Читать книгу Das Vierte Quartal - Hans Günter Gassen - Страница 15

Оглавление

|43| 5 Veranlagung oder Erziehung: Was bestimmt Lebensqualität und Alter?

Erbe oder Erziehung

Wenn wir uns bei einem neugeborenen Kind die Frage stellen, ob sein Aussehen und sein Verhalten von den Erbanlagen oder der Erziehung bestimmt werden, so fällt die Antwort scheinbar eindeutig aus: Das Neugeborene ist zwar ein Individuum, letztlich jedoch das Produkt der Gene seiner Eltern.

|44|Ohne Zweifel leisten sowohl die Genetik wie auch die Erziehung einen Beitrag zur kindlichen Entwicklung. Über die jeweiligen Anteile streiten sich die Experten, da je nach Fachgebiet ein jeder für sich den größeren Anteil einfordert. Während das Ererbte von der DNA bestimmt wird, ist das Gehirn für das Thema Erworbenes zuständig (→ Kap. 11). Das Verhältnis von ererbt zu erworben kann sich allerdings im Laufe des Lebens ändern.

So könnte besonders im Alter der Einfluss der Gene überwiegen, falls es bestimmte Erbeigenschaften gibt, die Altern und To d programmieren. Die Suche nach solchen Erbanlagen ist z. Z. ein aktuelles Thema genetischer Forschung. Ein besonders umstrittenes Terrain der Erbforschung ist die sog. Epigenetik. Sie befasst sich u. a. mit der Frage, ob im Leben gemachte Erfahrungen das Erbgut strukturell verändern und als Folge die Form des individuellen Alterns bestimmen. Man schließt sogar nicht mehr aus, dass mittels der Epigenetik die Weitergabe erworbener Eigenschaften an die folgenden Generationen möglich ist.

Schreibweise wissenschaftlicher Begriffe

Wissenschaftliche Begriffe werden oft unterschiedlich geschrieben, je nachdem, ob der Autor den griechischen oder den lateinischen Wortstamm bevorzugt. Bei den deutschen Bezeichnungen werden Wörter wahlweise mit C oder Z geschrieben – Citronensäure oder Zitronensäure – oder mit C, K oder Z – Calcium, Kalcium oder Kalzium. Die Vielfalt in der Rechtschreibung bringt zwar keine Probleme für das Verständnis, aber es erschwert das Nachschauen in einem Stichwörterverzeichnis oder im Internet. Der Autor hat die in den beiden nachfolgend zitierten Standardwerken praktizierte Schreibweise übernommen:

Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 262. Auflage, 2010, de Gruyter Verlag, Berlin

Tortora und Derrickson: Anatomie und Physiologie, 2006, Wiley-VCH Verlag, Weinheim.


5.1 Eine flächige Projektion der DNA-Wendeltreppe. Der Faden wird von Zuckermolekülen gebildet, die über Phosphorsäuren miteinander verknüpft sind. Jedes Zuckermolekül ist mit einem informationstragenden Element, einer der vier Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin, verknüpft. Die beiden Stränge werden durch vielfältige, aber schwache physikalische Kräfte zusammengehalten, die man als Wasserstoffbrücken bezeichnet. Diese Summe von schwachen Kräften erlaubt das Auseinandergehen und das Wiedervereinigen der beiden DNA-Stränge. Erbfehler (Mutationen) entstehen, wenn beim Kopieren eines Stranges ein falscher Partner, eine falsche Base – hier als Partner von Adenosin Cytosin anstelle von Thymin –, eingebaut wird. Zumeist werden diese Fehler von zelleigenen Reparaturmaschinen behoben, gelegentlich aber werden sie auch vererbt. Fehler in Maßen garantieren in der Evolution die Vielfalt von Lebensformen, bei einem Individuum können sie jedoch auch schwere Krankheiten hervorrufen.

