Читать книгу Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln - Hans Max Freiherr von Aufseß - Страница 17

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Hans Max Frhr. v. u. z. Aufseß.

Aufsess Oberfranken

Schloß Oberaufseß

Tagebuch I

[1] Tagebuchnotizen.

08. 10. [19]43

Rückfahrt von Paris nach Granville.1 Ein leichter herbstlicher Schleier liegt über dem Land, durch den die Sonne ungewiss durchdringt. Das grüne Weideland zwischen den herbstlichen Baumumzäunungen gefällt mir innig. Ich stehe oft auf in meinem leeren Coupé, um noch direkter noch im stärkeren Gegenüber alles zu beschauen. Vom Schauen leicht ermüdet lese ich wieder und nicke ein wenig ein. Der Wechsel ist so erfrischend, daß ich mich tief ausgeruht und befriedigt fühle und zu klaren Rückblicken auf die Urlaubstage alles angeregt finde. Das fruchtbare landschaftlich schöne Frankreich gäbe überall ein tragbares Dasein. Ich schaue mir kleine Hütten an und beobachte einen alten Mann, der am Stock schwer durch den Obstgarten zum Hause zu hinkt, um einen Apfelkorb hineinzutragen. Es kommt mir über, daß der Mann wenig an den Krieg und alle Verheerungen denken wird. Gewiss ist er wunschlos u. glücklich. Eine Bauernhütte ist zu einem Viertel mit neuem Stroh überdeckt. Ich denke an die niedergebrannten Ruinen in Deutschland. Wäre es in meiner Heimat, so möchte ich auch unter einer Strohkate dort gern leben. Vielleicht führt der Krieg uns zum einfachen Leben zurück und ich sehe darin kein Unglück, soweit es das Landleben auf eigenem Boden ist. Die Natur müsste ein Mittel erfinden gegen die Unnatur der Großstädte. Die Technik, die sie [2] ermöglicht hat, zerstört sie folgerichtig nun wieder.2

9. 10. [1943]

In Granville mit Schwester3 Irmgard große Tauschgeschäfte zugunsten der Lieben zu Hause abgeschlossen. (19 kg Butter, 10 kg Leberwurst). Es ist so nett mit ihr dieser Handel, denn im Grunde ist sie genau so uneigennützig wie ich selbst dabei. Wir führen uns als große Geschäftsleute auf und der Handel sind doch nur Liebesgaben.

Da kein Dampfer nach Jersey fährt, Autofahrt nach St. Malo. Wieder herrlicher duftiger Herbsttag. Nur Auto fährt zu schnell. Es gibt viel zu viel zu schauen. Es liegt zu viel Poesie ringsum bereit und die verträgt kein rasendes Fahren. An der Küste gegen Cancale4 entlang blüht der freie Meerboden rot, weit draußen stürmt das Meer an. Herrliche Farben. Das Auto rast. Wie möchte ich gern hier halten und die Farben näher betrachten. Vielleicht ist der Meerboden immer so rot. Es sind die Farben von Frankreich, blaues Meer, weiße Brandungswellen und roter Strand.

In Malo steigen ein paar hundert junge Rekruten auf das Schiff. Es ist ihre erste Fahrt. Ich denke daran, wie schwärmerisch u. begeistert ich [3] gewesen wäre und finde nur wenig in ihnen. Manche freilich saßen die ganze kühle Mondnacht auf der Aussichtsbank und sie mögen in ihrem jungen Herzen wohl manches Gefühlvolle zur Heimat zurückgeschickt haben. – Wir liegen bis zum Eintritt völliger Dunkelheit auf Reede mit dem herrlichen Anblick des Hafengolfs, der in seinem interessanten Aufbau, der befestigten alten Stadt in Insellage, der Hafen, der Flußmündung, der reich bebauten Villenufer und der vorgelagerten kleinen Felseninseln an die Reihe französischer Meister aus dem 18. Jahrhundert erinnert.5 Es müßten nur unsre grauen Dampfschiffe Segelschiffe sein. Die Überfahrt im Mondlicht ist wunderschön. Unser Schiff fuhr schnell (12 Seemeilen). Es treibt majestätisch durch das glitzernde ungewisse Mondlicht über dem Meer. Ein bescheidener General ohne jede Begleitung ist an Bord. Er hat den sympathischen Zug nach unbedingtem Alleinsein und hinkt mit seinem Holzbein einsam am Oberdeck hin u. her. Er hat sich jeden Empfang verboten. Ich erfahre, daß es niemand [4] weniger als unser kommandierender General Marx vom Korps6 ist. (Spätere Bem. 31. 8. Marx am Anfang der Invasion gefallen.)


Wache vor der Platzkommandantur

10. 10. [1943]

Empfang der Kameraden sehr herzlich. Welch friedlicher Ort hier. Alles geht seinen gemütlichen Lauf. Die Post aus aller Richtung der Heimat ist viel trüber.7 Zu Hause nicht hier ist Front. Ich sehe und beurteile manche Menschen wieder neu und plastischer. Welch junges Kind ist doch Schwester Marie8. Zweifellos wechselt Reifsein oder es vollzieht sich schwingungsartig. Eine weite Reise bringt einen weiter, langes Bleiben dagegen an einem Ort bringt zurück.

Max Barthel9 schickt mir ein Buch von sich von erstaunlicher Kindlichkeit. Sein Erfolg liegt nur im einfachen Lied. Ein Liedersänger kann keine Novelle schreiben. Zur Novelle gehört eine anderer ich möchte fast sagen völlig [unleserlich] mondäner Mensch. Wie werde ich es ihm danken!

Nachmittags zum Tee bei Casper10. Wir reden immer ein bisl zuviel gescheite Sachen über Bücher, Politik, dienstliche Dinge, die seelischen Spalten zwischen diesen gewaltigen Schichtungen bleiben zu sehr ver- [5] schlossen, nicht weil er sie nicht hätte, sondern weil er wohl ein zu norddeutscher Mensch ist, der sich und damit unwillkürlich auch andere zu viel verschließt u. verbietet, weil auch irgendwie die schöpferische treibende vulkanische Macht zu wenig stark ist, um das warme Innere dabei durchkommen zu lassen. Trotzdem alles nett und anregend war, gehe ich mit dem erleichterten Gefühl, etwas abgesessen zu haben.

11. 10. [1943]

Der Tag war grau in grau ohne Wind. Das Wetter überlegt sich, was es werden soll und vielleicht hat es noch schöne sonnige Nachherbsttage im grauen Sack.

Unser Hausgenosse Kriegsgerichtsrat v. [Treskow] ist ein geradezu hassender Pessimist. Alle Dinge wenden sich bei ihm zu einer verfolgerischen bösen Art. Sein türkensäbelkrummer scharfer Mund steht gefährlich unter den stechenden Augen, von denen das eine ein blindes Glasauge ist. Vielleicht kommt ihm die bittere Art, alles anzusehen, vom einen Auge. Mit zweien sieht man allemal mehr hinter die [6] Dinge. Ist es doch ein physiognomisches Gesetz11, daß weitauseinanderstehende Augen Fantasie bedeuten. Pessimismus ist aber eine Art von Flachheit und zwar die Schlimmste. (»Und trank sich Hass aus einem Meer von Liebe.«)

Die hinter mir liegende Reise hat mir eine große Aufmunterung gebracht. Ich arbeite froher, zupackender und ich beteilige mich an allen Reden frischer. Auch die Sphäre der Gewohnheit liegt dünner um mich herum. Ich sehe die Zeit hier als eine gestreckte Frist, die es noch glücklich auszunützen gilt. Es folgen schwere Zeiten. Heute fühlte ich fast sinnlich ihr unheimliches Herannahen. Es kam nur die Nachricht durch, daß sämtliche Schwestern die Inseln verlassen müßten. Ist das der Vorakt einer Räumung? Wann naht unsre Zeit? Ein Ende wird hier ja alles nehmen. Wie viele sah ich schon scheiden. Das erst- [7] malige Dunkel in meinem Büro, in dem nur die Schreibtischfläche hell beleuchtet strahlt, war mir so ungewohnt und machte mich unruhig.12 Ich ging auf u. ab, packte zuletzt nichts mehr an. Der helle Schreibtisch im Dunkel rings war mir wie das bisschen erleuchtete Gegenwart im Dunkel der Zukunft ringsum. Ein französischer Sender brachte hübsche Chansons und ich war froh, ihnen lauschen zu können.

