Читать книгу Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann - Hans-Dieter Heun - Страница 11

Der Zauberer fragte sich, was Träume bedeuten, den Träumenden sagen wollen. Gott war das wurscht, Sie dachte an Südfrankreich und an eine gute Bouillabaisse.

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Blasen, selbstverständlich hatte Hannemann bereits durch verschiedene märchenhafte Erzählungen ehemaliger Klassenkameraden von jener lustvollsten Praktik erfahren. Doch selbst Tante Ute, die Gute, welche dem ungeduldigen Jüngling sonst alles erdenklich Befriedigende gewährt, hatte ihm, wie gleichfalls keine seiner anderen bisherigen Gespielinnen, die noch unbekannte Gunst erwiesen. Trotz ständigen Drängens seinerseits. Die Drohungen der einzig wahren Kirche vom sofortigen Verlust des männlichen Rückenmarks bei Ausübung jener sündhaftesten Lippenlust hatten die stets um das Wohl ihres Gespielen besorgten jungen, vor allem gläubigen Frauchen davon abgehalten. Der gute katholische Gott würde sie auf der Stelle – folglich noch mit dem Mund an und um Hannemanns Schniepel – mit einem persönlich geschleuderten Blitz treffen und anschließend auf einem heiligen Feuerstrahl in die allerschlimmste Hölle schicken. Das hatte gewirkt. Oder, besser ausgedrückt, jenen Akt reiner, sich vertrauensvoll schenkender Liebe leider verhindert.

Hannemann hatte sich wiederholt gefragt, zu welchem Zwecke Gott denn sonst den Mund eines Weibes erschaffen hat, wenn nicht fürs Blasen. Kein anderes Wesen hatte von Ihm vollere, sinnlichere Lippen erhalten, abgesehen vielleicht von einem Zackenbarsch oder einem Sumatra-Krokodil. Außerdem sorgte der stets mitdenkende Gott durch von weiblicher Seite aus perfekt ausgeübtes Blasen ebenso für die richtige Ernährung aller Frauen in jedem Land Seiner Erde: Täglich ein bis zwei Scheiben Vollkornbrot, um den Bedarf an Kohlehydraten zu decken, plus dem von einem gütigen Mann gespendeten Samen als lebenswichtiges Eiweiß. Dass Gott weiblich ist, hatte Hannemann damals noch nicht gewusst.

„Gasthof zur wilden Sau“ Jede Woche am Montag schlachtete der Wirt und Metzgermeister Aloisius im Hof seines Anwesens fünf zahme zufriedene Schweine. Sehr zufriedene, weil die Säue vor dem letztendlichen Ausbluten – schnelle Betäubung durch den Holzhammer und ein sicherer Stich mit dem Schlachtmesser – bestens ernährt wurden. Neben Körnerfutter und Fallobst machten Essensreste und besonders halb verzehrte Sahnetorten das Borstenvieh glücklich. Die Wirtin und Köchin Aloisia versuchte stets, ihre Gäste mit gigantischen Portionen zu mästen, von denen regelmäßig die Hälfte im Schweinekübel landete. Dem Himmel sei gedankt, Aloisia änderte niemals das Übermaß auf den Tellern, und so entstand zwischen Wirtshausgehern und Säuen ein ausgewogener Ernährungskreislauf: Die Gäste aßen die Schweine, und die Säue fraßen das, was von den gebratenen oder gesottenen Schweinen übrig blieb. Allen Beteiligten schmeckte es ausgezeichnet, Säue und Gäste rundeten sich zu Kugeln. Irgendwann wurden die Kugelschweine wieder schlachtreif – die Gäste, nicht geschlachtet, waren längst zum Abnehmen nach Hause gefahren –, doch neue Schweineschnitzel und neue Essensgeher hielten den Kreislauf aufrecht.

Schlachter Aloisius verwurstete und portionierte die glücklichen Säue vom Kopf bis zu den Schweinefüßen. Besonders der täglich frische Leberkäs, sowie die Weißwürste und der mit vielen Preisen ausgezeichnete Tiroler Speck lockten zahlreiche Kunden aus aller Damen und Herren Länder in seine Metzgerei. Zusätzlich verkaufte der geschäftstüchtige Metzger Aloisius getrocknete Schweinsohren und Schweineschwänzchen für den Hund der zugehörigen gnädigen Frau.