Die biologischen Grundlagen der Vererbung

Das Erbprogramm aller Lebewesen, vom Bakterium bis zum Menschen, ist in einem fadenähnlichen Molekül verschlüsselt, das aufgrund seiner chemischen Struktur mit dem komplexen Namen Desoxyribonucleinsäure bezeichnet wird. Deshalb werden anstelle des Zungenbrechers fast immer die deutsche Abkürzung DNS oder die international gebrauchte Abkürzung |45|DNA (deoxyribonucleic acid) benutzt. Die Abkürzung DNA wird im Folgenden verwendet.

Den genetischen Informationscode, wie er in der DNA niedergelegt ist, kann man mit einem Alphabet vergleichen.

Das genetische Alphabet nutzt als Informationselemente nur vier Buchstaben, nämlich A, C, G, und T; dies sind Abkürzungen für chemische Verbindungen. Das DNA-Molekül des Menschen besteht aus drei Milliarden dieser Buchstaben und wäre als gestreckter Faden etwa zwei Meter lang. Die DNA existiert in der Zelle als verdrillter Doppelfaden, das berühmte Strickleiter-Modell. Wenn sich eine Zelle teilt, erhält jede Tochterzelle wieder ein weitgehend mit der Mutterzelle identisches DNA-Molekül. Da Mutter und Tochter genetisch fast identisch sind, kann man sie auch nach dem Aussehen, dem Phänotyp, nicht unterscheiden.

Die DNA dient als Bauanleitung zur Herstellung von ca. 30 000 unterschiedlichen Proteinen oder Eiweißen. Die heute zumeist benutzte Bezeichnung Proteine stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „von erstem Rang oder von erster Bedeutung“.


5.2 Das vereinfachte Schema skizziert die chemischen Grundlagen der sogenannten Genexpression, die Umsetzung der als DNA gespeicherten Information in einen aus Aminosäuren zusammengesetzten Proteinfaden. Dabei werden von der DNA viele kurzlebige Kopien gemacht, die man als Boten- oder Messenger-RNA bezeichnet. Diese Abschrift dient dann als Matrize zur Synthese der Proteine. Wird in der DNA ein Baustein verändert, so wird auch in die mRNA ein falscher Buchstabe eingeführt und damit eine falsche Aminosäure in das Protein.

Proteine sind aus 20 unterschiedlichen Aminosäuren aufgebaute fadenförmige Makromoleküle. Die Anzahl, die chemische Natur und die Reihenfolge der Aminosäuren bestimmen die Struktur und die Funktion des Proteins. Sie sind die zellulären Komponenten, die alle Vorgänge auf der Ebene von Zellen und Organismen dominieren. Sie fungieren in Form von Kollagen als Bauelemente, beschleunigen als Enzyme Stoffwechselreaktionen, bestimmen als Hormone unsere Gefühlswelt und organisieren als Antikörper die Infektionsabwehr. Das Syntheseschema zur Auswahl der richtigen Reihung und der nachfolgenden |46|Verknüpfung der Aminosäuren zu einem Protein ist genetisch in unserem Erbgut, der DNA, niedergelegt. Kurz gefasst ererben Kinder von Eltern nichts anderes als eine Bauanleitung zur Synthese von ca. 30 000 unterschiedlichen Proteinen.

Je drei der vier in der DNA vorkommenden Bausteine Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin werden zur Durchführung einer programmierten Proteinsynthese als Informationselement zu einem so genannten Codon zusammengefasst, das aus drei genetischen Buchstaben besteht. Es stellt das Programmwort für den Einbau einer definierten Aminosäure in ein Protein dar. Der „genetische Code“ gilt mit kleinen Abweichungen für alle Lebewesen und auch für die nicht dem Leben zugeordneten vermehrungsfähigen Formen wie Viren.

