Читать книгу Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann - Hans-Dieter Heun - Страница 10

Der Zauberer fragte Gott, ob auch Allwissen, möglicherweise durch eine Überraschung, wächst. Seltsam, das hätte Sie an sich wissen müssen.

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Vormittag, das Telefon: Deborah, seine Frau in einer anderen Welt, hatte ihm kurz und bündig angeherrscht, er solle auf der Stelle in die Massagepraxis kommen. Eingehängt. Mit Stürmen in der Seele trat Hannemann an die Rezeption, um den freundlichen Empfangsengel nach der Anruferin zu fragen. Die Helferin strahlte ihm entgegen: „Ich soll Ihnen ausrichten, die Dame erwartet Sie in der Sauna."

Er dankte, beantwortete aber nicht die Neugierde, welche ihr auf der Nase tanzte. Die überraschende Intimität der Begegnung ließ ihn einen kleinen Moment zögern. Dann überwog seine Ungeduld die Bedenken, Hannemann betrat den Vorraum, der zu dieser frühen Stunde noch menschenleer war. Er legte seine Kleidung ab, blickte kurz in den Spiegel und fand sich trotz seiner Narben am Oberkörper für sein Alter noch sehr akzeptabel. Die Dame Deborah erwartete bestimmt einen todkranken Mann. Er würde sie verblüffen. Hannemann nahm sich ein Handtuch vom Stapel und trat in die trockene Hitze.

Sie war allein, betrachtete ihn ohne Scheu, gleiches tat er mit ihr. Obwohl er sie noch nie zuvor so nahe gesehen hatte – die Flüchtigkeit des Blumenmarktes war nur noch verklärte Erinnerung –, erkannte er sofort jede Einzelheit dieser wundervollen schweißfeuchten Frau, seiner ihm eigenen Frau.

„Du siehst leider sehr gut aus." Ihre Stimme in der wabernden heißen Luft, sie blickte ihm direkt ins Gesicht. Er las in ihren Augen von vielen schmerzlichen Prüfungen. Wo aber war ihr Mann, sein Alter Ego? Ohne sie zu begrüßen, fragte er sogleich mit harter Stimme: „Wo bin ich?“

„Wahrscheinlich bereits in der nächsten Kneipe und lässt dich wie üblich volllaufen." Sie sprach mit Bitterkeit, bitter, aber ohne Empörung, vielmehr mit der erschöpften Einsicht in das Unvermeidliche.

„Und wie geht es mir?"

„Es geht dir beschissen." Und dann brach es aus ihr heraus: „Was zum Teufel tust du überhaupt noch hier? Du gehörst doch schon lange in die andere Welt, hältst dich überhaupt nicht an die Übung!"

„Es tut mir wirklich leid für dich, aber diesmal habe ich es geschafft. Ich habe meinen mir eigenen Willen durchgesetzt." Hannemann hatte lange nachgedacht, was er ihr sagen wollte. Jetzt fühlte er sich sicher und überlegen.

„Setz dich, ich muss mit dir reden." Sie hielt sich wieder ruhiger.

Er nahm dicht neben ihr auf die Holzbank Platz und versuchte sogleich, seine ihm noch überaus fremde Frau wie unabsichtlich zu berühren. Doch sie rückte von ihm ab, kannte seine Wirkung.

„Es geht ihm wirklich sehr schlecht." Jetzt differenzierte Deborah, gab ihm mehr Unpersönlichkeit. „Er vegetiert nur noch zwischen den Flaschen, und du lässt ihn nicht gehen. Du quälst ihn sogar."

„Wieso?" Nun gab auch er sich den dritten Fall und wurde etwas lauter: „Er hätte genauso eine freie Entscheidung herbeiführen können wie ich auch. Er mag mein Spiegelbild sein oder sogar ich selbst, aber es waren bestimmt andere Umstände, eine andere Jugend, andere Eltern oder ein anderer Werdegang. Er hätte die Probleme nicht alle wegschlucken müssen, er hätte ihnen ausweichen können. Er kann es noch immer."

„Er kann überhaupt nichts mehr, und außerdem sind die Wächter der Anderen sauer auf dich."

