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Die Beerdigung

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Es ist alles eine Sache der Auslegung.

Der Wecker klingelte. Das tat er immer um diese Uhrzeit. Wann sollte er auch sonst klingeln? Murrend richtete Clema sich auf, schaute auf den Wecker und schaltete ihn aus. Anschließend legte sie sich wieder hin.

„Was war heute noch einmal für ein Tag?“, fragte sie sich. Doch dann fiel es ihr wieder ein: „Oh, nein! Es ist Montag! Schnell raus aus dem Bett! Die Arbeit wartet nicht!“

Schnell huschte sie unter die Dusche und rannte anschließend zum Frühstückstisch, um sich auf dem Weg zur Tür noch ein Brot zu schmieren. Eilend zog sie sich an. Schon war sie aus dem Haus, wo sich ihr Apartment befand. Suchend schaute sie sich nach ihrem Bus um.

„Na, toll!“, schimpfte sie, als sie ihn davonfahren sah, „Jetzt hab ich ihn schon wieder verpasst!“

Also rannte sie den ganzen Weg zur Arbeit, während sie ihr Brot auf aß. Endlich war sie in der Talstraße, wo sich der Firmensitz der Baufirma, für die sie arbeitete, befand, angekommen.

Schon flitzte sie durch die Drehtür in die Empfangshalle.

„Guten Morgen, Frau Malis, geht es Ihnen gut?“, wurde sie von der Empfangsdame begrüßt.

Clema lächelte und meinte: „Ja, Frau Scherer, mir geht es gut. Ist Post für mich angekommen?“

„Nein, aber die Post hat heute auch Verspätung, genau wie Sie. Aber, falls Etwas für Sie dabei sein sollte, werde ich Ihnen natürlich sofort Bescheid geben“, erklärte Frau Scherer.

Lächelnd wandte sich Clema von ihr ab und ging zum Aufzug, der gerade seine Türen auf machte. Sie erwischte ihn gerade noch so.

„Erster Stock: Bauamt“, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher im Fahrstuhl. Die Türen öffneten sich, und einige Leute stiegen aus. Das ging dann so eine Weile weiter, bis zum sechsten Stock. „Sechster Stock: Firmensitz“, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher erneut. Die Aufzugtüren öffneten sich und Clema stieg aus. Nun stand sie in einem langen Gang, der von lauter Büros mit Glaswänden geschmückt war.

„Frau Malis, Sie zu so später Stunde noch hier anzutreffen ist wirklich erstaunlich!“, scherzte ihr Chef, allerdings ironisch gemeint.

Clema entschuldigte sich: „Es tut mir Leid, Herr Folg, aber ich habe meinen Bus verpasst, und“

„Warum Sie so spät sind, interessiert mich nicht! Es interessiert mich nur, dass Sie zu spät sind, und zwar nicht zum ersten, nein, auch nicht zum zweiten, geschweige denn zum dritten Mal! Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie bereits acht Mal zu spät gekommen sind, einschließlich diesen Males sogar neunmal! Was denken Sie sich eigentlich, wie gut es unserer Firma tun würde, wenn das hier jeder tun würde!“, unterbrach ihr Chef sie.

Clema wurde etwas wütend und entgegnete trotzig: „Wenn Sie mich noch weiter davon abhalten, meine Arbeit zu tun, wird Ihnen die Firma sicher dankbar sein, oder nicht?!“

Nun war er ruhig.

Mit einem Lächeln auf dem Mund ging sie den Gang weiter entlang in die Richtung, wo ihr Büro lag.

„Das wird noch so seine Konsequenzen haben, Frau Malis!“, rief ihr direkter Vorgesetzter, Herr Folg, ihr nach.

Sie verdrehte nur die Augen, ohne auf ihn zu achten.

Kaum war sie in ihrem Büro angekommen, setzte sie sich, wie jeden Arbeitstag, an ihren Computer und begann zu arbeiten.

Nur wenige Minuten später klopfte es an ihre Tür.

„Herein!“, rief sie.

Frau Scherer trat in ihr Büro und sagte: „Da ist gerade ein Brief für Sie angekommen, Frau Malis.“

Während sie ihren Kaffee, den sie sich gerade frisch gemacht hatte, austrank, machte sie Frau Scherer ein Zeichen, dass jene ihr den Brief geben sollte. Nachdem sie ihr den Brief gegeben hatte, ging Frau Scherer auch wieder.