Da sich Lebewesen jedoch ständig an ihre Umwelt anpassen und Phasen der Entwicklung wie Reife und Altern durchlaufen, müssen sie über die Fähigkeit verfügen, aus der Gesamtheit des genetischen Speichers einzelne Informationen selektiv abzurufen und zu nutzen. So existieren in vielen Zellen zwei Klassen von Proteinen: Haushaltsproteine, die in konstanter Menge produziert werden, und Bedarfsproteine. Beispielsweise wird bei verstärkter körperlicher Leistung mehr Sauerstoff veratmet bzw. mehr Glucose zu Kohlendioxid abgebaut als in Phasen der Ruhe. Die für diese Vorgänge im Stoffwechsel benutzten Enzyme und Transportproteine werden dann verstärkt hergestellt. Um diese Anpassungen molekular zu ermöglichen, werden Gene in einem Vorgang, den man Überschreibung (Transkription) nennt, zuerst in ein chemisch ähnliches Molekül, eine sog. Boten-RNA (engl. messenger-RNA, abgekürzt mRNA) umgeschrieben. Die in der mRNA niedergelegte genetische Information wird dann mit Hilfe von zellulären Synthesemaschinen (Ribosomen) in eine Aminosäureabfolge, also in ein Protein, umgesetzt.

Die Zwischenstufe mRNA ermöglicht es, die Zahl der Proteinkopien, die von einem Gen gesteuert werden, drastisch zu erhöhen. Von einem Gen können in etwa zehn Minuten ca. 1000 RNA-Moleküle synthetisiert werden. Jedes RNA-Molekül kann als Matrize zur Produktion von 1000 Proteinkopien dienen. So kann ein „aktives“ Gen die Produktion von einer Million Proteinkopien dirigieren. mRNA-Moleküle werden in den Zellen nach Bedarf synthetisiert und danach schnell wieder abgebaut, d. h., sie unterliegen einem raschen Wechsel oder „turn over“. Somit repräsentiert die DNA nur die genetische Kompetenz eines Organismus, während Typ und Menge der mRNA die aktuelle Stoffwechsellage einer Zelle wiedergeben. Durch das Konzept von Zwischenkopien ausgewählter Gene kann sich ein komplexer Organismus stets an die Umweltbedingungen anpassen. Aber wer und was entscheidet, ob ein Gen an- oder ausgeschaltet wird und welche Proteinmenge produziert wird? Gene bestehen aus Strukturstrecken, fortlaufenden Codonen, die die Synthese eines Proteins aus aufeinander folgenden Aminosäuren vermitteln, und Steuerelementen (Promotoren), die vergleichbar einem Schalter das An- und Abschalten des Gens bewirken. Wie immer sind auch an diesem Vorgang Proteine beteiligt, die man Transkriptionsfaktoren nennt. Sie binden an die Steuerstrecken an und regulieren damit die Menge an mRNA und somit die Zahl der Proteinkopien, die produziert werden sollen. Ein Steuerelement kann die Synthese eines oder auch mehrerer Proteine dirigieren. Oft bindet ein kleines Molekül, wie etwa Adrenalin, an den Transkriptionsfaktor und überführt ihn von einer inaktiven in eine aktive Form. Die aktive Form bindet an die Regelstrecke und löst die Synthese derjenigen Proteine aus, die vom Stoffwechsel benötigt werden. So entsteht eine Reaktionskaskade, die von einem Stoffwechselprodukt ausgelöst wird, das entweder zu viel oder zu wenig im Stoffwechsel vorliegt. Auch die Synthese der Transkriptionsfaktoren selbst unterliegt einer bedarfsabhängigen Steuerung. Nur durch diese verzweigten Regelkreise kann ein vielzelliger Organismus seinen Stoffwechsel ständig an die äußeren Gegebenheiten anpassen. Derartige Reaktionskaskaden sind lebenserhaltend, wenn z. B. Infektionen abgewehrt oder große Blutungen gestillt werden müssen. Auch bewusstes Verhalten wird erst, zwar ausgelöst durch eine sensorische Wahrnehmung und moduliert durch das Gedächtnis, durch eine Steuerung der Genaktivität ermöglicht.