Beim Abendessen viel zu langes Sitzen und ein Ereifern über das Gespräch, ob wir die Engländer zu mild behandelten13, wobei wir die Gegner, die ja alle nicht in unsere Reihen sitzen, leicht abfertigten.

Ich habe mir 3 Bücher gekauft: Von Jakob Burkhardt die Kulturgeschichte Griechenlands14. Ich liebe die freie Persönlichkeit dieses Mannes, von dem jemand schrieb, daß er vielleicht als letzter unabhängig lebte. »Seht [8] ihn nur an, niemand war er Untertan.«15 Ein zweites Buch von Macdonald: Selbstbildnis eines Gentleman.16 Und ein drittes von Manfred Hausmann: Salut gen Himmel.17 Ich habe für Monate zu lesen und meine Büchermenge geht weit über alles Soldatengepäck. Es werden nicht weniger als 60 Bücher schon wieder um mich sich angesammelt haben. Wie der Oberst18 dauernd daran leidet in der Furcht zu dick zu werden, so plagt mich bei jedem Buch die Sorge wohin damit, denn ich will sie alle lesen.


Die Frontbuchhandlung in der King Street, St. Helier, Jersey (Aus: von Aufseß, Ein Bilderbogen von den Kanalinseln)

12. 10. [1943]

Mit Dr. Auerbach19 den Abend verbracht. Ein ausgezeichnetes »intelligibles«20 Verstehen. Keiner langweilt den anderen. Alles bleibt in starker gegenseitiger Korrespondenz lebendig. Später kam Dr. Caspar dazu. Er war nicht geladen, kam aber, weil die Nachricht vom Tod seines Bruders ihn an diesem Tag schwer getroffen hatte. [9]

Er lief weinend bei Empfang der Nachricht im Büro auf u. ab und wir waren fast beängstigt, er könnte in seiner rasch entschlossenen Art sich etwas antun. Die Überredung, daß er doch heimfahren solle, hat ihn am besten abgelenkt. Als er in unseren kleinen gemütlichen Kreis um den Kamin saß, vergaß er alles für Augenblicke und strahlte manchmal wie an seinen vergnügtesten Tagen. Ich glaube, wenn ein Schmerz auf eine gereifte und harmonisch gebildete Seele trifft, so beschlägt sie sich so vollkommen, daß ein so rasches Vergessen aber auch ein so deutlich sichtbarer Schmerz nicht möglich ist. –

Ich liebe ein wenig die Schwester Marie v. Wedel. Eigentlich habe ich mich über sie geärgert, weil sie beim Wiedersehen nach 3 [10] Wochen so ungeschickt und fast albern war. Aber es waren andere dabei und so war ja alles nur Geniertheit. Unmöglich hätte sie vor anderen auch nur für den Kartengruß danken können. Sie hat ein so starkes Innenleben, daß sie nur in wenigen Augenblicken ganz sie selbst ist. Ihre Stirn hat etwas männlich Kühnes, ihre Augen besitzen eine Schalkhaftigkeit, die für eine ganze Mädchenoberklasse ausreichen würde, ihre Nase hat die feine Witterung eines Rehs, ihr Mund ist sensibel halb geöffnet, wie der eines klassizistischen Mädchenepitaphs21, ihr schlanker Körper hat die Bewegungslust und feinen Fesseln der Vollblüterrasse. Die durch so hohe [Dotationen] entstehenden Spannungen in ihrem Wesen werden zusammenge- [11] halten von einer ganzen Genealogie von preußischem Pflichtbewußtsein22 und überstrahlt von einem großen mädchenhaften Scharm. Sie ist wahrhaftig nicht leicht zu nehmen, hängt von Umgebung und Kleinigkeiten sehr stark ab und flieht mit ihren Worten rasend dahin, wie mit ihrem ganzen Wesen, weil alles überlebendig und geladen ist. Ich benenne sie für mich mit dem Beinamen »la Fugitive«23 die Enteilende, Dahinfliehende. Es muß sie erst einmal das Feuer einer großen Liebe ausbrennen und ausbacken, damit alles ruhiger und gesetzter wird, damit ihre prärafaelitisch steifen und abrupten Bewegungen der langen Glieder Weichheit und Harmonie bekommen. In einem guten Sportkostüm müßte sie hervorragend aussehen, so viel läßt die Schwesterntracht ahnen, [12] ja sie verrät sogar süße weibliche Formen und die Geniertheit wäre wohl gar nicht so groß, wenn nicht eine starke natürliche Sinnlichkeit dahinter verborgen läge, die sich in ihrer Unberührtheit als Fliehkraft äußert, das Fliehende zieht ja besonders an und nichts ist lockender für den Jäger als das Verfolgen des fliehenden Wildes. (Zeus u. Daphne24)


Im Dienstsitz White Lodge. »Plauderecke am englischen Kamin«, so lautet von Aufseß’ Bildunterschrift. (Foto: H. M. von Aufseß)

13. 11. [Verschreibung für 10.] [1943]

Ein neuer Hausgenosse, ein Kriegsgerichtsrat aus Sachsen25, ist vertretungsweise gekommen. Es ist ein gemütlicher kleiner Sachse, findet sich sehr schnell hinein und ist in kleinen praktischen Dingen zu Haus. Im Badezimmer hat er neue Nägel u. Haken angebracht, überall auf Serviettenring, Zuckerdose u. s. w. klebt fein säuberlich schon ein Schildchen mit seinem Namen. Er hat eine neue [13] Antenne gelegt und Birnen im Haus verschraubt, alles zum Besten von uns und sich. Auch in seinem Leben scheinen überall kleine Schildchen mit Lebensweisheiten angebracht, fein säuberlich und ganz lange Sprüchchen oft, so wie er am Abend auf eine eigene ersonnene Weise seine Stiefel vor die Türe hängt und jedem Tag- und Nachthemd im Badezimmer seinen mitgebrachten besonderen Bügel gibt. Ich muss mich über seine überraschend auftretenden kleinen Zweckmäßigkeiten an allen Orten innerlich schief verlachen. Heute Mittag stellte er sich den Aschenbecher wie einen Dessertteller vor sich hin, weil nach Befragung das Deckblatt seiner Zigarren schlecht sei und [14] immer etwas Asche herunterfalle, die nun gleich in den Becher abtropfe. Gegen Verspottung als Sachse u. s. w. hat er bereits auch etwas in seinem Geistesschatz angebracht, es ist aber zu kompliziert und ich habe mir die sinnvolle etwas lange Wendung nicht gemerkt.

14. 11. [Verschreibung für 10.] [1943]

Der Bailiff26 besuchte mich. In meiner Abwesenheit ist wieder einmal etwas ohne die Überlegung befohlen worden, ob wir bei Weigerung der Landesstaaten es erzwingen können und wollen.27 Der Erfolg ist, daß wir einen gegebenen Befehl zurückziehen und ihn nicht oder schlecht u. recht selbst durchführen müssen. Der [mit Elan gestrichenes Wort, vermutlich aber Bailiff, darüber nur ein ›H‹] mit seinem kalten, jüdischen Gesicht28 hat einen billigen Triumph davongetragen. Er ist [15] unser wahrer Feind, nicht weil er uns haßt, sondern weil er sich maßlos liebt. Er wird uns später einmal maßlos herein- und ohne alle Anständigkeit heruntersetzen. Wenn wir ihn nicht von der Insel herunterschmeißen, wir würden uns an den Kopf schlagen können, welche Schriften und jüdisch advokatischen29 Ankläger wir uns da [drei energisch durchgestrichene, nicht mehr lesbare Wörter] hochgezogen haben. Ich fasse den Oberst bei seinem nicht großen Mut, d. h. bei seiner Angst und ich werde es noch durchsetzen und einen echt englisch kalten Weg zu finden wissen, um diesen Mann zu entfernen.