In der Küche des Wirtshauses zeigte Aloisia ihr abwechslungsreiches Können: Schweinskopfsülze mit Bratkartoffeln – Geräucherte Schweinebacken mit Specksauerkraut – Geröstetes Schweinshirn mit Ei – Schweinszüngel paniert in Schweineschmalz gebacken – Blutwurst und Leberwurst mit Sauerkraut und Kartoffeln – Schweinsherz vom Rost mit Specksauce und Kartoffeln – Schweinsleber und Schweinsnieren sauer mit Kartoffeln und Endiviensalat – Gesottener Schweinebauch mit Sauerkraut und Kartoffeln – Schweinsbraten aus der Schweinsschulter mit krachender Kruste, Sauerkraut und Kartoffelknödel – Knusprige Schweinsstelze mit Kartoffel-Endivien-Salat – Rösches gebackenes Schweinskotelette mit Kartoffel-Endivien-Salat – Wienerschnitzel vom Schwein mit Kartoffel-Endivien-Salat. – Für die damals eher sehr seltenen Vegetarier gab es nur Kartoffel-Endivien-Salat. Bei Aufpreis aber auch vier in Schweineschmalz gebratene Spiegeleier dazu.

Ende September eines jeden Jahres stampfte Aloisia mit ungewaschenen Füße und Waden das Sauerkraut selbst. Nur grobes Salz und Weißkraut kamen ins Eichenfass und eben ihre dreckigen Füße. Das war eine anstrengende Arbeit, selbst wenn der Wirt dazu auf dem Alphorn eine Polka blies. Dermaßen anstrengend, dass sich Wirtin und Wirt nach erfolgreichem Stampfen ins gemeinsame Ehebett legten. Dort ließ sich Aloisia von ihrem Aloisius die Sauerkrautbeine abschlecken, bis es ihm kam. Danach gab Aloisia dem sichtlich Erschöpften einen herzhaften Schmatz und eilte in ihre Küche, um Schweinsstelzen und Schweinsbraten rechtzeitig für das Abendgeschäft in den Holzofen zu schieben.

Wurscht wie, Hannemann schmeckte jedenfalls alles ausgezeichnet, was die Wirtin auf den Tisch brachte. Er schrieb sogar einige von ihren Gerichten auf, um sie, etwas verfeinert, irgendwann später in einer eigenen Küche zu verwenden.


„Ich habe Hunger!“, laut und vernehmlich der Zauberer.

Gott war seltsam berührt, immer und ewig hatte Sie sich allein aus sich selbst gespeist. Und nun zuerst diese überirdische Bouillabaisse und danach himmlisches Schweinernes. Neugierde wuchs. Mit flinker göttlicher Zunge forschte Sie in ihren Mundwinkeln nach Geschmack. Doch kein Salz der Meere, kein zuckersüßer Honigseim, weder ein Hauch von sauren Limonen noch der von bitteren Endivien. Ihr Entschluss war gefasst: „Also gut, gehen wir essen.“

Der Zauberer wagte nicht, seinen Ohren zu trauen. Vorsichtig fragte er nach: „Essen? Und wohin?“

„Na in diesen Gasthof zu wilden Sau. Ich will eine Schweinsstelze mit Knusperhaut, Knödel und diesem besonderen sauren Kraut.“

„Ich auch, nur für mich drei Knödel bitte!“, brüllte der Zauberer. Welch nie erwartete rosige Aussicht, dann aber kam ihm der Zweifel. „Aber was ist mit der Rechnung, wir besitzen doch beide kein Geld?“

„Kleingeist!“, Gott lachte, seit vielen Erdenjahren wieder einmal. Sie wirkte nachgerade fröhlich. „Ich werde ein Wunder tun und rechtzeitig vor dem Bezahlen die Wirtin erblinden lassen.“


Hannemanns Zimmerchen im „Gasthof zu wilden Sau“ beinhaltete – ein wahrer Segen – zwei kleine Zentralheizkörper, deren altersschwache Rippen wohlig wärmten. Außerdem einen schmalen Schrank, einen Tisch mit Tiroler-Adler-Tischdecke, einen wackeligen Stuhl – alles aus Fichte – und ein emailliertes Waschbecken mit fließend kaltem Wasser. Das WC befand sich außerhalb am Ende des Korridors. Ein weiteres Scheißhäusel stand im Hof, gleich neben der Stelle, wo die glücklichen Säue geschlachtet wurden. Das wichtigste Möbel war jedoch ein bequemes Bett, seltsamerweise aus Eiche. Das Wirtsehepaar wusste anscheinend, welch animalische Kräfte Nacht für Nacht auf den Matratzen ihres ehrenwerten Hauses wüteten.