In Säugerzellen liegt die DNA nicht frei vor, sondern im Verbund mit Proteinen, den sog. Histonen. Die Assoziate aus Nucleinsäuren und Proteinen werden als Chromatin bezeichnet. Durch chemische Modifikation, etwa Methylierung oder Acetylierung der Aminosäuren in den Histonen, wird die Freigabe der Gene oder ihre Stummschaltung gesteuert. Diese Modifikationen werden wiederum von Enzymen wie |47|der Acetyltransferase katalysiert oder durch andere Enzyme wie der Desacetylase auch wieder rückgängig gemacht. Auch die DNA selbst kann so chemisch verändert werden, dass als Folge Gene an- oder abgeschaltet werden. Dazu wird der Baustein Cytosin durch das Anfügen einer Methylgruppe verändert. Beide Modifikationen, die Veränderung der Histone und die Methylierung der DNA, stellen die strukturellen Grundlagen der Epigenetik dar. Dieses Wechselspiel von vielen Komponenten in den Zellen bedingt die Anpassungsfähigkeit des Genoms. Das heißt, wir sind nicht dem Diktat der Gene unterworfen, sondern gestalten durch unser Verhalten Struktur wie Funktion des von den Eltern übernommenen Erbguts.

Im Laufe der Evolution hat sich das Erbgut der Lebewesen ständig verändert. Die meisten der Veränderungen – Mutationen genannt – hatten für das Individuum negative Auswirkungen und wurden so nicht weitergegeben, da sich ein Lebewesen mit einer schlechteren Erbanlage nicht gegen seine Artgenossen durchsetzen kann. Gelegentlich aber hat eine Mutation auch positive Auswirkungen auf die Überlebenschance des betroffenen Individuums. Es konnte sich beispielsweise effizienter fortpflanzen als seine Konkurrenten, die Mutation wurde weiter getragen und erwies sich als stabil. Je kürzer die Generationszeit eines Lebewesens und je höher die Zahl seiner Nachkommen ist, umso häufiger sind Mutationen und umso schneller kann sich eine Mutation durchsetzen. Durch das Prinzip „Mutation und Selektion“ entstand über den Evolutionszeitraum von 3 Milliarden Jahren die Vielfalt der Arten, wie wir sie heute kennen. Veränderungen des Informationsgehalts der DNA können auch durch äußere Einwirkungen wie etwa durch energiereiche Strahlung oder Chemikalien ausgelöst werden. Somit können Umweltbedingungen die Mutationshäufigkeit erhöhen. Falls die biologisch bestimmte Selektion durch kulturelle Einflüsse verhindert wird, kann es, über lange Zeiträume gesehen, zu einer Verschlechterung der Erbanlagen eines Lebewesens kommen.

Wenn sich eine menschliche Zelle durch Teilung vermehrt, verdoppelt sich auch die DNA, was bedeutet, dass drei Milliarden genetischer Buchstaben kopiert werden müssen. Etwa pro einer Millionen Kopiervorgänge passiert in der Zelle ein Fehler, d. h., die Tochterzelle unterscheidet sich in etwa dreitausend genetischen Buchstaben von ihrer Mutterzelle.


5.3 Eine Auflistung einiger Erbkrankheiten, die dem mit X bezeichneten Geschlechtschromosom zugeordnet werden. Zu diesen Erkrankungen gehören z. B. die Hämophilie A und B sowie die Muskeldystrophien. Da Frauen über zwei X-Chromosomen verfügen, von denen oft nur eins krankhaft verändert ist, können sie Überträger der Erbanlage sein, obwohl sich die Krankheit bei ihnen nicht ausprägt. Männer dagegen haben nur ein X-Chromosom, das zweite bezeichnet man mit Y, deshalb muss sich die Krankheit bei ihnen ausprägen.

|48|Die meisten dieser Veränderungen wirken sich strukturell und physiologisch nicht aus, sie sind schweigend. In sich schnell teilenden Zellen, wie etwa den Zellen der Darmschleimhaut, sind Mutationen häufiger, aber die Zellen haben in der Regel nur eine Lebenszeit von etwa 20 Tagen. Erhöht die Mutation jedoch die Überlebenszeit und vielleicht zusätzlich noch die Teilungsgeschwindigkeit der Zellen, so können Krebszellen entstehen. Nerven- und Muskelzellen teilen sich nach der Geburt nicht mehr und sind so vor Mutationen durch Kopiervorgänge geschützt. Ereignen sich jedoch durch Umwelteinflüsse bedingte Mutationen, welche die Zellen aus der Ruhephase in eine Teilungsphase überführen, so können sich auch bei diesen Zelltypen Tumore ausbilden. Chemische Verbindungen wie Nitrosamin oder Formaldehyd, die sich selbst in einigen Lebensmitteln finden, begünstigen die Kanzerogenese.