„Warum, was habe ich denn Großartiges getan, und seit wann kannst du mit ihnen reden?"

„Ich kann nicht mit ihnen reden, du Depp, das weißt du genau. Sie erscheinen mir in meinen Träumen."

„Dein Liebreiz ist dir angeboren." Hannemann lächelte wegen des Deppens. „Man muss dich einfach mögen."

„Meinst du wirklich, du könntest mich mögen?“ Als wollte sie wahrhaft kokettieren, strich sie mit gespreizten Fingern durch ihr feuchtes Haar. „Aber nun mal im Ernst, du bist aus dem ewigen Kreis gesprungen. Es hatte sich alles bestens bewährt, hunderte Male, und auf einmal spielt der gnädige Herr mit seinem Willen, bringt die Ordnung durcheinander und ..."

„Millionen Jahre waren die Bäume grün, und auf einmal wurden Blätter rot. Evolution, das ist es doch, was die Damen und Herren Wächter predigen: Erneuerung durch Veränderungen aus den Voraussetzungen. Nur bei mir wollen sie das nicht gelten lassen.“ Er stutzte unmerklich, weil etwas nicht stimmte. „Und was wollen die Herrschaften in deinen Träumen von mir? Was soll ich ihrer hochgeschätzten Meinung nach machen?"

„Du brauchst gar nicht zynisch zu werden, das steht gerade dir nicht zu. Fang wieder an zu saufen, dann kriegst du einen Leberkollaps, deine Leber löst sich auf und", sie machte mit ihrer feingliedrigen Hand eine waagrecht wischende Bewegung, „alles ist im Lot."

Hannemann blickte auf die Furche zwischen ihren Brüsten, verfolgte zwei Schweißtropfen auf ihrer Bahn zu dem haarigen Dreieck. Deborah log überzeugend und sehr geschickt. Er spürte es. Sie wusste alles, trotzdem log sie. Darum und nur darum prüfte er sie ein weiteres Mal. „Kann ich ihn, Verzeihung, könnte ich mich sehen?"

„Auf keinen Fall! Es reicht, dass ich hier bin." Sie blickte ihn forschend an, als ob sie seinen Zweifel spürte. "Also, was willst du jetzt tun?"

„Ich brauche Zeit. Ich muss erst einmal überlegen. Du bist für mich eine Überraschung."

„Du willst mit Bin sprechen, habe ich recht?"

Folglich wusste sie auch von der Rechtsschläferin, und sie hatte wirklich recht: Er würde mit Bin sprechen. Außerdem wollte er sich sehen, gerade zum Trotz, und er würde ebenfalls mit diesem feuchten Weib schlafen.

„Übrigens, bevor du gehst und kalt duschst", Deborah blickte anzüglich in Richtung seiner Manneszierde, die sich kräftig streckte, „du wirst überwacht."

Deborah, eine Lichtgestalt aus seinem anderen Sein. Sie war nicht nur Botin.


„Was ist mit Riechen?" Die Neugierde des Zauberers war unersättlich.

„Was soll mit Riechen sein?"

„Einer von uns beiden hat vorgestern gedacht, dass Fühlen das Sehen, Hören, Schmecken und Riechen der Haut sein könnte. Ich glaube, das wart Ihr."

„So? Man, der Mensch, kann aus der Haut fahren und aus der Haut riechen. Auch aus dem Mund. Sogar stinken. Aber mit der Haut riechen, solches habe ich nie auch nur gedacht." Seltsam, Gott schien Sich nicht zu erinnern, Sich nicht erinnern zu wollen.

„Stinkt er aus dem Maul?"

„Manchmal. Und aus dem Mund! Ich sagte Mund, und nach Droge A. Dann aber ebenfalls aus der Haut."

„Kann man, der Mensch, das fühlen?"