15. 10. [1943]

Casper ist in Sonderurlaub gefahren. Es fällt wieder doppelte Arbeit an. Mit Oberst im Auto weit auf den Strand hinausgefahren. Wir durften den Wagen nicht stehen lassen, da er sonst versunken wäre. Außer- [16] gewöhnlich tiefe Ebbe. Besuch des Rocco-Towers, eines weit im Meer draußen liegenden imposant gebauten Forts aus dem Jahr 180030. Architektonisch sehr schön. Ich bin tief verletzt, daß er von der Artillerie willkürlich als Zielscheibe verwendet wurde und erhebliche Schäden an den Zinnen entstanden sind. Gegenüber den heutigen betonierten Festungsbauten ist es noch ganz aus riesigen Granitquadern gebaut. Es gibt ein Rätsel auf, wie sie auf dieses unzugängliche Rock hinausgebracht wurden.

16. 10. [1943]

Ich lese Jakob Burkhardt Griechische Kulturgeschichte das Kapitel über Untergang u. Zerstörung Griechenlands. Es ist interessant, wie die Geschichte schon gleiche Scherbengerichte abgehalten hat, wie in [17] unserer Zeit. Die Worte eines Komikers gelten für alle Städte des damaligen Griechenland: »Eine große Einsamkeit ist die große Stadt«31. Einige bei Homer genannte Orte zu finden, wäre schwer und für den Findenden wegen ihrer Verödung nutzlos.32


St. Brelade's Bay auf Jersey (Aus: von Aufseß, Ein Bilderbogen von den Kanalinseln)

17. [10. 1943]

Wer ist nun die Anziehendere der beiden Schwestern Wedel? Ich weiß es nicht, ich liebe sie beide gleich und es könnte mir wie in heißen Jugendtagen gehen, wo ich mich in die beiden Schwestern [unleserlich] verliebte und die eine immer auf die andere wartete, bis ich sie beide wieder verküßte. Damals liebte ich sie sogar nur alle beide zusammen, eine allein war mir sofort langweilig.

Ich fuhr mit dem Rad in das entferntere Soldatenheim in der Brelades bay33 hinaus und wir plauderten 2 Stunden, die sich Schwe- [18] ster Heidi34 freigemacht hatte. Sie hat die gleiche gute Rasse und famose Erziehung, aber sieht bis auf die große schlanke Figur doch ganz anders aus. Ihre Augen sind kleiner, bestimmter und realer. Sie ist klüger, ruhiger, reifer, hat nicht das Fliehende in sich, sondern stellt einen klaren faßbaren Mittelpunkt dar. Während die andere einen prachtvollen Tänzer und Reiteroffizier heiraten könnte, ist diese für einen Juristen, Gelehrten oder Professor bestimmt. Marie reißt mit, Heidi zieht an. Marie macht zu viele Seitensprünge Heidi zu wenig. So ist die eine dynamisch, die andere statisch. Bei aller Ähnlichkeit ist daher doch ein großer Unterschied und da beide äußerlich gleich hübsch und rassig ist die Entscheidung schwer. Meiner Natur [19] läge im Ende doch mehr Heidi. Ich bin nicht passionierter Jäger genug, um mein Leben lang Wild zu jagen. Im übrigen bin ich viel zu gut verheiratet35, um dieses Problem mich beschäftigen zu lassen. Aber es geht doch ein starker Ausstrom gegenseitig aus. Alle Ehelichkeit in Ehren, die Strahlungen sind da und sie sind ungeheuer stark, aber unsre gute Erziehung und unsre Selbstdisziplin sind ja immer noch größer. Es werden schon alte Gedanken einer Annäherung weit abgewiesen, so weit jedenfalls, daß sie nicht schaden und nur die angenehme Wärme eines Flirts davon ausgeht.

Der General36 rief mich an und wollte mit mir den Abend verbringen. Leider bin ich schon beim Oberst eingeladen.

18. 10. [1943]

Dr. Auerbach war beim Oberst miteingeladen. [20] Dadurch war schon der Abend gerettet. Wir ziehen den kleinen sächsischen Kriegsgerichtsrat37 mit seinem praktischen Sinn für die kleinen Umweltsdinge auf. Die Wirkung aber ist überraschend. Er zieht vor und aus allen Hosentaschen besonders darin aufgehängte Dinge wie Messer, Schlüssel, Feuerzeug heraus, und erklärt ganz hochgenommen u. begeistert, wie er die Sachen weder verlieren noch sie ihm die Taschen kaputt machen können. Heut beim Frühstück begann er mit einer langen Geschichte, wie er den Abfluß seines Dunges auf den Garten konstruiert habe. Im Eifer beginnt er neben dem Sächsisch noch zu stottern, daß sich die am Morgen noch nicht angestimmten Sinne aesthetisch geradezu empören über dieses botokudische38 Gestammle eines deutschen Zwergstammes.

[21]

31. 10. [1943]

Das Buch lag fast 14 Tage in der Schublade. Die Tage sind zu sehr ausgefüllt39, um die Arbeit zu erledigen, die Bewegungslust zu stillen, den Lesehunger zu befriedigen, die Natur im Herbstkleid zu genießen und last not least mich mit den entzückenden beiden Schwestern Wedel zu befassen, ganz abgesehen davon, daß Briefe zu schreiben waren, Briefe der verschiedensten Art. Meine geliebte Frau schreibt mir, daß wider alle Erwartung u. Absicht womöglich ein Kindlein aus dem letzten Urlaub sich anmelde. Nun bin ich noch mehr in das Wohl u. Wehe dieses 5ten Kriegsjahres verflochten. Die Auspizien für einen Sohn sind günstig. Ich war kühl. Verstimmungen der letzten Zeit, die übertriebene Geselligkeit in Altaussee hatten mich vorsichtig u. reserviert gemacht. Es sollte diesmal in den kurzen Tagen des Sonderurlaubs sicher keine Enttäuschung geben. Ein wenig teile ich aber den indischen Glauben, daß der mehrliebende Teil das ihm entgegengesetzte Geschlecht herbeizieht u. bestimmt. Außerdem [22] liegt der September auch an meinem Sternbild. Ich bin nicht abergläubisch und weiß nichts. Aber wenn es Ahnungen gibt, so sind sie diesmal für einen Sohn eingestellt.40 Es wird uns ein drittes Kind noch enger zusammenschließen, denn die Überlegungen dazu haben uns manche Verstimmung in den letzten Jahren gebracht. Die große Sorge rund um Marilies und das Kind erfüllen alles in allem mich aber mit einem geradezu fanatischen Willen, mein Leben in dieser gefährlichen und sich in den Grundfesten verändernden Zeit zu beziehen und gut durchzustehen. Ich beginne es mit unendlichen Einkäufen und bin im Päckchenpacken schon ein Meister geworden, wobei ich zugeben muß, daß die handliche Arbeit mich nach langer Büroarbeit geradezu erfrischt. Es fand die Einweihung des neuen Soldatenheimes La Houge statt, das [23] Schwester Heidi als Heimleiterin übernimmt. Ich war mit Oberst geladen. Eine Menge Offiziere stand am Gang – was fehlt nicht bei einer so [unleserlich]haften Angelegenheit – ein steifes Gegrüße begann, eine die erstickende militärische Steifheit voller Rangbewußtsein und Enge beklemmt mich, daß ein revolutionäres indessen wohlverhaltenes inneres Lachen mich ankam. Endlich war alles verstummt an den hübsch gedeckten Tischen. Ausgerechnet saß ich zwischen Schwester H.41, die ich schon ein halbes Jahr fast ostentativ gemieden hatte, weil sie gar so viel Selbstbewußtsein in ihrem Heim hat und mit ihrem schmutzigen Karpfengesicht nicht mit [unleserlich] eine zu primitive Sinnlichkeit in ein Heim bringt, weil sie außerdem noch auf eine Junge spielt, die ihr nicht mehr zukommt. Jedes Alter verlangt eine gewisse Hal- [24] tung und es steht zu 40 Jahren nicht, was einer 20jährigen erlaubt ist. Wir schwiegen nach mühsamen Redethemen ausgiebig am Tisch. Der Oberst hielt eine ganz nette leichte Rede und ich war froh, daß sie nicht so dürftig wie seine übrigen war. Der General war aufgehalten durch Sturm auch noch auf Jersey. Er bewegte sich mit einer natürlichen Eleganz durch die Runden, die dem Selbstbewußtsein und der Gutgelauntheit eines gutgewachsenen alten Offiziers u. Gentleman entsprang. Auch ohne alle rote Streifen hätte ihm niemand die absolute Führereigenschaft absprechen können. Nach einer Weile ging ich hinaus auf den Gang Schwester Heidi nach, um sie zu begrüßen. [25]