„Na, dann wollen wir mal sehen. Komisch: Absender: Beerdigungsinstitut Kaller. Wieso um alles in der Welt denn das?“, murmelte sie in sich hinein.

Dann öffnete sie den Brief mit ihrem Brieföffner, der neben ihrem Computer lag. Nun zog sie einen Zettel heraus. Es war ein Zeitungsausschnitt. Darauf stand: „Am 19. Juli verstarb Daphne Malis, Gott habe sie selig für immer. Die Beerdigung findet am Donnerstag, 23. Juli um 14:00 Uhr im Fardes-Friedhof statt. Wir bitten alle Angehörigen dort zu erscheinen, da es nach der Beerdigung zur Testamentseröffnung kommen wird. Beerdigungsinstitut Kaller.“

Nachdem Clema die Todesanzeige gelesen hatte, musste sie erst einmal nach Luft schnappen. „Oh Gott, Tante Daffi hat's jetzt auch erwischt!“, stieß sie hervor.

Jemand streckte seinen Kopf zur Tür herein. „Alles in Ordnung?“, fragte Herr Damm, der absolute Oberboss der Firma.

Clema nickte.

„Wenn Sie wollen, können Sie sich für den Rest der Woche frei nehmen“, bot er ihr an.

Sie meinte leise: „Ja, ich glaube, das wäre jetzt das Beste.“

Nun war es so weit. Am Morgen des Donnerstags dieser Woche machte sich Clema auf den Weg zum Fardes-Friedhof. Sie hatte ihr wunderschönes, schwarzes Kleid angezogen, welches sie erst am Tag zuvor gekauft hatte. Sie nahm sich ein Taxi, da sie nicht so recht wusste, wo sich dieser Friedhof befand.

„Zum Fardes-Friedhof, bitte“, befahl sie dem Taxifahrer.

Der Taxifahrer machte auf sie nicht wirklich einen guten Eindruck, aber sie hoffte, dass er wüsste, wo sie hin musste.

Das schien er wohl zu wissen, da er meinte: „Oh, Mann! Wissen Sie überhaupt, wo das liegt?“

Clema schüttelte den Kopf.

Der Taxifahrer nickte und sagte: „Dachte ich mir schon. Der Fardes-Friedhof liegt im Veilchenviertel. Man hat nicht oft Gäste, die da hin wollen.“

„Warum denn nicht?“, wollte Clema verunsichert wissen.

Der Taxifahrer lachte und meinte: „Mann! Sie wissen ja gar nichts! Die Leute dort sind etwas merkwürdig, geradezu hochnäsig. Außerdem sollen dort auch des Öfteren seltsame Dinge geschehen. Zumindest habe ich das gehört. Letztens, zum Beispiel, ist ein Pärchen bei mir eingestiegen, das war gerade durch die Veilchenallee im Veilchenviertel gerannt, so, als ob sie jemand durch die Gegend gehetzt hätte. Sie wollten dann nur noch so schnell und weit weg, wie nur möglich. Ich sage Ihnen, richtig unheimlich war das! Ach, und noch etwas: Ich werde Sie ganz sicher nicht weiter, als bis hier hin fahren.“

„Ja, toll! Und wie komme ich jetzt zum Friedhof?“, fragte Clema unbeholfen.

Der Taxifahrer deutete in eine Richtung und behauptete: „Wenn Sie das kurze Stück hier entlang runter gehen, dann rechts in die erste Straße einbiegen, weiter geradeaus gehen, bis sich die nächste Gelegenheit bietet, links abzubiegen, und sie dann links abbiegen, dann sind Sie schon so gut wie da. Sie müssen dann nur noch die Straße weiter entlanggehen, bis Sie zum Friedhofstor kommen. Den Rest müssten Sie eigentlich alleine finden. Ach, und ehe ich es vergesse: Warum wollten Sie noch einmal dahin?“

„Weil meine Tante heute beerdigt wird“, so die direkte Antwort von Clema, welche auch schon ausstieg. Sie winkte, als sie draußen war, dem Taxifahrer noch einmal zu und begann, die Straße entlang zu gehen. „OK, also wie war das noch einmal? Jetzt rechts und dann...?“, murmelte sie vor sich hin. Sie blickte sich hilfesuchend um. Da entdeckte sie einen Mann, der gerade sein Grundstück verließ.

„Hey, Sie!“, rief sie ihm zu.

Der Mann blickte sich verwirrt um, doch dann sah er sie und deutete auf sich.

„Ja, Sie meine ich!“, rief sie erneut und begann, eilig auf ihn zu zulaufen.