Es musste der erste November gewesen sein – das war wichtig – vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren an einem Nachmittag auf dem Blumenmarkt in Monte Carlo. Die Blonde und er verbrachten einige Tage zur erotischen Auffrischung in Südfrankreich. Den Abend zuvor hatten sie herrlich gefressen und gesoffen, möglicherweise sogar noch gevögelt, aber daran konnte Hannemann sich am Morgen danach nicht mehr erinnern. Kater, Katzenjammer, dröhnende Kopfschmerzen, pelzige Zunge, brennender Durst und Gestank aus der Haut. Die Rache seines Körpers gegen die schleichenden Gifte von Champagner, Weißwein, Rotwein und Cognac. Gut möglich, es war alles ein bisschen viel gewesen, aber alles war leider auch furchtbar lecker.

Die äußerst liebenswürdige Gattin eines äußerst begnadeten monegassischen Koches hatte eine überragende Fischsuppe zelebriert und ihm auf sein von mehreren achtzigjährigen Hennessy begleitetes Drängen großzügig und sehr offenherzig – ihr Dekolleté kam in sein Gedächtnis – das Rezept überlassen:

Filets von Petermännchen, Goldbrasse, Seeteufel und Wolf, Dornhai und Knurrhahn werden mit verschiedenen Muscheln, kleinen Tintenfischen, Garnelen und – wenn man so will, und er hatte gewollt, und wie! – zwei halben Langusten als Krönung in Safranbutter mild gebraten. Dieses herrliche Getier wird zu einer nach allen Gewürzen der Provence duftenden, goldfarbenen Suppe aus den Köpfen, Gräten und Karkassen eben dieser Meeresfrüchte serviert. Dazu reicht man Weißbrotstückchen, die in Olivenöl erster Pressung geröstet wurden, und diese Croutons tunkt man wiederum in eine Mayonnaise, welche aus Knoblauch, wenig Zitrone, Chili und den berühmten Eiern der freilaufenden Grimaldi-Hennen frisch aufgeschlagen wird. Begleitet wurde dieses Gedicht von jeder Menge gekühltem Chablis und dem erwähnten Cognac, mit der Blonden und der Wirtin ein Völker verbindender Genuss.

Am folgenden Mittag, an jenem ersten November – das war überaus wichtig –, an einem strahlend blauen warmen Herbsttag, packte er vorsichtig den übel schmerzenden Kopf und rebellierenden Magen, Handtuch plus Badehose zusammen und schlich an den türkisfarben schimmernden Kieselstrand des Golfe Bleu am Cap Martin. Seine Holde, die Blonde, überließ er ihren bis zum frühen Abend währenden Lustträumen von Unzucht mit einem göttergleichen Koch.

Die Herbstsonne heizte noch angenehm seine Haut. Er wagte unter dem Applaus der bewundernden Südländer den Sprung ins wiederbelebende Salzwasser, seine Gedanken ganz auf glückliches Empfangen gerichtet. Danach streckte er sich auf sein Tuch, schlief das Salz auf seiner Haut trocken, nahm die starken Düfte des Meeres, welche nach Körpersäften schmeckten und frische Lebenskräfte weckten, mit in kurze Träume.

So gegen zwei Uhr begann es ihn zu frösteln. Hannemann kam die Idee, die Blonde mit Blumen zu wecken. Möglicherweise vermochte er sogar durch die Blumen ihren wollüstigen Traum auf seinen durch die Sonne verwöhnten Körper nahtlos überzuleiten. Er stieg in seinen offenen Chevrolet, fuhr die Küstenstraße entlang nach Menton und besuchte die ehrwürdigen Markthallen nahe dem Hafen. Unschlüssig, mit welchen Blüten er die Schlummernde wecken sollte – Bauernweiber und Gärtnerfrauen hatten ihre Verkaufsstände mit bunten Gebinden aus Herbstblumen überreich dekoriert –, vertrödelte er zwischen Düften und Farben die Zeit.

