurz vor der Befragung durch verstecktes Theater beschämt; das merkten die jungen Männer gar nicht bewusst. Kurz danach wurden sie befragt, und die Ergebnisse wurden verglichen. Dabei zeigte sich, dass die jungen Männer, die eben durch verstecktes Theater beschämt worden waren, deutlich häufiger als die Nichtbeschämten den Krieg befürworteten und den Kauf von diesen protzigen, hochrädrigen Pick-ups mit den dicken Auspuffen, die man samstagabends in US-Kleinstädten auf und ab fahren sieht, favorisierten (vgl. Knopf 2006, S. 12). Sodass wir psychologisch sagen müssen: Hochmut kommt häufig nach dem Fall. Erst die Beschämung, Erniedrigung, Demütigung und danach das protzige, hochmütige, arrogante oder gewalttätige Verhalten – dieser psychologische Mechanismus wird zum Beispiel systematisch benutzt in der Grundausbildung in militaristischen Organisationen, etwa bei den Marines, einer sehr brutalen Militäreinheit. In der Grundausbildung werden die Rekruten erst einmal gedemütigt, bloßgestellt, lächerlich gemacht, entwürdigt, beschämt. Wenn sie dann übervoll sind mit Schamgefühlen, kommt die Organisation und sagt: »Wenn ihr strammsteht und gewaltbereit seid, dann seid ihr richtige Männer!« Diese Gewaltbereitschaft kann dann genutzt und gerichtet werden. Weil die Scham so passiv ist, weil sie sich so ohnmächtig anfühlt, ist man lieber aktiv; ist man lieber Täter als der letzte Dreck. Deswegen wird Scham häufig durch Trotz, Wut, Gewalt abgewehrt. Je nach Umfeld kann das auch Gewalt »nur« durch Worte sein. – Seit ich vor Jahrzehnten angefangen habe, Volkshochschulvorträge zu halten, mache ich häufig folgende Beobachtung: Der Vortrag ist zu Ende, die Diskussion ist ebenfalls beendet, der Referent verabschiedet sich – und dann, ganz hinten, nahe der Ausgangstür, geht noch ein Arm hoch. Es sind immer ältere Männer, vermutlich Kriegsveteranen. Wenn sie dann das Wort erhalten, sagen sie nicht etwa, was ihnen interessant oder wichtig war, sondern: »Dies hat gefehlt, jenes war falsch.« So ein Verhalten ist eine bösartige Form von verbaler Gewalt, denn man kann ja nichts mehr ändern, die Zeit ist ja abgelaufen. Verbale Gewalt wird häufig verharmlost: »Das wird man doch mal sagen dürfen.« Solche verbalen Heckenschützen kennen Sie vielleicht aus der Beratung: Wir denken vielleicht, es läuft ein guter Beratungsprozess. Wir gehen mit dem Klienten oder der Klientin zur Tür, verabschieden uns, und dann dreht er oder sie sich noch mal um und sagt: »Das hier bringt doch alles nichts!« Je nach Umfeld, je nach Milieu wird Scham eventuell auch durch körperliche Gewalt abgewehrt. Sehr deutlich wurde das in der Befragung von jugendlichen Straftätern oder von jungen Männern, die alte Menschen ermordet hatten (vgl. Marks 2021, S. 106 f.): »Warum hast du das getan? Du kanntest ihn bzw. sie doch gar nicht?« Eine Antwort lautete: »Der hat mich so komisch angeguckt!« Nur ein Blick! Das wurde mir in einer Fortbildung mit Wachpersonal eines Gefängnisses bestätigt; sie sagen: »Manchmal, wenn wir über den Gefängnishof gehen, genügt ein falsches Wort, ein falscher Blick, und uns fliegt der Laden um die Ohren.« Nur ein Blick! Ein anderer jugendlicher Mörder antwortet: »Ich wollte meinen Kumpels beweisen, dass ich kein Feigling bin.« Er ist lieber ein Mörder, als vor seinen Kumpels als Feigling dazustehen! Was tun wir Menschen unter Umständen nicht alles, um Scham – oder Schande, wie es in vielen Kulturen heißt – zu vermeiden.