Kaum hatte Hannemann hinter der Blonden und sich die Zimmertür geschlossen, fielen die Liebenden übereinander her. Sie fistelten gegenseitig an der widerspenstigen Winterkleidung, rissen sich die Unterwäsche vom Leib. Nicht ein Blick von Hannemann auf den sexy BH der Blonden. Harte Hast, unfassbar geil. Schnell stand sie, nur durch eine kleine Perlenkette veredelt, nackt vor seiner Nacktheit und machte – gemeinsam ins Federbett gefallen – kein langes Federlesen: Sie blies. Lippen und Zunge tanzten Rock ´n´ Roll um Hannemanns Stange. Sein Atem ging mit ihm durch. Er sollte, durfte erfahren, was ein Geysir fühlt, bevor er seine vulkanisch aufgeheizte Ladung in den Himmel spritzt. Respektive Richtung Zimmerdecke. Nicht zu kontrollierender Druck. Hannemann spritzte ebenfalls.

Eine Sternenzeit lang wirr, irr strudelnde Hochgefühle. Herz und Lunge mühten sich, den Atem wieder einzufangen. Endlich wagte der Beglückte einen Blick auf die Bläserin. Ihr Engelsgesicht lag seitwärts auf seinem Bauch, die Locken hübsch um den Schwanz drapiert. Der Engel griente spitzbübisch. – Na warte, jetzt war er an der Reihe und würde ihr zeigen, was er so alles auf der Latte hatte. Hannemann wühlte sich in ihrem Leib, Schultern und Schenkel schmeckten köstlich. Warum nicht wagen, ein weiteres Geheimnis zu lüften, nämlich zusammen mit der Blonden Whisky zu trinken? VAT 69, Tropfen mit dem Geruch von Sturm über Meereswogen und dem Geschmack nach rohen Muscheln. Die Blonde hatte nicht das Geringste dagegen, wippte und yippte bald lüstern erregt. Ihr Sopran kletterte mühelos auf das hohe C, während sie ihrerseits Hannemann gleich Gutes tat.

Biblisch beschrieben: Sie wurden ein Fleisch. In Wirklichkeit falsch: Sie wurden Haut eng auf Haut, überhitzte Körper, ein Wust aus umeinander geschlungenen Armen und Beinen. Sie wurden Geschlecht in Geschlecht. Sie mochten das sehr.

In einer notwendigen Pause nach dem fünften Orgasmus ohnegleichen erzählte Hannemann, dass seine Eltern ein edles, bestens besuchtes Restaurant nebst einer Tanzbar außerhalb von München besäßen. Klingt gut, dachte die Blonde und sah sich bereits im tief ausgeschnittenen Chiffon-Kleid auf einem Barhocker viele bunte Cocktails schlürfen. Sie gab noch stärker Gas.

Nach dem neunten Orgasmus ohnegleichen beichtete Hannemann, dass er zwar das Abitur bestanden hätte, dennoch unbedingt Koch werden wolle und irgendwann später das elterliche Etablissement zu einem berühmten Feinschmeckertempel umwandeln würde. Auch gut, dachte die Blonde, lecker Essen ihr Leben lang. Sie konnte nicht kochen, dafür umso besser blasen. Sie bewies es immer und immer wieder. Nicht nur in jener ersten gemeinsamen Nacht. Und wenn sie nicht gestorben ist …