Ein kurzgeschnittener, stolz aufrecht getragener Hinterkopf fesselte seine Aufmerksamkeit. Rotbrauner Haaransatz über zartem Nacken, fragile Figur auf schlanken Beinen in etwas schilfgrünes Zartes gehüllt. Reine, sinnliche Weiblichkeit, und sein Herz pochte wild. Déjà-vu! Die Frau hörte das Pochen, drehte sich halb, und er las in ihren erschrockenen Augen, Ingrids Augen ähnlich, diese Geschichte:

Die Schöpfung war wohlgeraten, Welt und Anderswelt, Erde und Traum. Es war gelungen, wie Ihr alles gelang. Alles war entsetzlich schön, alles war entsetzlich langweilig, und nur um für etwas Abwechslung in der ewigen Güte zu sorgen, erschuf Sie aus Ihrem Willen einen Mann und eine Frau. Sie setzte die beiden, weit voneinander entfernt, in einen paradiesischen Garten und hieß ihre Geschöpfe, sich zu finden. Sie wollte ihren Spaß.

Sie sollte ihn haben. Mann und Frau waren nur halb, zwei Hälften, die nicht zueinander passten. Die halben Menschen wussten das nicht, noch nicht, glaubten, sie seien für einander bestimmt, versuchten – ihr Befehl, Sie lächelte –, zusammenzukommen. Sie wollten sich haben. Gott, geil auf jede Form erotischen Theaters, noch mehr auf die dabei entstehenden Missverständnisse, die Streitereien, die Zerwürfnisse, hatte ihnen dieses Haben-Wollen eingepflanzt. Die Hälften gehorchten und suchten Hilfe für die Orientierung.

Bäume, die zugleich blühten und trugen, sorgten für Nahrung und den notwendigen Schatten der Entspannung, doch sie wiesen keinen Weg. Bäche und Seen, die tränkten und belebten, behielten und zeigten kein Bild des Gesuchten. Der Garten war riesig, Mann und Frau fanden sich nicht.

Der Mann, zornig bald, denn er spürte das Drängen des Triebes, versuchte, seinen Verstand und die Regeln zu gebrauchen, forstete mit System durch das Paradies. Die Frau jedoch, ebenfalls von Verlangen erfüllt, setzte sich in eine Wiese und beobachtete die Gründe für die Paarung der Tiere. Sie sah die Balz, erkannte die Wichtigkeit der Werbung und begann sogleich, Spuren zu legen. Sie lockte.

Das Weib machte weibliche Geschenke: Sie bereitete wohlschmeckende Nahrung, hinterlegte die Köder in kuschelige Höhlen, die der Herumirrende finden musste - trautes Heim, an das sich der Suchende gewöhnen sollte. Sie rupfte Gras, häufte es zu Kissen, legte sich hinein, damit das frische Grün ihre Rundungen verriet. Sie sang die schönsten Lieder, rannte hin und her, presste Schweiß und fächelte das betörende Aroma in den Wind, der Lieder und Parfüm verteilte.

Der Mann folgte den Spuren, sie fanden zusammen, und er nannte seinen Namen: Hannemann. Sie sagte den ihren: Bin, gleichklingend für Seufzen, starker Wind, Leidenschaft, Sommerhitze, tiefe Freude und Tränen. Mann und Frau vereinigten sich und glaubten weiterhin, für einander vollkommen zu sein. Sie wünschten sich sogar, dass es für immer so bliebe.

Gott lächelte, Sie kannte die nächsten Ewigkeiten. Sie allein.

„Deborah!"

War das denn möglich, hatte er soeben die eigene Stimme gehört? Selbstverständlich die eigene, er würde doch seine Stimme erkennen. Oder nicht?

„Kommst du bitte, Deborah."

Ihre Augen lösten sich voneinander.

„Ich komme." Sie verschwand in der Menge.

Damals hatte Hannemann noch nicht verstanden.