Besonders folgenschwer können Erbgutveränderungen sein, welche die Keimzellen, die Gonaden, betreffen. Diese Veränderungen werden an die Nachkommen weitergegeben, also vererbt. Bekannte erbliche Krankheiten sind z. B. die Chorea Huntington, der Veitstanz, die Muskeldystrophien und der Mongolismus. Allerdings werden die meisten genetischen Erkrankungen nicht durch die Mutation eines einzelnen genetischen Buchstabens ausgelöst, sondern haben vielfältige andere Ursachen. Die Eizellen im weiblichen Körper sind schon bei Geburt angelegt, so dass sie sich während der Lebensphase nicht durch Teilung neu bilden. Sie müssen nur einen Reifungsprozess durchlaufen und sind deshalb nicht anfällig für Kopierfehler. Anders verhält es sich bei Spermien, die sich beim geschlechtsreifen Mann ständig neu bilden.

Genetik und Lebensalter

Die Thematik „Ererbt oder erworben“ wird auch im Zusammenhang mit dem Lebensalter des Menschen diskutiert. So gibt es Familien, in denen trotz unterschiedlicher Lebensumstände alle Nachkommen über 90 Jahre alt werden. Solche Beispiele legen nahe, dass das Lebensalter genetisch festgelegt ist. Vor kurzem haben Forscher in Boston bei Untersuchungen an einer Gruppe von Hundertjährigen ca. 75 Gene identifiziert, welche die Ursache für Langlebigkeit sein sollen. Bei 1055 Hundertjährigen – in der Kontrollgruppe 1267 Personen deutlich unter 100 Jahren – hatten 15 % der „Centenarians“ die sog. Langlebigkeits-Gene. Anhand ihrer Analysen glauben die Genetiker vorhersagen zu können, welcher Mensch ein Alter von über 100 Jahren erreichen kann. Die Sicherheit ihrer Vorhersage geben sie mit 77 % an. Weiterhin wurden bei den 100-Jährigen 150 Genveränderungen (Ein-Basen-Austausche, single nucleotide polymorphisms) festgestellt, die zum Wohlbefinden im Alter beitragen sollen. Somit würden in Zukunft aufgrund der genetischen Veranlagung 15 % unserer Mitbürger über 100 Jahre alt werden. Weiterhin kann man anhand einer DNA-Analyse evtl. erfahren, wie es mit der Gesundheit im Alter bestellt ist.

Ohne Zweifel trägt entscheidend die Lebensweise von Kindheit an zum Lebensalter und zur Lebensqualität im Alter bei. Personen, die zur Glaubensgemeinschaft der Adventisten gehören, werden im Mittel 88 Jahre alt, d. h., sie leben 10 Jahre länger als die restliche Bevölkerung eines Landes, was auf ihre gesunde Lebensweise zurückgeführt wird. Ihre Religion schreibt ihnen eine vegetarische Ernährung vor, verbietet Alkohol und Rauchen, verpflichtet zu körperlichen Übungen und empfiehlt eine Stressreduzierte Lebensweise.

Die Epigenetik und das Verhältnis von Ererbtem zu Erworbenem

Der Glaube an die Vererbung erworbener Eigenschaften ist tief in der Bevölkerung verwurzelt. So glauben viele Eltern, dass sie ihren wohlgestalteten Körper oder ihr Bildungsniveau mittels der Gene an ihre Kinder weitergeben können. Was lange von den Evolutionsbiologen und Molekulargenetikern als Scharlatanerie abgetan wurde, erlebt heute als Epigenetik seine strukturelle und funktionelle Wiederauferstehung.