Hannemann klappte das Kapitel halbwegs glücklicher Erinnerungen zu. Aus einem gewissen Abstand betrachtet war das Zusammenleben mit der Blonden gar nicht so voller Schrecken gewesen – zumindest vor ihrer Ehe. Momentan gab es jedoch Wichtigeres zu bedenken: Er wurde überwacht. Na und, war das etwa neu? Seit seiner Kindheit hatte er das unbestimmte Gefühl, jemand schaue ihm ständig über die Schulter. Richtig Angst hatte er deswegen nie empfunden. Keine Schweißausbrüche oder Kribbeln im Nacken erlebt. Ehrlich bedacht, hatte er sich eher behütet gefühlt und oft versucht, durch schnelles Umdrehen seinen Schutzengel zu entdecken. Allein unter der Bettdecke sogar mit dem Beschützer geredet. Seit seiner Auferstehung aus der Hölle war er sich jedoch besonders bewusst, dass er nicht unbeobachtet durchs Leben stapfte. Jetzt, da ihm Deborah die Gewissheit gegeben, schmeichelte ihm seine Observation geradezu. Diese besondere Wertschätzung hob ihn immerhin aus dem Dunst des Unwichtigen und der Unwichtigen, gab ihm Bedeutung.

Wer überwachte und wie viele Wächter man dafür aufbot, wollte er noch nicht wissen. Das konnte warten. Was er jetzt als erstes brauchte, war eine Person, mit der er seine Gedanken teilen, die er in seine Geheimnisse einweihen, von der er erwarten konnte, dass sie ihn wenigstens in etwa verstand. Was aber lag näher, als zuerst an seine gegenwärtige Lebensbegleiterin zu denken. Die junge Frau hatte bereits mehr als fünf Jahre gegen Sorgen, Verzweiflung und sein Ende gekämpft, allein für ihn und in ihm gelebt. Trotzdem prüfe, wer sich weiter bindet. „Bin, ich muss mit dir reden!"

In der Nacht zuvor hatte er wie gewohnt all ihre ihm offenen Regungen des Unterbewusstseins studiert und war erneut vollständig überzeugt worden. Immer wieder suchte ihr Körper im Schlaf den seinen, ihr Gesicht war ihm in unbedingtem Vertrauen zugewandt, und ihre kleinen Hände versuchten ständig, einen Teil von ihm zu berühren. Als er sie in der Morgendämmerung sanft umdrehte, um sich mit Löffelchen zu befriedigen, wurde sie gar nicht richtig wach, erwiderte jedoch im Halbschlaf sein zärtliches Drängen.

„Bin, wer bist du?"

Hannemann selbst hatte ihr oft genug zugeflüstert, sie wäre sein Schutzengel, sein zweites Herz, sein Frühling, seine Wiese, sein neues Leben. Bin erkannte, diesmal wollte er anderes hören. Entscheidendes.

„Ich bin dein freier Wille", und als er nicht erstaunt, eher nachdenklich wirkte, „du hattest dich doch schon längst entschieden zu kämpfen, brauchtest allein ein bisschen Unterstützung. Und dieses bisschen Hilfe bin ich."

Das war klar und offen, beruhigend. „Ich habe Hunger, du hast mich heute Nacht ziemlich geschwächt. Komm, mach uns Frühstück, und dann erzählst du mir, was du von mir weißt.“

Bin, Namenträgerin einer kleinen keltischen Göttin, sah ihren eigenen Gott lange an. „Ich weiß einiges, aber ich finde noch keine Zusammenhänge. Vielleicht lässt du erst mal was raus, bevor ich etwas dazu sage."

Das war sinnvoll. Also redete er bei rotzig gebratenen Spiegeleiern auf krossem Paprikaspeck und friesischem Tee mit Kandis von seinen vielen Leben und sogar von den vielen verschiedenen Frauen in jenen Leben. Deborah eingeschlossen. Er sprach von seiner immerwährenden Suche und seinem Scheitern, sprach weiterhin davon, dass er diesmal nicht so einfach aufgeben wolle. „An sich hatte ich schon immer das unbestimmte Gefühl, ich würde mich von anderen Menschen unterscheiden. Es klingt verrückt, aber ich glaube, ein höheres Wesen hat mir eine Aufgabe gestellt. Ich soll wohl noch große Taten vollbringen, weiß aber nicht, wie die zu bewerkstelligen wären. Ich besitze viele Fähigkeiten und habe sie, vermutlich aus Bequemlichkeit, nicht richtig genutzt. Irgendwann einmal werde ich mich wohl bei diesem höheren Wesen dafür rechtfertigen müssen.“

Hannemann sprach langsam, stockend, er musste erst die vielen Gedanken ordnen. „Wenn ich etwas wissen wollte, meinen Lehrern mit vielen Fragen auf die Nerven ging, stieß ich bei ihnen auf Unverständnis. Und wenn mich einmal einer aufklären konnte, war ich wohl zu hochmütig, die Einfachheit zu sehen. Ich besitze heute noch diesen Hochmut. Noch eines, ich habe immer gewusst, die Blonde würde ein entsetzlicher Irrtum werden und habe mich nicht dagegen gewehrt."