Diese von Deborah erwähnten Wächter waren Druiden, Hannemann war sich sicher. An sich hatte er mit den Gedanken an Frankreich vor seinen Schmerzen in den Morgenschlaf zu fliehen versucht, doch die Spur zu den Druiden und das unerwartete Wiedertreffen in der Sauna mit seiner Frau aus der Anderswelt, verbunden mit den Geschehnissen am ersten November – das war wichtig, sehr wichtig sogar –, Jahre zurück, ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Seit vielen Jahren sammelte Hannemann Hinweise für die heutige Existenz der Druiden. Sie waren in früher Vorzeit eine intelligente Oberschicht gewesen, vertreten in allen wichtigen Belangen wie der Pflege und Verwaltung des Rechtes, tätig als Historiker, Künstler, Mediziner, bewandert in der Astronomie, Astrologie und selbstverständlich in weißer und schwarzer Magie. Er war weiterhin sehr sicher, dass jene Freigeister sich ebenso in der Gegenwart in den gleichen geistigen Schichten verbargen und ihr von Zeit zu Zeit revolutionäre Maßstäbe setzten. Er pflegte sogar Vermutungen, wo oder in welcher Organisation sie sich versteckt halten könnten. Allerdings ganz gewiss war er sich nicht. Noch nicht.

Bei all ihren Unternehmungen stellten die Druiden sich nie zu hoch über das Wissen ihrer jeweiligen Umgebung. Sie gaben aber durchaus verständliche Zeichen für diejenigen, welche sie zu lesen vermochten. Hannemann glaubte, die Druiden verrieten ihr Dasein besonders in den schönen Künsten. Deshalb hatte er Briefe an Adressaten geschickt, welche er als Urheber der Zeichen vermutete, und diese Briefe enthielten stets nur die eine Frage: „Ich bin hier, was soll ich tun?"

Er schrieb einer Malerin in Ungarn und einem Maler auf Lanzarote, einer Rocksängerin in England, einem Liedermacher aus Österreich nebst einem Balladendichter aus Kanada. Ein Brief ging an einen Schriftsteller zu einem Baumhaus nahe einem nordwestamerikanischen Fischerdorf und einer nach Kolumbien. Er hätte gleichfalls nach Neufundland oder Neuseeland, Jamaika, Äthiopien oder Kapstadt schreiben können – Druiden waren, sind immer und überall –, doch es wäre stets das gleiche geschehen. Nämlich nichts. Keine Antwort. Enttäuschend. Bisher war er wohl zu unwichtig und zu unauffällig gewesen.

Doch damals, in jener Nacht vom 31. Oktober zum 1. November, musste möglicherweise ein Irrtum geschehen sein, denn um Mitternacht öffnen sich – wie jedes Jahr – die beiden Welten einander. Die vermeintlich reale der vermeintlichen Anderswelt. Das geschieht zu dem Zweck, um zu gestatten, offensichtliche Fehler zu korrigieren, die ein Doppelgänger in der jeweiligen Anderswelt begangen hatte. Aber welcher Fehler war ihm oder seinem Alter Ego unterlaufen? Und warum waren seine Frau aus der Anderswelt und er selbst, denn es war offenkundig seine Stimme, die nach ihr gerufen hatte und der sie gefolgt war, an jenem Nachmittag auf dem herbstlichen Blumenmarkt von Menton noch anwesend, noch vorhanden gewesen?

Gut, er, Hannemann, war in diesem Leben seiner Vorbestimmung nicht gefolgt und hatte Ingrid nicht geheiratet. Dafür die Blonde. Vielleicht war ja genau das sein Fehler? Ingrid hatte bereitgestanden, hätte ihn nur zu gerne genommen. Aber viele andere Frauen wollten ihn ebenfalls, und er hatte einmal schlichtweg keine Lust verspürt, dieser angeblichen Vorbestimmung zu folgen. – Warum also der Aufstand zwischen den Blüten? Oder war er einfach zu besoffen gewesen und damit in jener Nacht für seine Frau aus der Anderswelt und ihre Bedenken nicht ansprechbar? Derart betrunken, dass sie, die jenen Zustand der Trunkenheit aus ihrer Ehe mit ihm kennen musste, einfach länger geblieben war?

Hannemann glaubte kaum, dass er in der Anderswelt ohne Droge A leben würde. Und da musste dieses Weib doch wissen, dass er gegenüber Vorhaltungen wegen seines Suffs, seiner Vielvögelei oder möglicherweise wegen einer falschen Wahl, die er getroffen hatte, besonders bockig war. Außerdem hatte er sich Jahre später sowieso von der Blonden getrennt. Wo war denn da Deborah gewesen, um ihm zu helfen? Keine Freunde, aber mitfühlende Frauen hatten ihn weiter durchs Leben geschleift. Sie, das andere Weib, hatte sich nicht gekümmert, ihn nicht wieder mit Leben erfüllt. Dieser leidvollen Aufgabe stellte sich allein die Rechtsschläferin. Doch war Bin etwa ebenso falsch, ein neuer Irrtum?

