Читать книгу Das Vierte Quartal - Hans Günter Gassen - Страница 7

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|9|1 Prolog

Wenn das Gebunden-Sein aufhört, beginnt das Alter; wenn die Seele uns verlässt, endet es.

Das Wissen um die Sachverhalte ermöglicht uns ein eigenständiges Leben im Alter.

Menschliches Leben spielt sich in einer Abfolge von Sequenzen mit unterschiedlicher Bedeutung ab. Kindheit und Jugend, d. h. etwa die Zeit zwischen der Geburt und einem Alter von zwanzig Jahren, gelten zwar als die Phase des reinen Vergnügens am Leben, aber auch als Zeit des Lernens und somit als Vorbereitungszeit auf die Pflichten eines Erwachsenen (Tab. 1).

|10|Die Zeit zwischen dem 20. und dem 60. Lebensjahr stellt den Lebensabschnitt dar, der in unserer biologischen wie sozialen Existenz von zentraler Bedeutung ist. So zeugen und erziehen wir den Nachwuchs und schaffen durch unsere Tätigkeit die Grundlagen für das persönliche Vermögen und das Funktionieren eines sozialen Miteinanders in einer Gemeinschaft wie der Familie oder dem Staat.

Welche Funktionen übernehmen Menschen in der Lebensspanne, die je nach persönlicher Situation zwischen 55 und 65 beginnt und mit dem Sterben endet? Die Antwort ist scheinbar einfach: Sie ruhen sich nach den Strapazen eines arbeitsintensiven Lebens aus, indem sie zwar vielleicht die Betreuung der Enkel wahrnehmen, ansonsten von zeitraubenden und verantwortungsvollen Pflichten entbunden sind. Die Alten scheinen zu genießen ohne zu verantworten und ihr Blick richtet sich mehr und mehr auf vergangene Zeiten. Je älter sie werden, umso häufiger werden Krankheiten und spätestens ab dem 90. Lebensjahr bedürfen sie als Greise der permanenten Pflege durch Familie oder kommerzielle Institutionen. Der dann im hohen Alter anstehende Tod ist häufig ein herbeigesehntes Ereignis, das von den Jüngeren zwar mit Anteilnahme, oft auch mit einer gewissen Erleichterung zur Kenntnis genommen wird.

Eine solche Bewertung der Lebensweise der Älteren und der Hochbetagten mag, wenn auch mit vielen Einschränkungen, in der Vergangenheit gegolten haben. Heute jedoch muss eine derartige Auffassung vom Vierten Quartal als dem finalen Lebensabschnitt in fast allen Aspekten revidiert werden.

Tab. 1.1 Phasen des Lebens. Quelle: modifiziert nach Thomas Arendt, Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung, entnommen: Internet.

So ist der Lebensabschnitt zwischen 60 und 100 Jahren weiter zu differenzieren, da die Periode zwischen 60 und 80 Jahren kaum mit der Zeit von 80 bis 100 Jahren zu vergleichen ist. Bezeichnen wir also die jungen Alten als Senioren und die Zeit nach dem 80. Lebensjahr als das Hohe Alter. Es könnte durchaus sein, dass wir in 50 Jahren diese Altersgrenzen um 20 Jahre nach hinten verschieben.

Im 21. Jahrhundert sind zahlreiche Senioren in den westlichen Industriestaaten wohlhabend bis vermögend, sie nehmen aktiv am öffentlichen Leben teil und erfreuen sich dank Fortschritten in der Medizin einer zufriedenstellenden Gesundheit bis ins hohe Alter.

Das chronologische Alter ist der einzig gültige Maßstab, der für alle Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe zutrifft, die ihr Berufsleben beendet hat und nicht mehr für die Betreuung der Nachkommen sorgen muss. Ein durch die Geburtsurkunde belegtes Lebensalter von 80 Jahren ist ein Fakt, der für alle 80-Jährigen gilt, ansonsten findet man im Verhalten und in den Befindlichkeiten schon eines Jahrgangs eine solche Vielfalt, die es angeraten sein lässt, keine Verallgemeinerungen über die Lebensweise älterer Menschen zu versuchen.

Unterschiede in der Lebensführung resultieren aus Kindheitserfahrungen, Ausbildung, beruflicher Tätigkeit, familiären Verhältnissen, finanziellem Status, sportlichen und künstlerischen Tätigkeiten sowie |11|dem sozialen Umfeld und vor allem dem Gesundheitszustand. Diese keineswegs erschöpfende Aufzählung der Einflussgrößen belegt, dass man einen älteren Menschen nur als Individuum sehen und bewerten kann. So können auch Ratschläge zur Gestaltung der Lebenssphäre nicht summarisch erfolgen, sondern haben jeweils das einzelne Schicksal zu bewerten. Vielleicht ist die Individualität gerade unter den Älteren sogar ausgeprägter, als es die der von Abhängigkeiten und Zwängen eingeengten jüngeren Erwachsenen sein kann.