Es gab nun hausgemachte Stachelbeermarmelade auf gebutterten Vollkornscheiben mit einer frischen Tasse Tee. Bin, hellwache Augen, hörte aufmerksam zu.

„Erst nach den letzten Operationen verstand ich, dass mein Geschmack, meine Sympathie und meine Abneigung, bei allen Entscheidungen, die mich betreffen, bedeutend sind. Ich glaube nicht, dass ich mich darin irre. Aber angenommen, ich würde mich irren, und ich hätte hundertmal das Falsche getan, dann muss es, Gott verdammt noch mal, trotzdem bei jeder weiteren Entscheidung die Wahl zwischen richtig und falsch noch ein weiteres Mal geben. Und diesmal habe ich mich anders entschieden, werde mich auch weiterhin anders entscheiden."

Hannemann hatte sich in Rage geredet. Bin lauschte schweigend, da kam ihm ein anderer Gedanke: „Du weißt, wie gerne ich im Fernsehen Wissenschaftssendung über die Entstehung des Weltalls verfolge. Seit einiger Zeit wird in diesen Beiträgen immer öfter die Theorie vertreten, es gäbe nicht nur ein Universum, sondern unendlich viele. Und ebenfalls unendlich viele Welten, die exakte Spiegelbilder unserer eigenen Welt sind. Weiterhin würden in diesen unendlich vielen anderen Welten unendlich viele genaue Kopien von uns selbst herumspazieren. Ganz ehrlich, Bin, ich wusste das bereits. Zwar nur von einer anderen Welt und ebenso nur von einem Doppelgänger, aber ich weiß von ihm und gleichfalls von seiner Frau. Folglich von meiner.“

Bin schien diese Ungeheuerlichkeit nicht einmal zu bemerken. „Woher hast du das alles?" Sie fragte nicht staunend, eher mit einer Neugierde, die die Antwort schon ahnt. „Seit wann kennst du deine angeblichen Vorleben und seit wann weißt du von angeblichen Doppelgängern?"

Wenn er Vertrauen fordern wollte, musste er auch Vertrauen zeigen. Also zögerte er nicht. „An und für sich beruht mein heutiges Wissen auf einem Irrtum. Mein Aufenthalt im Krankenhaus, die Intensivstation, du erinnerst dich bestimmt an den Tag, an dem ich in die Röhre geschoben wurde. An dem ich mich der Computertomographie unterziehen musste. Damals wusste ich, dass ich dran war. Es war dieses Dröhnen in der Enge, dieses rote Stopplicht, der rhythmische endlose Sprechgesang: „Bitte einatmen ... Luft anhalten ... ausatmen ... bitte einatmen ... Luft anhalten ... ausatmen ... bitte einatmen ... Luft anhalten ...“

Es raubte mir den Willen. Meine Muskeln, Organe und Nerven wurden geradezu hypnotisiert, in den Schlaf zu gleiten und alles zu vergessen. Hätte man mich nicht am Ende der Untersuchung gezwungen, selbständig die paar Meter zu meinem Rollstuhl zurück zu gehen, ich glaube, ich wäre gleich dort gestorben.

Dann lag ich wieder, mit piepsenden und flimmernden Monitoren durch Schläuche und Kabel fest verbunden, auf meinem zu engen Lager und wartete. Unmöglich, mich in der Breite des Bettes zu wenden. Am Fußende hatte man das Stützbrett entfernt, und meine bloßen Beine schwebten dreißig Zentimeter über dem sterilen Linoleumboden. Ich zählte zum tausendsten Mal die kalt strahlenden Quadrate der Neondeckenlampen, ohne dass ich mir jemals die Summe merken konnte. Man hat viel Zeit für solche, an sich nutzlose Überlegungen. Möglicherweise dachte ich auch, wie erträglich es ein abweisendes, weißes, kühles Zimmer macht, in ein freundlicheres Licht zu wechseln. Nein, eigentlich glaube ich, dass ich gar nichts dachte, einfach ergeben war. Nur warten musste.