Diese Form der Evolutionstheorie wurde von dem französischen Biologen Pierre Antoine de Monet, Chevalier de Lamarck (1744 – 1829), im 19. Jahrhundert begründet und wird heute als Lamarckismus bezeichnet. Seiner Meinung nach vererben Lebewesen an ihre Nachkommen auch jene Eigenschaften, die sie selbst im Laufe ihres Lebens erworben haben. Die von den Eltern praktizierte Intelligenz werde an |49|die Kinder vererbt, wodurch diese von Geburt an intelligenter seien als die Kinder weniger privilegierter Eltern. Wissenschaftlich wurde der Lamarckismus durch die Entdeckung der Gene durch Gregor Mendel und die Evolutionstheorie von Charles Darwin vorerst widerlegt.

In unserer Zeit erfährt der Lamarckismus als Epigenetik seine Renaissance. Während der Kindheit gemachte Erfahrungen können die Struktur der Histone und der DNA verändern und nachfolgend das Verhalten z. B. im Alter beeinflussen. Eventuell können solche Modifikationen auch an die nachfolgenden Nachkommen weitergegeben werden.

Über alle Forschungsgebiete hinweg wird akzeptiert, dass frühkindliche Erfahrungen ihren Niederschlag im Gehirn finden und Verhalten wie Gesundheit im späteren Leben beeinflussen. Es war bis vor kurzem Lehrmeinung, dass sich verhaltensrelevante Erfahrungen nur in Form neuer Verbindungen (Synapsen) zwischen den Nervenzellen manifestieren (→ Kap. 11). Nun konnte man zeigen, allerdings zumeist mit den Versuchstieren Maus und Ratte, dass Erfahrungen in der Kindheit die Struktur einiger Gene durch chemische Reaktionen, z. B. eine Methylierung der Base Cytosin in der DNA, verändern. Kanadische Wissenschaftler analysierten die DNA zweier Gruppen von Rattenfamilien: In der einen Gruppe kümmerten sich die Mütter liebevoll um ihre Nachkommen, während in der anderen Gruppe depressive Mütter ihre Nachkommenschaft vernachlässigten. Es zeigte sich, dass die Nachkommen der jungen Ratten ähnliches Verhalten aufwiesen: Kinder von depressiven Müttern brachten ihrerseits wieder ängstliche, zuneigungsunfähige Kinder zur Welt. Solche Nachkommen wiesen bei Blutuntersuchungen einen hohen Spiegel an Corticosteron, einem Stresshormon, auf. Die Zahl der Glucocorticoidrezeptoren im Gehirn – sie sind für den Stressabbau verantwortlich, indem sie die Ausschüttung der Corticoidhormone aus der Nebenniere reduzieren – war deutlich vermindert. Bei der Analyse des zuständigen Gens zeigte es sich, dass die DNA durch Methylierung verändert worden war, was die Stummschaltung des Gens zur Folge hatte.

Lässt man weiblichen Mäusen im Käfig kein Material für den Nestbau, so werden sie ängstlich und sie sind später lieblos zu ihren Nachkommen. Man fand, dass das Gen für den neuronalen Wachstumsfaktor |50|BDNF durch Methylierung abgeschaltet war. Beide Versuchsreihen weisen darauf hin, dass die durch Verhalten – hier das Vorhandensein oder das Fehlen einer liebevollen Behandlung der Kinder durch die Mutter – verursachte chemische Veränderung einzelner Gene nicht nur das spätere Leben der Kinder geprägt hat, sondern das so verändertes Erbgut auch an die Nachkommen weitergegeben wurde.


5.4 Mechanismus der epigenetischen Veränderungen der DNA und der Histone. Quelle: Der Spiegel 32 / 2010.


5.5 Der Einfluss der Epigenetik auf die nachfolgenden Generationen. Es wird vermutet, dass epigenetische Veränderungen der DNA oder der Histone an die Kinder- und Enkelgenerationen weiter gegeben werden und deren Eigenschaften beeinflussen können. Quelle: Der Spiegel 32/2008.