Andererseits existieren einige Auffälligkeiten im Verhalten, die zumindest auf viele ältere Menschen zutreffen. Ängstlichkeit ist z. B. ein Merkmal, das sich, wohl auch aufgrund von Erfahrungen in der Kindheit, als Verhaltensmuster im späteren Leben etabliert und sich meist im Alter noch verstärkt. Damit einhergehender Mangel an Selbstbewusstsein und fehlende Neugier können in der Zeit der elektronischen Kommunikation zum Problem werden, wenn sie z. B. verhindern, dass sich Senioren der neuen Medien bedienen. Gerade die elektronischen Informationssysteme erlauben es den Älteren, sich mit aktuellen Informationen zu versorgen oder sich durch das Versenden einer Mail Wege zu ersparen. So lassen sich vom Schreibtisch aus auch Bankgeschäfte erledigen, Fahrkarten erwerben oder es besteht die Möglichkeit der bildunterstützten Kommunikation mit Freunden. Nicht zu verschweigen ist allerdings, dass die zweidimensionale Kommunikation zu einer neuen Form von Einsamkeit führen kann. Gespräche mit Andersdenkenden kann ein Computer nicht ersetzen.

Eine andere Gruppe älterer Menschen fokussiert sich z. B. mehr auf das Kranksein als auf das Gesundsein. Die Angst vor einem Tumor oder einem Herzinfarkt kann sich bis zur Phobie steigern, bei der jedes harmlose Symptom als Vorbote einer tödlichen Krankheit gedeutet wird. Viele Senioren nehmen jedwede Änderung ihrer Lebensumstände als Bedrohung ihres fragilen Nicht-Krankseins wahr und ihr Informationsbedürfnis wie ihre Gespräche drehen sich oft um das Thema Gesundheit. Der fast allwöchentliche Besuch beim Arzt ist sowohl Muss wie Labsal und manchmal weniger abhängig von der realistischen Befindlichkeit.

Auch das Leben in der Vergangenheit ist ein Zustand, der sich bei älteren Menschen häuft, die keine Freude mehr an den Ereignissen der Gegenwart empfinden können. Gerade, wenn sich die Alten gezwungen sehen, den Familienverband zu verlassen, um fortan in einem Altersheim zu leben, fassen dies die Betroffenen oftmals als eine Vorstufe zum Sterben auf und entziehen sich der Gegenwart. Stirbt ein Partner nach langen Jahren intensiver Zweisamkeit, so besteht die Gefahr, dass der oder die Zurückgebliebene nur noch in Erinnerungen lebt.


1.1 Sein Alter kann man sehr aktiv gestalten. Quelle: Future – Das Aventis Magazin 2002, 2.

Die meisten Senioren und auch viele der Alten führen im 21. Jahrhundert jedoch ein Leben, das sich wesentlich nur mit Bezug auf das Pflichtenheft vom Alltag der 20- bis 60-Jährigen unterscheidet. Allerdings wird der Anspruch „gesund bleiben“ zum beherrschenden Thema im Alter.

Jeder, der Gesundheit nicht als gottgegeben ansieht, wird sich bemühen, durch sein Verhalten das Wohlbefinden zu fördern. Ein Wieviel an anatomischen und physiologischen Kenntnissen ist nötig, um |12|sich eine eigenständige Meinung hinsichtlich „nützlich oder schädlich“ bilden zu können? Nun braucht es kein Medizinstudium, um zu verstehen, warum Rauchen schädlich für die Lunge ist oder dass ein Zuviel an Zucker den Kreislauf belastet. Das Wissen, wie der eigene Körper funktioniert oder warum er auch einmal streikt, ist nicht nur nützlich, sondern gleichzeitig intellektuell ungemein spannend. Medizinische Basiskenntnisse helfen dabei, selektiv mit den vielen Ratschlägen zur Gesundheit umzugehen, denen sich besonders Senioren ausgesetzt sehen.

