Читать книгу Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann - Hans-Dieter Heun - Страница 5

Der Zauberer sprach in sanften, doch drängenden Weisen. Und Gott antwortete ohne zu zögern, Sie lachte.

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Er wurde beobachtet, von Anfang an. Klar, durchsichtig ist jedoch nicht, von welchem Anfang an. Von Anfang dieses Lebens an oder von Anfang all seiner Leben an? Jedenfalls wurde er kritisch beobachtet, von vier Augen. Doch die griffen nie ein. Logisch. Hat man, wer auch immer das sein mag, schon jemals gehört oder gelesen, dass Augen eingreifen können? Augen können einsehen, wenn auch nicht begreifen. Augen melden nur Signale nach oben, dorthin, wo der Verstand sitzt … Oder sitzen sollte.

Diese vier Augen meldeten also die Signale. Halt! Waren sie wenigstens dazu fähig? Immerhin müssten die vier Augen für diese besondere Form der Signale zumindest etwas begreifen können. Gut, den zwei Personen, so sie denn welche sind, die zu den vier Augen gehören, ist vieles, wenn nicht sogar alles möglich. Und nicht nur etwas. Ihre Augen kritisch melden zu lassen, zu begreifen und dann nicht einzugreifen, war und ist eine ihrer leichtesten Übungen.

Fast war es ein Spiel. Die Augen der zwei Personen beobachteten, und er hatte langsam gemerkt, dass er eingesehen wurde. Von jemand. Nur verdächtigte er die Falschen. Es war schon richtig, seine Schöpfer zu verdächtigen, aber waren seine Schöpfer wirklich seine Schöpfer? Die Verantwortlichen? In letzter Instanz?

Wurscht, er hatte aus allem gelernt, ein ganzes Leben lang oder auch viele Leben lang nachgedacht. Und vermeintlich begriffen. Jetzt gab er selbst Rätsel auf, erzählte bunte Märchen. Den Falschen wie den Richtigen, obwohl die Richtigen an sich die Lösung aller Rätsel, aller Märchen kennen sollten.

Ein Rätsel: Die Farbe Schwarz. Er, der Märchenerzähler, spürte ihr Dasein überdeutlich, selbst wenn er in Träumen weilte. Er musste nur mit den Daumen seine Augenlider sanft, aber doch mit der notwendigen Festigkeit in ihre Höhlen drücken, und Es würde erscheinen. Es, das warme schwarze Loch, samtig weiblich inmitten von brillierenden Gestirnen. Stete Winde und himmlische Töne würden jene Sterne treiben, und er wäre in ihnen wohl aufgehoben, aufgefordert zu fliegen.

Der Märchenträumer war sehr weit gekommen in der Kunst des Fliegens. Am Anfang der Unsicherheit hatte er noch ein Tuch, ein Laken, seinen Anorak oder einfach nur einen Schal wie Flügel zwischen Arme und Körper gespannt, um torkelnd und taumelnd von wehenden Tönen umher getrieben zu werden.

Nun, sicher aus starker Seele, genügte es, allein seine Finger zu spreizen, und die Gier in ihm stieg: Ich will fliegen! Sofort! Fliegen war ihm vertraut, schön geworden. Und am schönsten war das Fliegen in die Schwärze: in den schwarzen Schoß einer Frau.

Schwarz war von Bedeutung. Das Fliegen, die Sterne, der Wind und die Musik waren bedeutend, und bedeutend war gleichfalls die Bedeutung einer Frau. Doch er ahnte noch nicht wie sehr.


Hannemann lag im Bett und genoss seine Schmerzen. Er wusste, sie waren seine unverzichtbaren Helfer, jetzt, wo er wieder einmal klar war. Klar von der Droge A. Ständige Pein half ihm jede Nacht, schlaflose Zeit zu gewinnen für die Suche nach dem Sinn seines Lebens. Des Lebens schlechthin und überhaupt. Jene munteren Schmerzen verdrängten die störende Müdigkeit, beschenkten ihn mit langen wachen Stunden, welche er dringend brauchte, weil er ahnte, fühlte, er war so nahe daran, der erste zu sein. Der erste, der verstand. Und auch das wusste er mit der Sicherheit des gestrigen Sonnenaufgangs, er war schon immer bestimmt gewesen, der erste zu sein. Nur warum er?