Er kam ihr zögernd entgegen.

„Wissen Sie, wo der Fardes-Friedhof ist?“, kam sie gleich zur Sache.

Der Mann nickte und meinte mit einer sehr attraktiven Stimme: „Wenn Sie dort hingehen wollen, dann kann ich sie auch begleiten, wenn sie möchten.“

„Ja, das wäre nett, ich kann mir Wegbeschreibungen nämlich nicht merken“, sagte Clema erleichtert.

Also begannen sie, die Rechtseinbiegung entlangzugehen. Sie musterte ihn. Er war gut gebaut und zudem sehr attraktiv. Seine Haare waren brünett und seine Augen besaßen das leuchtendste Türkisgrün, das man sich nur vorstellen konnte. Aber irgendetwas Geheimnisvolles ging von ihm aus, vielleicht lag es daran, dass er nichts sagte. Er trug einen durchschnittlichen Anzug, wie ihn ein ganz normaler Bürger eben besaß. „Ich weiß gar nicht, was der Taxifahrer damit meinte, dass die Leute hier seltsam seien und so“, dachte sie sich.

Plötzlich fragte er: „Glauben Sie an magische Wesen?“

„Was? Nein, nicht im Geringsten. Wieso?“, konterte sie sofort.

„Nur so“, antwortete er und schwieg weiter.

Auf einmal, als sie schon mehrere hundert Meter zurückgelegt hatten, bog er links ab. Zuerst war sie etwas verwirrt, aber dann tat sie es ihm gleich und konnte auch schon den Friedhof erkennen. Sie wunderte sich etwas, dass er nicht einen anderen Weg nahm, aber dennoch sagte sie nichts.

Interessiert blickte sie nach vorne, aber ihr Interesse verflog sogleich, da sie jemanden entdeckt hatte.

„Clema! Was machst du denn hier?“, rief ihr ihre Schwester entgegen.

Clema lief nun etwas schneller und rief im Laufen: „Daphne war eben auch meine Tante, nicht nur deine!“

„Stimmt. Mama, Bedro, Marlis und Schoa sind schon in der Kapelle. Wie geht es dir so, kleine Schwester?“, fragte die Frau.

„Ganz gut. Und dir, Frigi?“, kam die Gegenfrage.

Frigi antwortete: „Den Umständen entsprechend. Gehen wir rein?“

Clema nickte.

„Kommen Sie mit, Herr Deroll?“, fragte Frigi so attraktiv, wie möglich.

„Äh, ja, gleich“, sagte er zögerlich mit einem Blick auf eine Person, die in dem Schatten des nahe gelegenen Waldes stand.

Frigi verdrehte zu Clema hin die Augen und die zwei Frauen gingen in die Kapelle.

Herr Dellis Deroll, welcher sich gerade mit der Person im Schatten, welche übrigens Frau Clanin Deroll, seine Mutter, war, unterhielt, folgte samt Mutter nach nur wenigen Minuten.

Um 15:00 Uhr war die Gedenkfeier zu Ende. Nun ging die gesamte Gesellschaft, wobei dies wohl mindestens das halbe Veilchenviertel war, zur Beisetzung des Sarges von Daphne Malis.

Kurz, nachdem so ziemlich jeder ihr die letzte Ehre erwiesen hatte, wurde Clema von einem Mann angesprochen: „Frau Malis, erst einmal mein herzliches Beileid. Ich bin Rubert Cuuter, der Anwalt Ihrer Tante. Ich bitte Sie, sich nach den Feierlichkeiten bei mir dort drüben in der Kanzlei einzufinden. Das Selbe gilt natürlich ebenfalls für Ihre Schwestern und Ihren Bruder, sowie Ihre Mutter. Allerdings wurden Sie als Haupterbin eingesetzt, was auch der Grund ist, weshalb ich auf alle Fälle Sie dort bei mir haben möchte.“

Clema nickte.

Nach etwa einer halben Stunde war es dann so weit. Schweigend gingen Clema, ihre Mutter Salida, ihre Schwestern Marlis, Schoa und Frigi und nicht zu guter Letzt auch ihr Bruder Bedro zur Anwaltskanzlei.

Dort angekommen, wurden sie auch schon von Herrn Cuuter begrüßt: „Guten Tag, die Damen und der Herr! Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Er deutete auf einen runden Tisch, um den sieben Stühle standen.