Nun stellt sich natürlich die Frage, ob die Genetik von Nagetieren mit der von Menschen vergleichbar ist. Die kanadischen Forscher untersuchten deshalb die Gehirne von 24 Selbstmördern, die als Kinder sexuell missbraucht worden waren, und verglichen sie mit Gehirnen von Unfalltoten als Kontrollgruppe. Auch hier zeigte es sich, dass im Hypothalamus von Selbstmördern das Gen für den Glucocorticoidrezeptor durch Methylierung stumm geschaltet war. Weiterhin zeigte die Analyse der Zellen im Nabelschnurblut von Säuglingen depressiver Mütter, dass das Gen für den Glucocorticoidrezeptor durch die gleiche chemische Modifikation blockiert war. Drei Monate alte Säuglinge hatten eine erhöhte Cortisonkonzentration im Speichel, ein Hinweis auf eine erhöhte Stressanfälligkeit. Die Forscher vermuten, dass Stress in der Kindheit im Alter zu einer erhöhten Anfälligkeit für Krankheiten führt. Auch Drogenkonsum sowie falsche Essgewohnheiten (→ Kap. 13) führen zu dauerhaften Veränderungen von Genen, d. h. auch der Hang zur Überernährung oder Drogensucht können evtl. auf die nachfolgenden Generationen vererbt werden.

Falls epigenetische Muster in Analogie zum Genom als sog. Methylom vererbt werden, wird die Bewertung der Relation von „Ererbt zu Erworben“ neu diskutiert werden müssen. Es scheint denkbar, dass kulturelle Einflüsse und Erfahrungen biologisch von Generation zu Generation vererbt werden. Damit fällt das Dogma der molekularen Biologie, dass nur Zufallsmutationen Veränderungen in der nachfolgenden Generation hervorbringen können.

Es ist auffällig, dass es gerade die in Gehirnzellen benutzten Gene sind, die nach der Geburt verändert werden. Somit könnte das Gehirn die DNA nach seinen eigenen Vorstellungen verändern. Auf die Frage, ob z. B. die Informationsspeicherung eine Sache der Neuronen oder doch Aufgabe der Gene ist, wird im Kapitel 11 eingegangen.

|51| Der mögliche Missbrauch genetischer Daten

Die Ambivalenz einer genetisch orientierten Medizin lässt sich auch am Beispiel der genetischen Diagnostik veranschaulichen. Bei Krankheitsbildern wie der Chorea Huntington kann man voraussagen, dass der Betroffene zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr an einem tödlich verlaufenden Nervenleiden erkranken wird. Solches Wissen kann im Umfeld der Person oder bei der beruflichen Qualifikation für den Betroffenen äußerst schädlich sein. Die Ächtung von Personengruppen aufgrund vermuteter erblicher Belastung hat in der Vergangenheit zu Diskriminierung, Verfolgung und Euthanasie geführt. Solche Auswüchse sind auch in Zukunft nicht auszuschließen. Mit dem entschlüsselten Humangenom und der Bestimmung tausender Erbmerkmale auf einem Diagnosechip wird die voraussagende Medizin immer schneller, umfassender und auch billiger. Ohne Zweifel kann die Nutzung der neurogenetischen Diagnose nicht nur den Anwendern überlassen bleiben, sondern muss im Sinne des „informed consent“ der Zustimmung der Patienten wie einer gesetzlichen Regelung unterliegen.

Literaturangaben

Brown, T. A. (1999): Moderne Genetik. Spektrum Akad. Verlag, Stuttgart

Fischbach, K. F. (1998): Lehrbuch der Genetik, Kapitel Neurogenetik, Hrsg. Seyffert, W., Gustav Fischer, Stuttgart

Gassen, H. G., Martin, A., Sachse, G. (1986): Der Stoff, aus dem die Gene sind. Bilder und Erklärungen zur Gentechnik. J. Schweitzer Verlag, München

Lange, U. C., Schneider, R. (2010): What an epigenome remembers. Bioassays 32 (2010) 659 – 668

Leroi, A. M. (2004): Tanz der Gene – Von Zwittern, Zwergen und Zyklopen. Spektrum Akad. Verlag, Heidelberg

Lipton, B. (2006): Intelligente Zellen. Wie Erfahrungen unsere Gene steuern. KOHA Verlag, Burgrain

Spitzer, M. (2006): Gott-Gen und Großmutterneuron. Geschichten von Gehirnforschung und Gesellschaft, Schattauer, Stuttgart

Das Vierte Quartal

Подняться наверх