Es ergab keinen Sinn. Warum erschien sie, seine fremde Frau, erst jetzt, nach so vielen Jahren? Ihr erneutes Erscheinen bedurfte der Klärung. Er musste einfach des Rätsels Lösung finden, schließlich war er mit ihr verheiratet, wenn auch in einer anderen Welt. Und falls es sich ergab, wollte er unbedingt mit ihr pennen. In dieser, seiner jetzigen Welt, der Ordnung der Druiden zum Trotz.


Blond ist schön. Aber nur blond, ist das ebenfalls schön? Der Zauber wollte es etwas genauer: „Hat jene Blonde auch einen Namen?“

Gott schaute überrascht auf, Sie schien in der Tat verwundert zu sein. „Warum in aller Welt sollte eine Blonde einen Namen haben? Sie kann ihn sich ja ohnehin nicht merken.“

Der Zauberer fühlte den Spott. „Trotzdem würde mich interessieren, wie Ihr zum Beispiel die blonden Namenlosen unterscheidet?“

„Das ist nicht sonderlich schwer, ich ordne ihnen Zahlen zu. Etwa Blond 1, Blond 2, Blond 3, Blond 264 und immer so weiter.“

Jetzt fühlte sich der Zauberer aber richtig auf den göttlichen Arm genommen.


Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen – im wahrsten Sinne des Wortes – warf die Blonde Hannemann schlichtweg zu Boden. Ebenfalls im wahrsten Sinne des Wortes. Der vor Kraft und Säften strotzende Jungmann segelte gerade mit seinen Skiern über die Kuppen einer von Pulverschnee bedeckten Tiroler Piste, hatte „I am sailing“ von Rod Stewart im Ohr, als ihm urplötzlich die Blonde in seine rechte Seite rauschte. Die Sicherheitsbindungen befahlen den Skiern, sich zu lösen, ungewollt umklammerten sich Beine und Arme, bevor die Blonde und Hannemann in eine Mulde krachten. Eine gewaltige Schneewolke stob auf. Die feinen Schneekristalle wirbelten eine gefühlte Ewigkeit durch die kalte Luft, um sich endlich, wie auf Befehl einer höheren Macht, zögerlich wieder auf die Abfahrtspiste zu legen. Zwei Gesichter sahen einander fassungslos an.

Hannemann dachte: Öha, eine Blonde. Eine ganz normale Blonde mit langen Haaren, wie sie überall beim Skifahren zu finden ist. Von der Natur ausgestattet mit blütenreiner Stirn, azurblau strahlenden Augensternen, dem typischen süßen Näschen, schwellend roten Lippen, lockenden Schultergrübchen, einem vollendeten Busen in Pfirsichform, nur statt dem Pfirsichstiel kleine rosa Brustwarzen. Weiterhin lockten ein Bauchnabel für wonniges Zungenspiel und ebenso die Muschel, Ziel aller Wünsche, gesegnet mit dem Duft eines zarten jungfräulichen Herings. – Ab den Schultergrübchen hatte Hannemann seine Röntgenblicke eingeschaltet.

Die Blonde dachte: Ein teurer Ski-Anzug von Bogner, die Ski von Head, vielleicht eine Chance für eine sorgenfreie Zukunft. Die Blonde lächelte reizend, aufreizend. „Wollen wir uns nicht heute Abend am Kriegerdenkmal treffen?“ Die Blonde lächelte zuckersüß, viel versprechend.