Doch das war ebenfalls nur ein Teil des Rätsels „Sinn des Lebens". Es beruhigte ihn wohltuend, bereits so weit zu sein, um bewusst abstreiten zu können, es hätte schon andere gegeben, vor ihm, mit ihm oder selbst in der Zukunft, die verstanden und geschwiegen hätten. Diese Anderen – wenn sie denn existieren würden – hätten sicherlich mit dem ihnen widerfahrenen Wissen geredet, hätten einfach nicht schweigen können, denn die Lösung dieses größten und letzten Rätsels verlangt wie jede Lösung das laute Gerede. Das Weiterplaudern zum öffentlichen Beweis: „Seht her, ich bin! Seht her, ich weiß!"

Außerdem hatte er nach eventuellen Verstehenden geforscht, jedoch keine Spuren von ihnen gefunden. Nein, von möglichen oder unmöglichen Verständigen fanden sich auf keiner Ebene der endlichen Zeit irgendwelche Zeugnisse.

Er war wohl der erste, doch in ihm war keine Freude.

Übrigens war Hannemann ebenfalls ein Plauderer und ständiges, eindringliches Schwätzen ein natürlicher Teil seiner Macht. Für den Moment jedoch betrachtete er unter wachhaltenden Schmerzen die Frau, welche seit einigen Jahren im Bett rechts neben ihm lag und sich im Schlaf nackt öffnete. Sie war ihm irgendwann zugelaufen, hatte ihm aber sogleich alles gegeben, dessen sie fähig war, und wie immer staunte er über die völlige Offenheit und das Vertrauen in ihrem runden Kindergesicht.

Sie hatte die Droge A bekämpft und wenigstens einen sanften Tod für ihn besiegt. Sie rief die Lebensfreude zurück und schenkte ihm sättigenden Genuss in einer derart einfachen, schamlosen, gebenden, aber auch fordernden Art, die er so nie zuvor mit vielen anderen Frauen – verbildeter, geschönter, versauter, heiliger, bereiter oder verschüchterter – genossen hatte. Manchmal, ganz unvermutet, meinte er sogar, sie zu lieben. Gerade jetzt, als ihre Brustwarzen, noch erregt von der eben gegebenen Lust, ihm entgegen strahlten, empfand er erneut diesen erhabene Gefühle hervorrufenden Augenblick.

Er war alt und sie zu jung … Zu jung zu was nicht? Und er war krank, zuckerkrank, nicht immer fähig, sie jedoch das Bild lockender Gesundheit. Doch beide besaßen Hände, Münder mit gierigen Zungen, und ihr angespannter Bauch, ihre warme Nässe, ihr Stöhnen, Keuchen, ihre Bisse und ihr abgehacktes Stammeln waren echt gewesen. Hannemann hatte genug Lügnerinnen erlebt.

Wenn das Gefühl Liebe mehr sein sollte als dieses Gern-Haben-Wollen, diesen auf Menschen und Sachen übertragenen Egoismus, war Liebe sicherlich ebenso Teil der Aufgabe Sinn, welche ihm zur Vollendung aufgegeben war. Nur zu dankbar würde er daher dieses Gefühl auf die Schläferin übertragen. Wie schon gedacht, sie hatte den sanften Tod für ihn besiegt. Aber sie gab ihm gleichfalls, selbstverständlich ohne ihr Wollen und Wissen, die Schmerzen zurück.

Den Schmerzen dieser Nacht nach zu urteilen, würden es lange lustvolle Stunden werden, die ihn einen weiteren Zentimeterschritt zum Ziel, Sinn seines Lebens, führen könnten. Es war genau die richtige Mischung aus dumpfem Dröhnen und hellen verrückten Spitzen, die ihm garantierte, dass die erlösende Ohnmacht der Erschöpfung und die Zeit der wahnsinnigen Träume erst in den frühen Morgenstunden bevorstanden, ihn dann in einen Schlaf zwang, welcher bereits lange keine Erfrischung mehr brachte.

Hannemann schweifte kurz durch die Gedanken, ob Heilkundige – Ärzte etwa oder Schamanen – überhaupt imstande sind, die ihnen geschilderten Leiden zu begreifen. Oder wie man ihnen dieses beibrächte, wo er sich selbst oft nicht über die gerade anstehende Intensität im Klaren war. Mal hielten die Schmerzen ihn nur unruhig, dann warfen, zuckten und bäumten sie ihn derart stark, dass er sich wiederholt fragte, ob er nur wehleidig sei oder bereits über die Grenze des gerade noch auszuhaltenden Empfindens überschritten habe.