Es war niemand draußen. Sie pustete und schüttelte sich in der entzückendsten Weise und griff mit beiden Händen nach den glänzenden Backen. Eine reizende Vertraulichkeit mir gegenüber lag darin. Ich durfte wie eine Freundin ein wenig hinter die Fassade dieses ihres Einweihungsfestes sehen, das eine große heiße und anstrengende Angelegenheit war. Auf ihre Frage, ob ich die übrigen Räume schon gesehen habe, schwindelte ich und verneinte ich gern und ließ mich von ihr nochmals überall durchführen. Das hätte Marie nie getan, sie hat einen im Trubel eher übersehen und ich glaube, es war eher weniger ihre Kurzsichtigkeit als ihre Geniertheit und Schroffheit, die auch allen ihren Bewegungen anhaftet. – Die Räume waren mit großem Geschmack mit den vor- [26] handenen Mitteln eingerichtet. Es strahlte überall etwas Persönliches aus, wie die Bilder hingen, die Schränke standen u. s. w. Ich wurde gefragt und durfte Ratschläge geben. Es waren entzückende Minuten, so privat beiseitegenommen worden zu sein und in diesen Augenblicken fand von einem menschlich warmen Gesichtspunkt gesehen, die wahre Einweihung des Heimes statt. Ich schrieb Schwester Heidi einen Brief in französischer Sprache darauf, weil man darin graziöser die Wohlgelungenheit des neuen Heimes nochmals nachfeiern konnte.42 Er enthielt nichts Anzügliches – ich würde gegen Heidi nie anzüglich sein, sie verdient nur gerade Offenheit oder völlige Zurückhaltung – es [27] sei denn, daß die Tatsache eines Briefes am gleichen Tag geschrieben auf einer kleinen Insel sich zugesandt etwas Anzügliches enthielt.43 Und so war mir es sehr recht, daß wir später den Brief nie erwähnt haben. Ich vergesse von diesem Tag nicht einen wunderschönen Strauß im Flur aus Heidis Hand und ihr neckisches mich Anlachen mit den beiden Handrücken auf den glühenden Backen.

Der Oberst ließ sich von mir zu allem leiten und wenn niemand nach mir herein kommt, gelten auch meine Vorschläge. Oft berechne ich auch die möglichen späteren Einflüsse und es gelingt mir sie auszuschalten. Ich kenne ihn viel zu gut in all seinen eitlen Schwächen und, wenn ich nicht mein Ziel für richtig hielte, müßte ich [28] über die raffinierten Mittel der Beeinflussung mich für schmutzig halten. Die Notwendigkeit der Ausweisung der B.44 aus verschiedenen Gründen war mir klar, obwohl die Folgen sehr hart45 sind. Die B. hatte persönlich bei ihm vorgesprochen und ihn für ihr Bleiben erweicht. Ich trug dem Oberst die objektiven Gründe für eine Ausweisung vor, verschwieg dagegen die subjektiven, die in ihrer Person lagen, denn ich wußte ja, daß er darin umgestimmt worden war von ihr. Ich verließ ihn mit dem Resultat, daß sie aus Menschlichkeitsgründen bleiben könne, im Grunde war er nur von der hübschen Person46 bestrickt [29] worden. Nach mir schickte ich Herrn K. zu ihm in einer anderen Angelegenheit und nebenbei erzählte dieser nun, wie die B. es dick mit allen Männern treibe und verschiedene Offiziere eingefangen hätte47. Ich hatte das in Vorbedacht nicht selbst gesagt, denn er hatte sie reizend gefunden und hätte von mir nicht gern gehört, daß er sich hier gründlich getäuscht hatte. Der Erfolg war, daß er sofort zu mir schickte und nun doch plötzlich für die Ausweisung war. Er war nicht belehrt und in seiner Eitelkeit verletzt worden, sondern war gleichsam selbstständig auf die Schliche der B. gekommen. Zur Zeit möchte ich ihn in einer mir wichtig erscheinenden Sache beeinflussen, aber ich kenne noch nicht den wahren Grund seiner Ablehnung, sodaß mir die richtigen [30] Mittel zum Ansatz fehlen. Gestern nach dem Essen habe ich die Pferde besucht, die alle im Freien in Boxen standen. Udo kennt mich von Weitem an meinem Schnalzen und spitzt die Ohren, weil ich ihm immer etwas mitbringe. Ich hatte aber diesmal nichts dabei, und ließ mir einen Blechkübel voll Hafer geben. Ich habe ihn reihum an meine Lieblinge vergeben und es gab viel Aufregung, Eifersucht und langgestreckte Mäuler und scharrende Hufe. Dabei zeigte sich, daß jedes Pferd eine ganz andere Maulgröße, Lippenbewegung und eine verschiedene Art von Gier und listiger Anheimsung der immer weniger [31] werdenden Körner hatte. Satan legte die Ohren weit zurück und sein Ausdruck bedeutete gleichzeitig Befriedigung wie auch Abwehr gegen Einmischung seiner Nachbarn, Pferdeköpfe sind wundervoll ausdrucksvoll und gute langschädelige Menschenköpfe gleichen ihnen oft nicht wenig.


Der Hengst »Satan«, mit dem von Aufseß Ausritte unternahm. (Foto: H. M. von Aufseß)

Wir waren in einem englischen Film: Dr. Auerbach hat dazu angeregt und ihn so gelobt, daß er sich schließlich verpflichtet zur Teilnahme fühlte. Ich meinerseits hatte den Oberst und die Wedelschwestern zur Teilnahme mit veranlaßt und so durfte also keinesfalls ein Reinfall eintreten. Es handelte sich um eine Geschichte aus der englischen Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts. Ein Dichter und eine Dichterin lernen sich durch ihre Sonette kennen, die draus entstehende Liebe heilt die gelähmte Frau und die Tochter verläßt das Haus des egoistisch [32] sie liebenden Vaters, das Stück war getragen von 2 reizenden Schauspielerinnen und hatte große Feinheiten und einen geschickt bemessenen Wechsel zwischen heiteren und ernsten Szenen.48 Vor mir saß Heidi, neben mir flüsterte mir Dr. A schwer verständliche Sprachstellen übersetzend zu. Heidi beugte sich dabei zurück und nahm auch oft die hastigen Bemerkungen auf. So war sie ganz gestraffte Aufmerksamkeit nach beiden Seiten und vor dem Bild der Leinwand und der sympathischen hübschen Schauspielerin selbst ein mitspielendes Wesen. Oft sah ich auf sie, auf dieses hellwache, lebendige schöne Mädchen in der Halbdunkelheit der Loge, das auf jedes Wort anspielte und ein kluges und sensibles Geschöpf in einer ungewohnten neuen Nähe und Ansprechbarkeit für mich darstellte. Die Anwesenheit zu vieler Kinder brachte Lachsalven an rührend verkehrten Punkten [33] und auch der Oberst saß in einer Weise in seiner Ecke, daß man ihm die fehlende Beteiligung deutlich anmerkte. Tragik u. Seelengröße sprechen ihn nicht an, denn er ist für die mittleren praktischen Lösungen in allen Dingen und darin liegt auch viel Geschick und Verdienst von ihm.

Wir fuhren – Pelz49, Kriegsgerichtsrat und ich – Heidi in ihr Soldatenheim nach Hause u. besuchten draußen eine schöne große Farm, um zu entscheiden, ob der Pächter gegen den Willen der Verpächterin verbleiben sollte. Die alte 84jährige [Dame] Lady Vernon50 empfing uns in dem sehr englischen Landhaus am Kamin, daß mir alles wie die Fortsetzung des soeben gesehenen Films vorkam mindestens im Milieu der Einrichtung und des Geschmacks. Danach kehrten wir bei Heidi im Soldatenheim ein.