Eine tief verschneite Thujen-Hecke säumte den Heldenplatz. Vom nahen Friedhof quietschte die rostige, unverschlossene Eisentür unverdrossen mit dem Grabchoräle pfeifenden Wind. Tausend tote Krieger froren sich das letzte Hemd ab. Der Platz lag menschenleer, war fast verzweifelt einsam. Und kalt, saukalt sogar. Mindestens zwanzig Grad unter, nach Schätzungen der tausend toten Krieger. Glücklich die noch lebenden Menschen an den ortsüblichen Kachelöfen in ihren warmen Häusern. Deppen hingegen, die sich zu dieser finsteren Stunde am Kriegerdenkmal einfanden. Die Blonde und Hannemann fühlten sich jedoch nicht als Deppen, sondern bereits nach wenigen Minuten in inniger Liebe verbunden. Außerdem wollten sie bumsen. Im Schutz des Kriegerdenkmals auf der Holzbank an der Flanke des grimmigen bronzenen Löwen. Sie näherten sich ungeduldig dem Löwenvieh.

Warum nur bewachte – wie immer und überall auf der Welt – ein grimmiger bronzener Löwe die tausend toten Krieger und nicht etwa ein ebenso starker eiserner Eisbär? Allemal logischer bei dieser Schweinekälte. Oder gar ein gemütliches hölzernes Kamel? Was zum Henker spräche denn gegen ein Kamel? Abgesehen davon, wieso ausgerechnet ein Kamel in einen Tiroler Skiort kommen sollte. Ergo präziser: Was genau trieb ein normalerweise durch arabische Wüsten schiffendes Kamel im Pulverschnee? Menschliche arabische Araber waren allerdings dort haufenweise anzutreffen. Ergo noch genauer: Was hatte ein tierisches Kamel überhaupt neben einer Buckelpiste zu suchen? Oder zu finden? Doch nicht etwa seine Höcker?

Solche Fragen hätte sich Hannemann mit Sicherheit in seinen späteren Jahren gestellt. Jetzt nicht, jetzt war er geil. Die Blonde trug jedenfalls einen Kamelhaarpullover. Ihre Höcker waren unter dem Licht der einzigen Straßenlaterne kaum zu übersehen. Darüber hinaus hatte sie nichts dagegen, dass Hannemann bereits nach wenigen Küssen seine winterkalten Flossen unter den Pullover und den spitzen Büstenhalter schob und an die Höcker grapschte. Ganz im Gegenteil jodelte die Blonde bereits nach wenigen Sekunden ihre durch die frostigen Finger an ihren Nippeln empfangene Lust in die andächtigen Ohren der tausend toten Krieger. Weiterhin schaukelte ihr in engste Keilhosen gezwängter Unterleib im wüsten Kamelgalopp, Hannemann reibend, treibend, wo er es am liebsten hatte. Tausend tote Krieger erinnerten sich an eigene Reibereien und sahen neidvoll zu. Selbst der bronzene Löwe schnaubte heftig, er hatte Kamele zum Fressen gern.

Doch der Löwe und tausend tote Krieger bemerkten ebenfalls, es blieb lose in der geschaukelten Hose. Zwanzig Grad unter Zero, die erlaubten dem sonst so munteren Keimling keinerlei Wachstum. Die Blonde öffnete Hannemanns Hosenlatz, prüfte mit kundiger Hand. Nichts. Noch nichts? Mit zu zärtlicher Rundung gebogenen Fingern liebkoste sie aufmerksam den ihr noch fremden Schniepel. Wahrhaft ein Nichts, Väterchen Frost besaß den stärkeren Griff. Eine sichere Zukunft war keineswegs fassbar. Es sei denn …

Tausend tote Krieger und ein bronzener Löwe konnten trotz gespitzter Ohren nicht vernehmen, allenfalls von den Lippen der Blonden lesen, was sie ihrem Auserkorenen zuflüsterte: „Soll ich dir vielleicht einen blasen?“ Doch tausend tote Krieger und ein Bronzelöwe bemerkten sehr wohl, wie eilig Hannemann auf einmal die Blonde an ihren schulterlangen Haaren durch den unschuldigen Schnee zu seinem geheizten Zimmer im „Gasthof zu wilden Sau“ schleifte. Löwe und Krieger wunderten sich jedoch, warum die Blonde dabei dermaßen siegesgewiss griente.

















Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann

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