Clema nahm gegenüber des Anwalts Platz, links neben ihr setzte sich ihre Mutter hin und ihre Schwester Schoa rechts. Neben Schoa saß Bedro und neben ihm Frigi. Neben der Mutter saß Marlis. Der Anwalt begann, das Testament zu verlesen:

„Mein letzter Wille.

Meiner Schwester Salida vermache ich meine Halskette mit dem großen, roten Rubin, da sie mich immer um diese beneidete und sie gerne für sich haben wollte.“ Herr Cuuter gab Salida die Halskette. „Meiner Nichte Frigi vermache ich hunderttausend Euro, damit sie endlich aus ihrem Schuldenberg herausfindet.“ Nun überreichte er Frigi einen Kontoauszug, auf dem der Betrag zu lesen war, der sich nun auf ihrem Konto befand. Die Spannung stieg. „Meiner Nichte Schoa vermache ich meinen Spiegel, in dem sie sich schon so viele Male betrachtete und bewunderte.“ Er gab Schoa einen Handspiegel, der vollkommen mit Gold umrandet und mit kleinen Edelsteinen bestückt war und somit mehrere tausend Euro wert sein musste. „Meiner Nichte Marlis vermache ich meine Sammlung toter, ausgestopfter Tiere, damit sie neue Prunkstücke ihrer Sammlung zufügen kann. ... Ihre Sammlung befindet sich bereits in einem Umzugswagen, Frau Malis. Also, weiter: Meinem Neffen Bedro vermache ich meine gesamten Aktien, in der Hoffnung, dass er sie weise leiten wird.“ Herr Cuuter gab Bedro die Aktien.

„Was ist mit mir? Sagten Sie nicht, ich sei die Haupterbin?“, hakte Clema nach.

Der Anwalt nickte und fuhr fort: „Meiner Nichte Clema, die auch mein Patenkind ist, vermache ich mein ganzes, restliches Hab und Gut. ... Das war's.“

„Wie viel ist „mein ganzes Hab und Gut“?“, wollte Clema wissen.

Herr Cuuter lehnte sich kurz zurück und kratzte sich am Kopf. Es dauerte eine Weile, in der sich die Spannung auf den Höhepunkt zuspitzte, bis er meinte: „So grob über den Daumen: Das Haus, ihr Grundstück, ihre gesamten Konten, wobei das nicht gerade wenige sind, natürlich, was sich alles in dem Haus befindet, samt Personal, mehr fällt mir gerade nicht ein, aber das müsste alles so über eine Millionen sein.“

„Eine Millionen Euro?!“, war das Einzige, was aus Clema herauskam.

Doch da schlug sich der Anwalt vor den Kopf und rief: „Entschuldigung! Was rede ich denn da für einen Unsinn?! Nein, das waren gar keine Millionen, sondern über eine Milliarde!“

Jetzt wurde es still.

„Sie vermacht mir über eine Milliarde Euro, ohne irgendeinen Grund?“, fragte Clema noch einmal nach.

Der Anwalt überlegte kurz, dann meinte er zögerlich: „Naja, eins wäre da noch. In dem Testament steht auch, dass Sie Ihr Erbe erst antreten können, wenn Sie ein Jahr lang in ihrem Haus gewohnt haben. Ansonsten wird der gesamte Besitz an die Nachbarschaft gespendet, der Hauptteil an Dellis Deroll, wobei dessen Familie sowieso schon reich genug ist. Also, nehmen Sie das Erbe an? Sie müssen sich nicht sofort entscheiden, schlafen Sie eine Nacht drüber und dann kommen Sie wieder. Hier ist meine Telefonnummer, rufen Sie mich an, wenn Sie sich sicher sind, ich“

„Ich habe mich schon entschieden“, unterbrach Clema ihn.

Verwundert ruhten alle Blicke auf ihr.

„Und?“, wollte er wissen.

„Ich werde das Erbe antreten“, sagte sie entschlossen.

Nur wenige Minuten, nachdem ihr Beschluss feststand, war die gesamte Familie wieder außerhalb der Kanzlei.

„Na, toll. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wo Tante Daffis Haus ist“, beschwerte Clema sich laut.

Ihre Mutter kam auf sie zu und meinte: „Ich weiß, wo es ist. Dort drüben ist auch eine gute Abkürzung.“ Salida deutete auf einen Weg, der am Rand des Friedhofs quasi den halben Block durchtrennte.