Es war reizend aber einfach vorgerichtet. Die [34] Extrasachen aus besonderen Schubladen, die es bei anderen Schwestern gibt und die man eigentlich nur mit schlechtem Gewissen gegenüber dem einfachen Soldaten annehmen kann, unterbleiben unangenehmerweise.51 Wir unterhielten uns vergnügt. Ich habe das stete Bestreben, in der Unterhaltung nie zu gewichtiges Ernstes zu sagen, mehr zu spielen und am liebsten ganz gegenwärtig und vergnügt zu sein. Es kommt mir nicht auf philosophische Gespräche als vielmehr auf eine phil. Einstellung an. Nun gibt es aber seltener Menschen, die einen im inneren Bestreben so ähnlich sind, daß man sich plötzlich mehr aufdeckt und bekennt. Wenn mich Heidi mit ihren blauen klaren Augen voll Sagens und träumerischen Ernsts etwas fragt, denn wäre mein Scherzen eine zu billige Antwort gewesen. Denn sie ist nicht ein Kind und nicht unreif in der Frage, die sie stellt, sondern eine geistige Per- [35] sönlichkeit steht dahinter und die gute Stirne, die feine Nase und die klaren Augen sind der Tempelsitz hiervon. Gleich reagiert sie auf die Antwort herrlich richtig und findet fehlende Worte und Vergleiche dazu. Ich komme manchmal nicht davon ab, sie gegenständlich als etwas ungeheuer richtig und Wohlgelungenes zu betrachten, an dem ich meine reine Freude habe, wie an einem edlen Kunstwerk. Nur lebt dies alles und erwidert und ist beweglich folgend und hat eine eigene Seele und seine Gefühle und Hoffnungen und Sorgen. Ja müßte meine seltsam starke Berührung durch sie nicht auch eine Erwiderung in ihr finden. Ich werde mich nie verraten und sie auch niemals ausfragen. Ich beherrsche meine Sinne und meine Worte so sehr wie sie die ihrigen. Ich liebe meine Frau und ich werde nie etwas zerstören oder auch nur stören, was [36] unsre Ehe oder die offene Zukunftsbahn von Heidi berühren würde.52 Beherrschte Leidenschaften sind Tugenden heißt es irgendwo.53 Jetzt, wo ich dieses nachsage komme ich mir unangenehm brav moralisch vor. Bin ich immer so beherrscht und müssen Leidenschaften sich immer gleich wie tobende Stiere gebärden? – Diese fürchte ich nicht, aber sind es nicht die stillen Passionen, die sich ansammeln und eines Tages überbrechen, die gefährlichen? –

Es sind nun schon wieder viel zu viel Tage verflossen, ohne daß ich zum Schreiben kam. Nie mehr kann ich alles so nachholen und ich versuche das Wesentliche nur noch nachzuholen.

Am Mittag vor der Abreise nach Paris fuhr ich mit Pelz zu Heidi hinaus, um [37] Bilder von ihr zu machen. Sie saß erst neben mir am Tisch und der gut gelaunte Pelz brachte an sich die besten Voraussetzungen, um bei aller Natürlichkeit die ersten Versuche zu machen. Aber welches sensible Geschöpf ist schon Heidi. Jeden Augenblick anders und von einer entzückenden Spanne vor jedem festhaltenden Blick der Kamera. Also gingen wir in das Freie. Aber nun durfte ich auch nicht mehr vom Photographieren reden, wenn es nicht den schönen Tag unter einen einzigen unbeliebten Zweck setzen sollte. Es war ein greller Sonnentag mit hellen weißen Wolken und einer weiten Fernsicht, ein frischer Wind blies aus dem Wasser, ein idealer Tag zum Photographieren. Heide nahm ihr klösterliches Häubchen ab und [38] nun flatterten ihr wild die gelockten dunklen Haare um den Kopf. Jeder Augenblick bot neue reizvolle Bilder. Ich war so entzückt von den entzückenden Bewegungen und dem Aussehen, daß meine Kamera nur schwer nachkommen konnte. Wenn mich bisher ihr Wesen stark angezogen hatte, so hat mich diesmal ihr Aussehen völlig betört. Nach lustigem Herumklettern über den senkrechten Küstenabfall zum Meer fuhren wir noch auf dem Meeresgrund 5 Seemeilen weit durch die Aubinsbucht54. Es war ein glücklich schöner Nachmittag voll Lebenslust, Freude und versteckter Verliebtheit.

Am Abend fuhr überraschend früh unser Boot aus.55 Es stürmte inzwischen [39] immer mehr und unser Vorpostenschiff begann bald mächtig zu schwanken. Schwester Elisabeth, die leibgewordene Pflichterfüllung und Tüchtigkeit, saß schweigend in sich gekrümmt und heftig mit sich kämpfend im Freien mit auf der Kommandobrücke. Ich wollte ihr etwas Ablenkendes sagen, aber leider wurde dies gerade zum Anlaß für die ausbrechende Übelkeit. Oberst Prahl56 mit seinen abstehenden Ohren und dem Wichtigtuergesicht des hochgekommenen Halbgebildeten redete große Töne von »meinem« Stab und »meiner« Batterie und »meiner« Stellung, weiter reicht es ja nicht bei ihm. Der Oberst hatte auch zwischen den Pausen des über Bord sich Aussprechens genügend mit sich zu tun. So konnte ich das [40] Meer genießen, die abziehenden sich überschlagenden Wellen beobachten und an den zauberhaften Nachmittag zurückdenken, in dem der hübscheste Mädchenkopf mit wirbelnden Haarlocken noch so frisch und anziehend darinstand.57

Nach fünfstündiger Überfahrt und vielem vorigem Lichtverständigen58 stiegen wir an Land und es erwartete uns in dem Küchennebenzimmer von Monsieur und Madame im Hotel Modern ein geradezu fantastisches Essen. Das Zimmer war gerade nur so groß, daß der große Tisch und die Stühle darum Platz hatten. An die bildlose Wand gedrängt, stand das größte Durcheinander von Kinderstühlen, Schuhen, [40] Strickzeug, Kartons u. s. w. herum. Der Raum war also ausschließlich für konzentriertes Essen gedacht. Der Hauptzug des alternden französischen Ehepaars nach gutem Essen war geradezu drastisch an dem riesengroßen Tisch in dem winzigen fenster- bilderlosen Zimmer verkörpert.

Die Reise nach Paris verging viel zu rasch. Die Sonne war durch Nebel hindurchgebrochen und nun glänzte alles saftig grün und golden feucht. Ich ging nicht mehr vom Fenster weg und genoß diese letzten schönen Herbsttage, die nirgends köstlicher als in Frankreich erschienen. Paris lag dagegen im dicken Dunst und wie wir die Wälder von Versailles59 verließen verschwand die Sonne.

[41] [1944]

5. 6. Nach vielen Monaten dahinfließender Zeit setze ich meine Aufzeichnungen fort:

Am frühen Sonntag Morgen geritten. Satan war herrlich geputzt und wie stolz darauf. Ich klatschte ihm liebevoll die edle Linie der Kammmähne und flüsterte ihm eigenerfundene Koseworte, die er so wenig verstand, wie ich sie hätte erklären können. Nach der Hindernisbahn lief ungerade, häßlich quer ein schwarzer Kater über die Bahn. Kurz drauf verlor Satan u. [unleserlich] einen Huf. Er hatte den Vorzug, ich verließ den Pulk und bummelte nun ganz für mich nach Hause. Man sieht immer mehr allein und führt mehr Zwiegespräche mit den Dingen.