Die Frau mit dem Selbstmordversuch an meiner linken Seite, die eine Stunde lang ihre zwei Zentner schwere Liebe zu einem durchgebrannten Versorger durch das Zimmer geplärrt hatte, war endlich durch Valium ruhig. Sie bekam bestimmt nichts mit, aber der gütige alte Mann in den Leinentüchern rechts neben mir seufzte tief, als der Tod gelassen die Station betrat. Der Tod wirkte, als wollte er mich in den Frieden saugen, und ich, ich wollte mich nicht mehr wehren. Da habe ich erkannt: Der Tod schenkte mir, wie er es bisher immer getan, den Rückblick, um meine Erfolge und Versäumnisse selbst zu bewerten. Aber es war nicht nur ein Leben, das ich betrachten und beurteilen sollte, es waren viele in verschiedenen Zeiten. Diese Betrachtung war jedoch nicht sonderlich aufregend.

Im Rückblick war ich trotz meines Anspruchs stets mit der Menge schwimmender Durchschnitt gewesen. Vielleicht ein paar Glanzlichter, und es hätten mehr sein können, wenn ich mich nur jemals richtig angestrengt hätte. Egal, wen kümmerte das noch. Mich auf keinen Fall, ich wollte gleich den Übertritt.

„Ich will nicht mehr!" Klar und deutlich hallte der Satz durch den nüchternen Raum. Der gütige alte Mann hatte, so wie auch ich, den Tod gespürt und die Erlösung auf sich bezogen.

Der Tod schien verwirrt. Hier lag ich, Mittelalter und noch in ziemlich rüstigem Zustand, und dort, vor dem nachtschwarzen Fenster, die graue Zerbrechlichkeit, welche mit dünnen Armen und knotigen Fingern endgültige Erlösung suchte. Der Tod griff zu. Das regelmäßige Piepsen wurde zum Dauerton. Irgendwo mussten Alarmglocken schrillen, und irgendetwas Starkes in meinem Inneren – im Kopf und nicht im Unterleib, wo ich bisher meine Seele vermutet hatte – ließ mich sprechen: „Aber ich will noch."

Ein Pfleger und ein Arzt eilten an das Bett, sorgten eiligst für den Alten. Spritzen entleerten sich in den senilen Körper. Elektroschocks bäumten ihn der Decke entgegen. Der Pfleger presste mit riesigen Händen wieder und wieder die Brust des armen Menschen, ließ seine Rippen im Takt brechen. Alles, um dem altersschwachen Herz den entscheidenden lebensrettenden Schlag zu versetzen. Der Tod erkannte seinen Irrtum, öffnete die Faust. Der Dauerton verschwand. Unregelmäßiges Piepsen, das Herz des Alten mühte sich, einen kräftigen Rhythmus zu finden. Der gütige Mann schien gerettet. Der Tod wandte sich wieder zu mir.

„Nur noch die Blüte der Kirschbäume", flehte das Starke aus meinem Kopf. „Ich habe sie erst im letzten Jahr gepflanzt. Keine Kirschen, doch wenigstens die Blüten!"

Der Tod verneinte.

„Dann wenigsten Weihnachten, das Fest der Liebe. Ich möchte es noch einmal mit meiner Frau verbringen. Heiligabend ist doch schon in zehn Tagen."

Der Tod lehnte ab.

„Bitte!"

„Er lebt! Wir haben es geschafft, wieder einmal, aber was machen wir jetzt mit seinen Rippen?" Es war die erschöpfte Stimme des Pflegers. „So wie die aussehen und bei seinem Alter wachsen die Rippen doch nie mehr zusammen?"

„Lasst mich endlich in Ruhe. Bitte, ich will meine Ruhe." Es war der brüchige, kaum verständliche Atem des Alten, der die unwiderrufliche Entscheidung herbeiführte.

Der Tod hatte ein Einsehen, knipste das Piepsen aus. Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, wie sehr der Pfleger weinte.



















Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann

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