„OK, Mama, ich gehe da lang. Aber nur, wenn du mitgehst. Falls du nämlich Augen im Kopf hast, würdest du erkennen, dass es dort erstens ziemlich dunkel ist, und zweitens sich da auch noch ein Wald befindet und man weiß nie, welche dunklen Kreaturen sich dort herumtreiben.“

„Wenn das so ist, dann werde ich dich selbstverständlich begleiten!“, erwiderte ihre Mutter. Schon gingen die Beiden dem Weg rechts neben dem Friedhof entgegen.

Als sie links in den Weg einbogen, spürte Clema gleich, dass etwas seltsam war. Sie waren schon etwa zwanzig bis dreißig Meter weit gelaufen, als sie hinter sich ein merkwürdiges Geräusch hörten. Schnell drehten die Zwei sich um. Sie sahen niemanden. Da plötzlich kam es wieder, diesmal von der anderen Seite.

„Ihr könnt mir nicht entkommen!“, rief eine gruselig schallende Stimme.

Kurz darauf sahen sie, wer ihnen da so viel Angst einjagte: Es war ein großer, schlanker Mann, der sehr kurze Haare hatte. Die Haarfarbe konnte man nicht erkennen. Dafür aber seine spitzen, langen Fangzähne, die in den letzten Sonnenstrahlen das Licht hell reflektierten, nicht zu schweigen von seinen roten Augen, die ihnen einen lodernden Blick zuwarfen. Die Pupille war schwarz, aber die Iris dunkelrot und das, was für gewöhnlich weiß war, war blutrot.

Er fauchte ihnen entgegen und schrie: „Seit Tagen habe ich nichts mehr gegessen! Schön, endlich mal wieder Frischfleisch zu sehen!“ Darauf folgte eine irrsinnige Lache.

Salidas Augen glühten plötzlich ebenfalls rot auf und ihre Eckzähne schossen rasend schnell in die Länge. Auch sie fauchte, allerdings nicht ihre Tochter, sondern den anderen Vampir an.

„Oh, welch Überraschung! Ein Vampir beschützt einen Menschen, das wird der Frau trotzdem nichts nützen, da ich sie früher oder später eh zu fassen bekomme!“, rief er grinsend. Dann fing er an, mit einem enormen Tempo auf sie zu zurasen.

„Tut mir Leid, Schatz, aber ich kann dich bei so einem wahnsinnigen Tempo überhaupt nicht vor ihm beschützen“, entschuldigte sich die Mutter leise bei ihrer Tochter und ging aus der Schussbahn.

Gerade, als er nur noch einen Meter von ihr entfernt war, stürzte ein Wolf aus dem Wald und brachte den rasenden Vampir zu Fall.

„Geht schnell zum Grundstück! Dort seid ihr sicher! Ich halte ihn so lange in Schach!“, rief der Wolf ihnen zu.

So schnell sie konnten, rannten Clema und ihre Mutter den Weg entlang.

„Schnell“, machte jemand auf sich aufmerksam, „hier her!“

Clema und ihre Mutter rannten links herum zum nächsten Haus, wo eine ältere Frau sie schon erwartete.

Währenddessen hatte sich der Blutsauger befreit und der Wolf war verschwunden. An seiner Stelle stand jetzt dort ein Mensch.

„Ach“, triumphierte der Vampir, „dann bist du also gar kein Wolf! Das trifft sich ja umso besser, wenn dieser Trank nur wenige Minuten anhält!“

„Was für ein Trank?“, wollte der Mann, welcher sich als Dellis Deroll herausstellte, wissen.

„Du bist nur ein einfacher, wehrloser Mensch! Da habe ich es auch nicht so schwer, dich zu töten!“, lachte er.

„Freu dich lieber nicht zu früh!“, meinte Dellis und kratzte den Vampir mit einem Nagel seines Fingers, den er zwar dreckig, aber dennoch scharf und schnell ausfahren konnte, so, als sei er eine überdimensionale Kralle.

„Aua!“, schrie der Vampir, „Dieses Gesicht werde ich mir merken!“

„Das solltest du auch!“, entgegnete Dellis.

Schon war der Vampir verschwunden.

Erschöpft setzte er sich an den Zaun, der den Wald umgab.

„Sind Sie OK?“, fragte Clema, die gerade auf der anderen Seite des Zauns entlang rannte.

„Ja, mir geht es gut. Nur, könnten Sie mir vielleicht verraten, was das eben war?“, erwiderte er freundlich.

Clema zuckte mit den Achseln und meinte: „Wahrscheinlich irgendein Irrer.“ Allerdings wusste sie genau, dass es ein Vampir gewesen war.