[42]

11. 8. [1944]60

Ich mache mir innerlich Vorwürfe, so wenig Aufzeichnungen gemacht zu haben. Die Zeit ist äußerst spannend und Stoff in Überfülle in der Zwischenzeit angelaufen. Aber zur Entschuldigung dient, daß noch immer ein Briefverkehr möglich war. So habe ich die letzten Möglichkeiten so ausgiebig ausgenützt, daß schon zeitlich nichts für ein Tagebuch übrig blieb. Gestern ist St. Malo gefallen.61 So sind wir endgültig abgeschnitten.62 Bei dem äußerst klaren Tag sehen wir deutlich die Rauchwolken über der zerstörten Stadt. Gedenke, welche Herrlichkeit und Stolz einer alten Seestadt hier so bildlich in Rauch vergeht. Unsre Lage ist seltsam: Engländer und wir sind beide Gefangene. Auf der Karte anzusehen, liegen nur die kleinen Inseln unbedeutend weit mitten im englisch beherrschten Land. Der Schlachten- [43] lärm rückt von uns ab. Wir spaßen über die Vergeßlichkeit der Engländer, uns hier liegen zu lassen.63

Vormittags bei Oberst Heine64 im stickigen Bunker. 1400 Marineleute haben uns als zusätzliche Esser von St. Malo beglückt. Sie hätten dort dem schwer kämpfenden Heer lieber helfen sollen. Aber man soll nicht inselhaft egoistisch sein. Die wären schon tot oder in Gefangenschaft und dürfen nun hier in den Straßen scharwenzelnd ihr Leben genießen. Gefangene Amerikaner sind auch gekommen. Man möchte mehr von ihnen wissen. Mit welchen Überzeugungen kämpfen sie [44] eigentlich in Europa. Vorläufig scheinen sie nur anmaßend nach mehr u. besseren Zigaretten und nach Süßigkeiten zu verlangen, die wir alle längst nicht mehr haben. Einer hat das ganze Gesicht von einem Flammenwerfer verbrannt und rechts u. links in der Schulter Durchschüsse. Rührend wie der Feind durchgepflegt wird. Er wird am Ende durchkommen.65

6 Propaganda Leute der Marine sind gleichzeitig mitgekommen und stellen sich dem Festungskommandanten vor. Sie wollen Dienststelle aufmachen und große Berichterstattung hier aufziehen. Ich wüßte nicht, was auf unsrer rettungslos belagerten Festung überflüssiger wäre. [45]

Delikate Frage der Zuteilung der letzten Gasspeicherung für Volksküche und für Zeitung. Sonderführer Hohl66 (nomina sunt omina)67 giftet in Propaganda und verhindert objektives Abwägen. Ich spüre dahinter den tiefen Konflikt, der mit dem Attentat auf den Führer durch das Volk geht. Jedes Maß und jede Vernunft wird als reaktionär verdächtigt. Es genügt nicht mehr, gut deutsch zu denken. Der Galgen steht als Verzerrung über allen und besonders über dem Adel.

Ersten Reichweitenbericht für die belagerten Festungen übergeben. Auskommen bis Ende Dezember, danach große Not unabwendbar. Eigenartig klares Erkennen, der Lebensbedürfnisse und Leistungsfähigkeit eines Landes. [46]

Mittag am Strand. Die Holzrippe eines Schiffes halbverkohlt wurde angeschwemmt. Großes Interesse der Kinder, die darum herumspielen. Bestätigt mir bildlich den oft gefühlten Gedanken, daß Krieg ein böses Kinderspiel und Bubenstück. Liebe am Zerstören und Zerstörten Soldaten und Kindern im gleichen Maße liegend.

Lese zur Zeit Hans Jünger »Blätter und Steine«68. Anregender Gedankenreichtum.

Besuche Kriegsgerichtsrat Dr. H.69 Ein kluger juristischer Kopf, aber trocken und etwas Hämisches im ausgezehrten Gesicht. In der Rechtsfindung stimme ich mit ihm überein nicht aber im Strafmaß. Hier gehört ein Bogen Herz, Gemüt u. warmer Humor dazu, um für das Befremdliche der Abgleichung von verbotenen Handlungen mit Wochen u. [47] Monaten von Gefängnis dennoch eine Lebensnähe zu bewahren. Wir achten uns beide gegenseitig, wenngleich jeder im andern gerade dort Schwächen sieht, die dieser für seine Stärke hält.

Abends die Verhandlungsberichte über Generalfeldmarschall v. Witzleben u. s. w.70 gelesen, die zum Tod durch Erhängen verurteilt wurden. Verhandlungsführung des Vorsitzenden71 entspricht nicht der sonst an höchsten deutschen Gerichten üblichen objektiven Sprache. Entweder hat Propaganda die Verhandlung in ihre Sprache übersetzt oder es sind die Formen, die man von einem hohen Gericht verlangt, durch den Zeitgeist abhanden gekommen. [48]

Es ist zu befürchten, daß dieser Prozeß die letzten Sympathien des Auslandes für das neue Deutschland genommen hat.72

11. 8. [1944]73

Ich schreibe am Abend am Fenster meines Büros. Habe weiten Überblick über das Meer. Die Bäume leuchten grüngolden in der Abendsonne. Von Malo kommt ununterbrochenes dumpfes Geschützgrollen herüber. Manchmal wackelt das ganze Gebäude und Türen schlagen. Es wird der Endkampf um die Küstenforts und Dünen sein. Dann wird der Krieg von uns weit weggehen, bis wir in einem Nachholen selbst daran kommen werden.

Empfinde den Abend viel schöner, als meine innere Stimmung. Er ist so einer [49] der von mir so geliebten Augustabende, an dem ich wohl sonst mit der liebsten Frau zu Hause innig glücklich gewesen wäre. Es waren zu viel Anfechtungen und Anforderungen. Früh Sof. [Sonderführer] Hohl mit seiner Zeitung.

Mittags verlangt Heider74 wegen Entweichen eines englischen Strafgefangenen75 Bestrafung der Zivilbevölkerung durch Schließen des Strandes. Ich bin über die Absurdität dieser Forderung zunächst zu sehr empört. Ärgere mich danach über mich selbst. Irgendwelche freilich angemessenen Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung wegen des Verbor- [50] genhaltens einer ganzen Menge von uns gesuchter Personen müssen wohl ergriffen werden. Doch ist es im Augenblick unsrer hoffnungslosen Lage ein gefährlicher Fehdehandschuh, der einmal hingeworfen sofort vielfach aufgegriffen werden wird. Wo liegt das Maß zwischen zu großer Strenge u. Schwäche? Niemand kann mich hier darüber beraten. Auerbach und General sind nicht da. Es kann nur das richtig sein, was ich in mir selber finde. Dabei ist es aber von vornherein klar, daß es keine ideale Lösung gibt.

[51]

Nachmittags im Kino. Ein Film mit Luise Ulrich76 nach dem Ibsen-Stück Nora77. Luise Ulrich packt mich immer ganz. Eigenes fernes Eheglück wird weh wach. Über dem Trennungsschmerz ruht sonst der Alltagsstaub u. deckt ihn zu. Aber deswegen ist er immer da und wird nicht heilen, nicht in 10 Jahren Gefangenschaft und nicht beim Sterben in einem fernen Land.

Es beschleichen einen melancholische Gedanken bei diesem untätigen Zusehen, wie die Schlinge der Gefangenschaft um uns gezogen wurde und es kein Aus [52] mehr geben wird. Gar nicht zu denken an die Familie in einer Niederlage, denn aus dieser flössen 1000 Leiden, wie nur einem siechen Körper in alle Adern.

12. 08. [1944]

Am Badestrand herrscht noch völliges Einvernehmen zwischen den deutschen Soldaten und den englischen Mädchen. Wenn es nur verborgen genug geschieht, gibt sich jedes Mädchen mit wenigen Ausnahmen ihm auch hin. Die Engländerin ist auffallend klar, mühelos und schnell in Liebesdingen. Während die Französin immer noch mehr ihre Person dabei einsetzt und das Spiel auch geistig getrieben haben will, ist es bei der Engländerin eine erstaunlich nüchterne Körpersache. Es ist nicht zu verkennen, daß in dieser geschwinden, mühelosen Art des Lie- [53] bens eine gewisse Helle, eine Geradheit, Aufrichtigkeit, Unverdecktheit und ein Freisein von Schwüle und Zwielicht liegt. Wenn die Französin nach langem Kuß ein Wort oder eine Verszeile über die Liebe findet oder singt, die Engländerin lacht gewiß über das lange Verküssen. Auch die Deutsche, wie schwer gefühlsam, schweigend ist sie dennoch und wie innig und zärtlich auch.

Ich möchte es nicht vermissen dieses langsame Auf- und Zueinanderdämmern zweier Seelen, die Unwissenheit, das zaghafte Ahnen, das Geheime, Fremde, Zarte im Sichbegegnen, dem Zauber inniger Berührungen und die goldenen Reize inniger Schüchternheiten verhaltener Scham. Wo ist dagegen der Gewinn zu [54] schnellen Sichfindens, zu frühen Erkennens und zu aufgedeckter Sinnlichkeit.