An und für sich war Hannemann nie ohne dieses nervende Quälen gewesen, das er allerdings ohne große Umstände zu betäuben vermochte. Früher hatte er, oft bis zu zehnmal am Tag, die kleinen weißen runden Freunde zu kurzer Hilfe gerufen. Außerdem ausgiebig die Droge A, welche noch dazu seine Laune heizte und gute, unsinnig logische Gedanken und Gefühle vermittelte. Einen Rausch der Sinne. War er endlich schmerzfrei, in Hochstimmung, hatte er ein Weib gebraucht.

Drogen sind den Männern gewogen. Das ist so. – Er hatte sich oft gegen sie gewehrt, sogar seine wechselnden Konstrukteure bei ihren Verbesserungsversuchen mit Hinweisen noch während des Abspritzens unterstützt: „Links, viel weiter links, links schafft den widerstandsfähigen Geist. Ja, so ist es gut. Los, laufenlassen!“ Doch nichts hatte geholfen, die Drogen waren übermächtig. Alle. Nur das Weib, die Rechtsschläferin, schuf Linderung. Liebe, ebenfalls eine Droge?

Die wechselnden Konstrukteure, auch Eltern genannt, Hannemann grinste in seine Schmerzen. Scheinbar war er keine sonderlich geglückte Konstruktion. Auf unzähligen Rückrufaktionen von den jeweiligen fickenden Blutklempnern zwar ständig verbessert, doch zugestopfte Schmerzlöcher rissen immer wieder nur neue Qualquellen auf. Oft genug hatte er sich vorgestellt, wie seine neuerliche Zeugung möglicherweise abgelaufen war.

„Füße und Zehen beim Bumsen richtig hinzukriegen, ist wirklich sauschwer", könnte etwa ein schwer atmender, schwitzender Vater zu der gleichfalls transpirierenden Mutter gesagt haben. „Ein Brustbein, eine Hüfte oder ein Armkugelgelenk sind ein Klacks gegen Füße und Zehen. Denke allein mal an das Gleichgewicht unseres Sohnes, vor allem, wie er sich später bei seiner ständigen Fresserei und der daraus resultierenden Gewichtszunahme entwickeln wird. Diese Dreckszehen sollen ein ganzes Leben funktionieren, aber er wird fressen, immer nur fressen, dabei zwangsläufig größer und fetter werden. Und all das soll dann bei seinen Füßen ohne Probleme abgehen? Also ich weiß nicht, wie das andere pflichtbewusste Eltern schaffen. Darum streng dich gefälligst an, gib Gas, Alte.“

Dies war selbstverständlich allein notwendiges verliebtes Drumherum-Gerede, die Schwitzenden hatten den Akt für gewöhnlich gut hinbekommen. Besonders sein Gehirn und das Geschlechtsteil funktionierten seiner Meinung nach stets außerordentlich gut. Aber lustig, wenn auch unter Schmerzen, war es doch, sich so ein Gespräch auszudenken.

Sei´s drum und überhaupt, es half ohnehin nichts: Der diesmalige Vater kam zu einem kurzen Heimaturlaub aus dem tausendjährigen Krieg. Kaum die Tür hinter sich zugezogen, riss er den Reißverschluss seiner Uniformhose auf, warf sich auf die diesmalige Mutter, druckte, die Mutter zuckte, einmal, zweimal, und der Schwanz spuckte. Ein Sohn war gezeugt. Hannemanns Leib, der zur Regeneration in einer völlig anderen Welt weilte, wurde gerufen, nach den üblichen neun Monaten mit den gleichen, ewig schmerzenden Plattfüßen geboren und wieder einmal auf eine wahnsinnige Runde geschickt. Noch dazu mit frischen Eltern, die er sich, schrecklichste Erfahrung in diesen verschiedenen Leben, nicht selbst aussuchen durfte.

Eine lange, übersprudelnde, Sinne ausreizende, gewalttätig lustvolle Reise hatte abermals begonnen, und es dauerte wiederum viele Jahre, bis sich endlich die schützenden Nebel vor seinen Gedanken hoben, und er sich mit neugemachten Erfahrungen der eigentlichen Aufgabe, dem Sinn seines Lebens, zuwenden konnte.


















Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann

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