Herr Deroll schwang sich über den Zaun auf die Waldseite und meinte: „Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich die Abkürzung von Ihrem Garten zu meinem Garten benutzen.“

„Wieso sollte ich etwas dagegen haben? Sie waren ja eben in äußerst großer Gefahr!“, sagte Clema lächelnd und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Er lächelte ihr zu und ging schnurstracks zu seinem Garten.

Clema seufzte.

„Alles in Ordnung, bei dir?“, sorgte sich ihre Mutter.

Clema antwortete: „Ja, so weit schon. Ich möchte nur zu gerne wissen, wer dieser Vampir vorhin war und woher der Wolf kam, warum er reden konnte und vor allen Dingen, wohin er so plötzlich verschwunden ist.“

„Bei einer Sache kann ich dir helfen: Du weißt ja, und darauf bin ich nicht gerade stolz, dass ich dich als Kind oft benachteiligt habe. Das lag daran, dass ich ja vor Jahren von einem Vampir gebissen wurde und er ebenfalls der Vater von euch ist. Deine vier älteren Geschwister sind dabei ja ebenfalls Vampire geworden. Nur du, du bist keiner. Ich nehme an, du hast mich einfach nur an mich erinnert, so, wie ich war, bevor ich zum Vampir wurde. Meine Eltern hatten mich ebenfalls vernachlässigt und im Grunde genommen hat sich das gesamte Theater nun erneut wiederholt, aber das heißt nicht, dass ich deine Geschwister lieber habe! Na ja, was ich eigentlich sagen will, ist, dass dieser Vampir da vorhin, ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, aber er ist, er ist, ach, verdammt nochmal, ich kann's einfach nicht!“, ratterte ihre Mutter runter.

Clema meinte nur: „Mama, du weißt, dass ich nicht an übersinnliche Kräfte und so glaube?“

„Ja, schon, es steht dir ja auch frei, ich wollte dir nur die Wahrheit sagen!“, erklärte die Mutter.

Clema behauptete: „OK, dann tschüss, ich denke, ich brauche dich jetzt nicht mehr.“

„Man sieht sich!“, rief ihre Mutter, während sie sich in Rauch auflöste, zur Fledermaus wurde und davon flog.

Clema winkte ihr noch eine geringe Zeit nach, dann meinte die Köchin, die die Frau war, die sie hereingelassen hatte: „Kommen Sie, Fräulein Malis, ich zeige Ihnen Ihr Schlafgemach!“

Kurze Zeit später waren sie auch schon in einem Schlafzimmer. Es lag nach hinten zum Wald hin, der sich ebenfalls auf dem Grundstück befand.

„Es ist ein schönes Zimmer. Fräulein Daphne hat immer dafür gesorgt, dass es hier sauber ist. Sie hat es extra für Sie einräumen lassen, kurz, bevor sie leider verstarb. Ich hoffe, es gefällt Ihnen. Wenn Sie irgendwelche Kleidungsstücke benötigen, Fräulein Daphne hat sich nach Ihrer Kleidungsgröße erkundigt und ist selbst losgefahren, Ihnen etwas zu kaufen. Ich hoffe, es ist alles zu Ihrem Wohlbefinden, Fräulein Malis.“, erklärte die Köchin.

„Ach, bitte, nennen Sie mich Clema“, bat sie.

Die Köchin sagte: „Wie Sie meinen, Fräulein Clema. Wenn Sie erlauben, werde ich mich jetzt zurückziehen.“

Clema nickte und die Köchin verschwand durch die Tür.

Sie warf einen Blick auf den großen Kleiderschrank, der gegenüber dem Bett an der Wand stand. Das Bett stand mit der Seite zum Fenster hin, welches offen war. Clema ging zum Fenster und schloss es. Aber kurz darauf ging es wieder auf! Sie seufzte und ging zum Kleiderschrank, um ihn zu öffnen. Die Türen gingen etwas schwerfällig auf, aber der Inhalt war ja auch bombastisch! Gefühlt an die fünfzig Kleider hingen in ihm drin. Zumindest in der ersten Reihe. Also dauerte es eine Weile, bis Clema ein geeignetes Nachthemd gefunden hatte. Es war vollkommen aus Seide und zudem etwas durchsichtig, aber wunderschön. Sie zog es an und fühlte sich wie eine Prinzessin. Da der Tag ein ziemlich langer gewesen war, dauerte es nicht lange, bis Sie einschlief.

Tante Daffis Haus

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