Ich denke an die Rückkehr zur eigenen Frau und zu den Kindern. Ich spüre dabei vorausahnend wie jedes Wort, jeder Blick und jede Bewegung zu einer Quelle der Freude werden wird, wie alles an die Heiligkeit der ersten Ehe erinnern wird, wie sich darin das Einmalige, das für alle Zeiten Bedeutende ausdrücken muß, das durch den Alltag webt, und wie hinter den Schmerzen das Glück des Lebens in einer neuen Tiefe aufleuchtet.

13. 08. [1944]

Lange Besprechung bei Oberst Heine. Es ist ein vornehmer alter Herr, bescheiden und auf Form bedacht, aber auch militärisch, über- [55] vorsichtig, gehemmt und tiffelig78. Schon wie sein Kopf so steif zwischen dem hohen Kragen sitzt, macht er den Eindruck des Steifen, Unbeweglichen. Seine mangelnde Frische und Elastizität hat aber den Vorzug, daß er nicht unbedacht handelt. Für die Militärverwaltung ist das aber wichtiger als Überheblichkeit, Anmaßung und Darauflosgehen. Oberstleutnant Lindner79 ein gutmütiger ostelbischer Riese mit riesigem runden Schädel und winzigen Äuglein. Er leistet im Grunde nichts, ist ganz auf seine Mitarbeiter angewiesen. Dafür wiederholt er und schreit so laut bei Besprechungen das, was er gerade einmal begriffen hat. Er überschreit seine Bedeutungs- [56] losigkeit.

Delikate Angelegenheit der Sühnemaßnahmen gegen Bevölkerung besprochen wegen Verborgenhaltens von Entwichenen. Bin als einziger für Zurückhaltung. Dürfen nicht wegen ein paar wertloser Entwichener den Fehdehandschuh hinwerfen, der vielfach in dieser Lage aufgegriffen werden würde. Wir verbrauchen unsere Mittel vorzeitig für Lappalien.

Mittags kam Sanitätskompagnie wieder mit Pferden an den Strand. Zuerst ritt ich mit Toni, einem zierlichen kleinen Pferd, beim Galopp wie ein Eselchen. Danach kam der Schimmel Froni, ein wildes unbändiges Mädchen, das nie müd wird und nur immer losschießen möchte. Ich ritt mit ihr in der Badehose ohne Sattel und beherrschte sie schwer aber doch vollkommen. Ein herrliches [57] Gefühl, so ein wildes Pferd und den Strand in Kilometerlänge vor sich, dazwischen ritt ich mit Froni immer wieder in das Meer hinein. Sie schwamm weit in das Tiefe hinaus und ich saß dabei auf ihrem Rücken u. gab ihr weite Zügel. Manchmal kamen furchterregende große Wellen und dann kamen ihre Lefzen unter Wasser und nur die geblähten Nüstern schauten noch wie eine Nilpferdschnauze heraus. Aber schon schnob sie ihren Brustkasten tief voll Luft, daß es sie wieder hoch heraushob. Sie öffnete nun das Maul mit offensichtlich schlechtem Geschmack, machte lange Zähne. Es war doch etwas Meerwasser eingedrungen, das ihr nicht gut geschmeckt [58] hatte. Ein paarmal nahm ich kleine Buben mit auf das Pferd, die glühend begeistert waren. Aber Froni ist zu gefährlich, für solche Wagnisse. Wir beide Froni und ich waren allgemeine Sensation am Strand. Bleul80 erzählte mir nachher den Eindruck. Sie fragten »who is it« und es wußten genug, daß es der »Baron« war. (Nach Schopenhauer ergab sich somit ein doppelter Genuß an dem, was einer an sich selbst hat, und an dem, was einer vorstellt für andere.81 So habe ich mich in der eigenen Bewegungslust u. Freude am Pferd und in der Vorstellung eines kühnen Reiters der anderen ausgelebt.)

Auf den herrlichen tiefblauen Nachmittag folgte ein ebenso wunderbarer Abend. Ich [59] besuchte in meinem zweiten Bungalow das dem jungen englischen Paar geliehene Häuschen. Spielte seit langem einmal wieder Violine, brachte Tim herrliche Knochen eines rabbit mit und kehrte müd und ausgebrannt von Sonne schließlich an mein Abendfenster im Büro zurück. Es war eine selten schöne letzte Abendstimmung mit tiefroten Wolken. An diesem Abend ist in St. Malo drüben der letzte Widerstand erloschen.

14. 08. [1944]

Wenn man an die Lieben zu Hause denkt – und wie oft geht einem das in der weiten Abgeschnittenheit jetzt – so entdeckt man, wie sehr zu ihnen allen ein Stück Landschaft und Natur [60] gehört, was wir Deutschen für ein naturverbundenes Volk sind. Mama gehört in eine Enge überreich blühender Gärten. Ein Blumenparadies darf nicht weit sein. Es muß geschützt vor Winden, von Mauern und Hecken umgeben die Blumen in ihrer kleinen Welt mit ganzer Pracht aufleuchten lassen. Der Garten in Oberaufseß entspricht in seiner Abgeschlossenheit von Mauern und hohen Bäumen weitgehend diesem Bild. Es entsteht dadurch das Glück einer Weltabgeschlossenheit und innigen Freude am Kleinen und einer höheren Empfindlichkeit gegen alles von Außen Kommende. Wie anders dagegen meine Frau. Sie liebt die Weite, den Anstieg [61] auf hohe Berge, das Liegen vor weiter Sonne, den weiten großzügigen Park. All dies macht ein Stück ihres eigenen feinen Wesens aus und es hat so unendlich viel des Schönen, Großen, Kühnen und wieder des Lieblichen und des Vielseitigen darin seinen rechten Platz. Zu Herbert82 gehört das kleine pfälzische Städtchen mit seinem Selbstbewußtsein und engem wohlgehüteten Stolz. Ich bin überall da zu Hause, wo alte kraftstrotzende Bäume wachsen können und sie ihre starke Persönlichkeit vor den lichten Himmel stellen.

Die Nacht war sehr unruhig. Ein Geleit nach Gy83 muß in eine Seeschlacht verwick- [62] elt worden sein84. Alle Lazarette sind schon mit Verwundeten aus St. Malo gefüllt.85 Flieger flogen so tief über uns, daß ich den Atem anhielt, ob nicht etwas geschähe und sie im nächsten Augenblick in den Hausgiebel hineinschössen. Es waren ausnahmsweise einmal wieder deutsche und sie haben die Nachschubwege der Amerikaner bombardiert.

15. 8. [1944]

Ein Buch Churchills über seine großen Zeitgenossen in die Hand bekommen.86 Zuerst das Kapitel über Hitler gelesen, das im Jahr 1935 abgeschlossen ist. Ich habe mir mehr persönliche Kritik erwartet, während das Buch Hitler in die ablaufenden Geschehnisse hineinstellt und daraus allgemeine Schlüsse zieht. Ich neige zu der Ansicht, daß die Persönlichkeit H’s. [63] als Thema zu einem Buch gar nicht so anziehend sein kann, nicht entfernt wie die Napoleons oder gar Bismarck. Es fehlt in seinem Leben zu sehr das Private. Seine Eigenschaften sind weniger kompliziert und vielseitig, als vielmehr plump, ungeistig, einseitig, ausgerichtet und von Willensenergien wie von hartangezogenen Federn geglättet. Es wird vielmehr die Zeit selbst um ihn sein, die interessiert. Sie hat ihn einmal gerufen. Sie forderte den dynamischsten aller Menschen heraus, um den verfahrenen Karren herauszuziehen. Wenn aber die wilde Kraft nicht einhält, immer weiter zerrt und sich nicht wandelt, so muß sie anecken und schließlich zu- [64] grunde gehen.87 »Nur wer sich wandeln kann, dem gehört die Zukunft« sagt einmal Stefan George88. Das aber kann Hitler nicht. Er bleibt maßlos in seinem Glauben und Wollen. Er opfert damit von Stalingrad begonnen eine Armee und Division nach der anderen dahin.89 Auch wir hier in unsrer fatalen Lage auf der weitum abgeschnittenen Insel sind ein Opfer dieses Sichnichtwandelnkönnens, dieses Starrsinns und der zu späten Einsichten.