Sie merken schon: Bei den bisher genannten Abwehrmechanismen stand eher der Sympathikus, die aktive Seite, im Vordergrund. Die aktive Seite passt eher zur traditionellen Jungen- und Männerrolle. Jetzt noch Beispiele für die passive Seite, wobei der Parasympathikus eher im Vordergrund steht:

•Sich-Verstecken: Eine Seminarteilnehmerin schilderte: »Ich stand auch einmal vorne an der Tafel und wurde ausgelacht, und dann bin ich kollabiert.« Es kann auch sein, dass wir zwar nicht körperlich kollabieren, sondern »nur« innerlich. Etwa im Kunstunterricht: »Wenn ich kein Bild male, kann ich auch nicht vorgeführt werden. Ich bin ja nicht kreativ.« Lehrer berichten in Fortbildungen immer wieder: »Bei mir ist eine Schülerin, ich lese ihren Namen im Klassenbuch, und ich weiß nicht, wer das ist.« Das sind Menschen, die schon als Kinder gelernt haben, sich unsichtbar zu machen. Die Botschaft lautet etwa: »Wenn der Lehrer mich nicht sieht, kann ich auch nicht vorgeführt werden.« Wir machen uns ganz klein, zeigen unsere Talente nicht. Stellen unser Licht unter den Scheffel, aus Angst, ausgelacht zu werden. Wer einen beschämenden Sportunterricht hatte, geht dann vielleicht nicht mehr in der Öffentlichkeit tanzen oder treibt keinen Sport. Wer während des Stimmbruchs vorsingen musste und ausgelacht wurde, der singt später vielleicht nie wieder. Was kommt da alles nicht in die Welt!? Was bleibt da verborgen aus Angst, ausgelacht zu werden!?

•Lügen: Wenn das Umfeld so ist, dass es als existenzielle Bedrohung erlebt wird, bei einem Fehler ertappt zu werden (das genau bedeutet traumatische Scham: Überlebensangst), dann kann man nicht einfach sagen: »Ja, ich habe diesen Fehler gemacht.« Vielmehr muss man dann lügen, schummeln, abschreiben, die Schuld anderen zuweisen, Rechtfertigungen vorbringen u. v. a.

•Perfektionismus: Aus Angst, ausgelacht zu werden, gibt man alles, um perfekt zu sein.

•Ein weiterer Abwehrmechanismus ist emotionale Erstarrung: »Schwache«, weiche Gefühle wie Liebe, Güte, Empathie, Hoffnung, Trauer, Schmerz oder Scham zu zeigen macht ja verletzbar. Da ist es scheinbar viel sicherer, sich hinter einer Fassade von Coolness zu verbergen. Lehrer wissen, wie das ist, vor 20 oder 30 »coolen« Schülergesichtern zu unterrichten: ohne Nicken, ohne Lächeln, ohne Resonanz. Emotionale Erstarrung wurde häufig beobachtet bei Überlebenden von traumatischen Erfahrungen, zum Beispiel bei Kriegsveteranen. Dies kann zu einer alles durchdringenden, chronischen Langeweile werden. Diese wiederum kann zu Depressionen führen, im Extrem bis zum Suizid. Wenn Rot die Farbe der Scham ist, gilt häufig: »Lieber tot als rot.«

•Schließlich Sucht: Eine Schülerin hat mich darauf hingewiesen, dass sie sich ritzt, um Schamgefühle nicht zu spüren. Dies kann zu einem Teufelskreis führen, der auch im Roman Der kleine Prinz beschrieben wird. Darin sagt der Alkoholiker, zusammengefasst: »Ich trinke, weil ich mich schäme, und ich schäme mich, weil ich trinke.« Ich habe trockene Alkoholiker mehrfach an langen Wochenenden begleitet. Es war immer sehr berührend, wenn die Teilnehmenden von diesem jahrzehntelangen Teufelskreis sprachen.

Soweit einige verbreitete Abwehrmechanismen; die Liste ließe sich fortsetzen. Manchmal frage ich in berufsspezifischen Fortbildungen: »Welche Abwehrmechanismen sind in Ihrem Berufsfeld verbreitet?« Hierauf antworten zum Beispiel Ärzte oder Rechtsanwälte häufig: »Fremdwörter«. Vieles könnte man gut auch auf Deutsch sagen. Aber wenn man es auf Lateinisch sage, fühlt man sich sicherer, während Zuhörende gezwungen werden, sich dumm und inkompetent zu fühlen.