Gibt es überhaupt altersspezifische Erkrankungen oder sind diese lediglich Verschleißerscheinungen, die sich mit zunehmendem Alter bemerkbar machen? Viele Senioren leiden z. B. mit 70 Jahren unter Knie- oder Hüftbeschwerden. Bei Leistungssportlern können solche Symptome schon mit 50 Jahren auftreten. Somit ist der Verschleiß nicht nur durch das Lebensalter bedingt, sondern kann auch auf die Lebensführung zurückgehen. Grundsätzlich setzt eine Beschreibung von im Alter gehäuft auftretenden Beschwerden die Kenntnis des Normalzustands voraus, um so die Abnutzungserscheinungen, die zu einer Erkrankung führen, verständlich zu machen. Einige Erkrankungen sind als altersspezifisch zu bezeichnen, so die Demenzen vom Typ Alzheimer und eine zunehmende Morbidität, die sich mit einer stets anwachsenden Verschlechterung des Allgemeinzustands sowie schlecht heilenden Wunden bemerkbar macht. Im Alter wirkt sich auch das Umfeld auf den Krankheitsverlauf stärker aus als bei einem Patienten in der Blüte seiner Jahre. So können Einsamkeit und ein damit einhergehender fehlender Lebenswille das Entstehen einer Krankheit begünstigen und Heilungsprozesse verzögern.


1.2 Eine Gruppe älterer Menschen. Oft sind es nicht nur körperliche Merkmale, die auf das Lebensalter hinweisen, sondern auch Kleidung und Verhalten. Quelle: Yuri Arcurs – Fotolia.com.

In einer gerechten und sozialen Gesellschaft haben die Jungen wie die Alten ihren Platz. Trotz finanzieller Unabhängigkeit können sich Senioren in Gemeinschaften nur wohlfühlen, wenn sie respektiert und vielleicht sogar geliebt werden. Zwar müssen die Alten nicht mehr, aber sie dürfen sich dem Allgemeinwohl verpflichten. Ihre Mithilfe in karitativen Organisationen sowie das Einbringen ihrer Erfahrung in die Vereinsarbeit ist ein Gewinn für beide Seiten. Da der Staat sich aus vielen sozialen Aufgaben zurückzieht, könnten die Senioren mit Begeisterung die entstehende Lücke füllen.

Je älter man wird, umso mehr befasst man sich mit dem Sterben und dem Tod. Über nichts denkt der freie Mensch mehr nach als über den Tod (Baruch de Spinoza). Während bei dem 60-Jährigen noch die Lebensqualität der nächsten 30 Jahre im Vordergrund steht, sind es zumeist bei dem 90-Jährigen die Vorbereitung auf das Sterben und Fragen zum Weiterleben nach dem körperlichen Tod. Diese Aussage ist unabhängig davon, dass viele Menschen jeden Alters jedweden Gedanken an das Sterben bewusst verdrängen.

In vergangenen Zeiten, als die meisten Menschen zumindest in Europa als Christen an eine körperliche Form der Auferstehung glaubten, waren die letzten Lebensjahre eine Zeit der inneren Einkehr, der Reue über begangene Missetaten und vor allem der Buße, um vor dem göttlichen Strafgericht zu bestehen. Somit endet für einen gläubigen Menschen das Leben nicht mit dem irdischen Tod, sondern es beginnt wieder in einer neuen Daseinsform.

|13|Eine immer größere Zahl Menschen in den westlichen Ländern glaubt heute nicht mehr an eine leibliche Existenz nach dem Tod. Die noch jungen Alten vertreten oft eine nihilistische Auffassung, d. h., nach dem Sterben kommt das Nichts bzw. etwas, worüber man nicht nachdenkt. Dementsprechend versuchen sie ihr Verhalten so einzurichten, dass sie ein langes Leben bei guter Gesundheit genießen können. Zunehmendes Interesse finden biologische oder physikalische Maßnahmen, die eine Form des ewigen Lebens ermöglichen könnten. Dazu gehört das Klonen, d. h. das Entstehen eines ähnlichen Individuums aus einer Körperzelle des noch Lebenden oder das Einfrieren des toten Körpers in flüssigem Stickstoff, eine technisch anspruchsvollere Form des Einbalsamierens.

Etliche Alte, denen sich die Zeit des Sterbens nähert, beginnen damit, sich mit ihrer Seele zu befassen. Sie freunden sich mit der Auffassung des griechischen Philosophen Platon (427 – 348 v. Chr.) an, dass die Seele mit der Geburt als Pneuma über uns kommt und, nachdem sie uns ein Leben lang treu gedient hat, mit dem Tod des Körpers wieder ihre Freiheit gewinnt. Da die Seele nicht materiell ist, können Eigenschaften wie Sterblichkeit keine Anwendung finden. Steht die Existenz einer Seele nur deshalb in Frage, weil unser Gehirn ein solches Etwas nicht denken kann und wir es uns damit nicht vorstellen können?

Wenn ein geliebter Mensch stirbt und damit die Trennung von ihm unumkehrbar wird, lebt er doch in unserer Erinnerung weiter. So könnte der nach irdischen Maßstäben Gestorbene so lange leben, wie wir uns an ihn erinnern. Wenn wir ruhig sind und uns ein imaginäres Bild des geliebten Menschen erscheint, möchten wir mit ihm oder ihr reden. Vielleicht sollten wir es tun.

Das Vierte Quartal

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