Zu starkes Wollen, sich nicht Bescheidenkönnen das ist aber weder weise noch christlich und es steht nur einem Halbgott und einer königlichen Figur zu, wie sie der junge Alexander90 im höch- [65] sten Maß war. Sie steht nicht einem Emporkömmling, dem Weltkriegsgefreiten und dem Anstreicher aus Böhmen91, so viel fatale Zauberkraft auch in seiner Persönlichkeit liegt.

Französisches Buch über Histoires drôlatres von Monfigny92 gelesen. Leichtestes erotisches Geplauder mit erdachtem und gestelltem Ausgang. Erinnert an Boccaccio93.

Vom Bathing Pool bis zu meinem Bungalow geschwommen. Weit im Meer draußen gegen leichten Ostwind, der kurze Wellen in das Gesicht schlug. Angenehmes Vertrauen auf Körperkraft im weiten Element [66] draußen.

Kinder bauen Sandburgen vor das hereinkommende Meer, die von Wasser bestürmt und schließlich zerstört werden. Am aufregendsten der Augenblick, in dem die Sanddämme noch halten und man bereits in einer trockenen Insel im Meer rings steht.

Schwerstes Bombardement auf St. Malo. Die Insel zittert wie von Erdbeben. Erstaunlich langer Widerstand in dieser Hölle.

Heute 2te Invasion in Südfrankreich.94 Man ist gar nicht mehr entsprechend beeindruckt. Das allge- [67] meine Zurück und Abwärts schon zur Gewohnheit geworden.

Polizeibesprechung, mit untergeordneten Problemen zeigt Friedlichkeit auf dieser Insel und rechtfertigt mich innerlich, daß alle überreizte Provozierung wegen Lappalien nicht am Platze ist. Besprechung mit Bailiff über Lichteinschränkung, Austausch von ziv. Schlachtpferden gegen bessere Truppenpferde usw.

16. 8. [1944]

In Sof95 Wölcken96 steht ein klares Beispiel des Intellektuellen vor mir. Er ist sehr belesen und beschlagen auf allen Gebieten. Hat überviele Ansichten, aber kein Urteil. Sein Verstand gleicht einer ausgezeichne- [68] ten Spieldose, die oben auf seinem unbeteiligten Körper sitzt. Es ist keinerlei Verbindung zwischen Verstand und Gefühl, wo doch nur beide im ständigen Kampf untereinander die Persönlichkeit bilden. Physiognomisch und körperbaucharakterlich drückt sich das gleich aus. Eine hohe Stirn, ziemlich uninteressant gewölbt. Ihre Spannung liegt über der Nasenwurzel und den scharfbebrillten Augen. Betonung also auf dem kritischen, beobachtenden, nicht schöpferischen, philosophischen Denken. Die Backen sind kindlich dick gefüllt, ein Zeichen für mangelnde seelische Durchlebtheit. Der Körper, der an sich wohl gebaut ist, hat [69] völlig schlaksige unharmonische Bewegungen. Auch er ist von nichts Geistigem oder Persönlichem angehalten oder geführt. Seine Neigung ist Büchersammeln. Sein Verhältnis zum Buch ist stärker als zu allem Lebenden, wie zu Frauen, Hunden oder Natur. Seiner Freundin, die seine starke Eitelkeit befriedigt, liest er am liebsten Bücherstellen vor, natürlich nur englische, denn zu seiner nun mal etwas charakterlosen Art gehört es, daß er restlos in das gegnerische englische Lager gehört und im Grunde nur alles Englische bewundert und das Deutsche verachtet. Da wir [70] ihm dies vielfach vorgehalten haben, hat er eine aus seinem Mund paradox klingende Dialektik entwickelt, die ihn immer gleichsam als Deutschfreund beweisen soll. Er ist kein durchhaltender Arbeiter, hat oft schon den Beruf gewechselt und war nach einem Jahr in Schottland als Lektor zuletzt Buchhändler in München. Seine Dinge sind ausgeklügelt und übergescheit. Dabei ist nicht zu verkennen, daß manchmal auch sehr Gutes herauskommt. Seine geistige Beweglichkeit hebt die Dinge gleichsam auf verschiedene Stühle und läßt sie von vielen Seiten sehen. Es spricht hervorragend englisch und besitzt eine [71] Fertigkeit, selbst erst halbausgesprochene Gedanken u. Ideen sofort in ihre Vollständigkeit zu übersetzen. So ist er mehr ein gutes Instrument als ein guter Mitarbeiter und mehr ein Nachschlagwerk als ein Berater.

Ganz anders dagegen ist Sof Bleul. Er macht zunächst mit seinen engen bebrillten Augen und seinem strengen Ausdruck mit der hasenhaft vorstehenden Oberlippe den Eindruck eines humorlosen Schullehrers. Er ist von Beruf auch Studienrat und hat etwas Schulmeisterliches an sich, was [72] überall eine sichere Art ist, um zunächst Abneigung zu erwecken. Bei näherem Kennenlernen und in seiner Arbeit zeigen sich aber mehr Vorzüge als Nachteile. Seine pedantische Sturheit ist im Gesamteinsatz einer Verwaltung unbedingt notwendig. Da gibt es Preisdurchrechnungen, unklare Statistiken, verwickelte Lappalien. Hierfür ist der Ansatz eines bissigen nicht nachlassenden Mannes geradezu wunderbar. Sind dagegen Dinge mit der leichten Hand und einem gewissen Scharm und Witz besser zu lösen, so nur nicht ihn dafür einsetzen. Persönlich ist er sehr gefällig und innerlich anhänglich u. verbunden weil ich zu den wenigen gehöre, die seine Vorzüge aner- [73] kennen und einen freundschaftlichen Kontakt über vieles gemeinsames Baden mit ihm halte. Auch dabei zeigen sich bei ihm plötzlich leichtere und liebenswürdigere Seiten. Die durch seine Lehrtätigkeit im Ausland gewonnene größere Beweglichkeit kommt dann vorteilhaft heraus. So lohnt es, zu ihm nett zu sein, weil hinter dem äußerlich und anfänglich zu leicht abstoßenden Schulmeister ein umgänglicher Mensch hervorkommt. Er hat einen leidenschaftlichen Hang zu Sonnenbädern u. kann den Stolz des braunsten Mannes der Insel für sich in Anspruch nehmen. [74]

Seine braunen Körperfarben sind so tief, daß selbst der bei der stark ausgeprägten Eßlust nicht vermeidbare embonpoint97 nicht so auffällt. Seine Art zu Mädchen ist ein wenig eigenartig. Er schnalzt gern mit dem Daumen und hat eine Weise des Nachblickens, die etwas Kompromittierendes hat u. aus südlicheren Landstrichen genommen scheint.

17. 8. [1944]

Am Morgen bei den herrlichen Augusttagen erfaßt mich immer wieder ein wehmütiger Schmerz nach den Lieben zu Hause. M. ist nun einmal meine einzige große Liebe im Leben und ich bejahe sie mit meinem ganzen Wesen. Zur Zeit bedrückt mich noch weniger die Sorge um [75] ihr materielles Ergehen als die Sorge um ihre Seele, um dies schwertragende Wort zu gebrauchen. Ich habe die Anwesenheit der Schwiegermutter schon einmal mit einem Katalysator verglichen, der den Anstoß zu einer völligen seelischen Umbildung gibt. Bei der Anwesenheit Mamis98 wird aus ihrer Milde und Heiterkeit Widerspruchsgeist und Gereiztheit. Die gerade feine Stirn faltet sich in hundert Runzeln und der ganze Ausdruck verändert sich zum Nachteil. Was aber eine Frau jung erhält, ist nur eine schöne Seele. Die wird ihr aber genommen. So fürchte ich, daß meine Frau von dieser Seite alt u. abgebraucht wird in der langen Trennungszeit, die noch bevorstehen könnte. Sie wird [76] vermehrt in das übergesellige Leben Altaussees flüchten. Wenn ich zurückkomme wird nicht mehr die alte Zärtlichkeit und Innigkeit da sein. Um dies fürchte ich am meisten.

Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln

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