Die Pointe bei den verschiedenen Abwehrmechanismen ist, dass jedes System (z. B. eine Berufsgruppe, Subkultur, Clique usw., aber auch jede Gesellschaft) sich aus den vielen möglichen Abwehrmechanismen wie aus einem ABC ein Set von Verhaltensweisen zusammensetzt, die hier gewünscht sind. Eben etwa Fremdwörter in bestimmten Akademikerkreisen.

Wenn ich auf das gesellschaftliche Klima der alten Bundesländer, in denen ich groß geworden bin, zurückblicke, dann fallen mir unmittelbar z. B. folgende erwünschte Abwehrformen ein: Projektion und Perfektionismus: Alles Unerwünschte konnte bequem auf die andere Seite des sogenannten Eisernen Vorhangs projiziert werden. Wie köstlich amüsierten sich viele Wessis über die sogenannte Primitivität der »Ostzone« bzw. der »sogenannten DDR« und ihre Autos. Arroganz und Coolness: Dies beginnt schon mit der Art und Weise, auf die viele Auto fahren. Eine französische Journalistin schrieb einmal, dass viele Franzosen den Deutschen nicht übelnähmen, dass, sondern wie sie Mercedes fahren.

Soweit einige weitere Beispiele für verbreitete Schamabwehrmechanismen. Vielleicht haben Sie den einen oder anderen in Ihrer jeweiligen Arbeit mit Menschen auch schon erlebt. Ich hoffe, es wurde deutlich, wie unbewusste und abgewehrte Schamgefühle häufig das eigene Leben oder/und die zwischenmenschlichen Beziehungen vergiften. An dieser Stelle mache ich in Seminaren eine Arbeitsgruppenphase. Die Teilnehmenden bilden Dreiergruppen und tauschen ihre Beobachtungen zu folgender Frage aus: »Hinter welchen Verhaltensweisen verbirgt sich vielleicht die Scham meiner Klienten oder Klientinnen?« Nach 20 Minuten tragen wir zusammen, was besprochen wurde, und dann wird es immer richtig schwer, weil deutlich wird: Abgewehrte Schamgefühle vergiften häufig die zwischenmenschlichen Beziehungen. Zum Beispiel berichten Pflegekräfte an dieser Stelle typischerweise: »Ich mache die Tür auf, um einen alten Menschen zu pflegen, und werde bespuckt, gekratzt, beleidigt, geschlagen.« Das ist Alltag für viele Pflegekräfte. Um auf die Metapher zurückzukommen: Wenn ich als Pflegekraft ausgeschlafen, gesund, gut in Tagesform bin, wenn mein Glas halb leer ist, kann ich das vielleicht noch gut abfedern. Aber was ist, wenn mein Glas schon randvoll ist, ehe ich überhaupt an die Tür klopfe und sie öffne?

Es gibt ein spannendes Buch über Gewalt in der Pflege von Katharina Gröning (2001). Sie beschreibt, dass Pflegekräfte nicht gewalttätig handeln, weil sie »böse« sind, sondern (übersetzt in meine Metapher) weil das Glas schon randvoll war, ehe sie an die Tür geklopft haben: weil sie im Stress sind, weil die Rahmenbedingungen nicht stimmen.

Ich kenne viele Pflegekräfte, die sagen: »Um meinen Arbeitsplatz zu behalten, muss ich schnell, schnell machen. Ich schäme mich, so mit den alten Menschen umzugehen!« Oft sind es die Rahmenbedingungen, die uns in die Scham zwingen.

Wenn also mein Glas schon randvoll ist (zum Beispiel aufgrund der Pflegebedingungen) und ich dann noch zusätzlich bespuckt, gekratzt, beleidigt, geschlagen werde, dann kann es geschehen, dass ich selber in die Schamüberflutung rutsche. Jetzt haben wir zwei Personen vis-à-vis, jede im Modus des Reptilienhirns – dies kann zu einem eskalierenden Konflikt führen.

Abschließend schildere ich denselben Mechanismus aus einem anderen Berufsfeld.

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