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Hans Max Freiherr von und zu Aufseß (1906–1993)

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Hans Max Freiherr von und zu Aufseß ist vielleicht ein Stück weit, aber sicherlich nicht ganz und gar der ›gute Deutsche‹, als der er sich in seinen veröffentlichten Tagebüchern darzustellen versucht und als der er in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg auch in englischen Publikationen geschildert wird. Als Teil eines Besatzungsregimes gehört er zu den Mittätern, wobei der Begriff des ›Täters‹ selbstverständlich differenziert werden muss. Freiherr von Aufseß ist kein Mörder, aber ein Rädchen im Getriebe eines Mordapparats.

Es ist nicht die Aufgabe des Historikers, die Menschen der Vergangenheit mit erhobenem moralischen Zeigefinger zu beurteilen und ihnen ihre Schwächen vorzuhalten. Doch der Mühe einer kritischen Einordnung in den historischen Kontext und einer Abwägung der Handlungsmöglichkeiten und -spielräume, die diesen Menschen in schwierigen, potentiell verbrecherischen Umständen zur Verfügung standen, sollte man sich als Historiker doch unterziehen. Das gebietet schon allein der Respekt vor den Subjekten der Untersuchung. Folgt man aber der einzigen umfassenderen deutschsprachigen Biographie, die 2015 in den ›Fränkischen Lebensbildern‹68 erschien, war Hans Max Freiherr von Aufseß ein bruchlos tadelloser Mann, der auf den Inseln sein Möglichstes tat, um die Einwohner vor den größten deutschen Repressalien zu schützen. Der Verfasser dieser Biographie folgt dabei dem von Aufseß selbst geschaffenen, von Casper, dem Hauptverantwortlichen für die Durchführung der von seinen Vorgesetzten in Paris angeordneten antijüdischen Maßnahmen auf den Inseln69, und einigen englischen Autoren nach dem Krieg weiter tradierten Bild einer ›guten Okkupation‹ durch gebildete und distinguierte Besatzer von adeligem Geblüt. Casper verweist in seinem wenig glaubwürdigen Verteidigungsbüchlein auf englische Zeugen, die von Aufseß als tadellosen Besatzer schildern: »Er war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten von deutscher Seite, soweit es die Zivilbevölkerung betraf, und eine der interessantesten (…).«70 Auch die 2014 publizierte Chronik der Familie von Aufseß unterlässt eine Einordnung in den historischen Kontext und erwähnt die Tätigkeit des Freiherrn auf den Kanalinseln nur in dürren Worten.71 Selbst im Jahr 2015, 70 Jahre nach Kriegsende, sind noch die alten Mechanismen von Verdrängung und Verleugnung der unmittelbaren Nachkriegszeit wirksam. Doch nur selten präsentiert sich die Vergangenheit, wenn man sie gründlich betrachtet, als eindimensionale Angelegenheit ohne Widersprüchlichkeiten und Brüche. So ist es auch bei Hans Max Freiherr von und zu Aufseß, der sich gern selbst mit ›HMA‹ abkürzte.

Die Quellenlage zur Biographie des Freiherrn von Aufseß ist gut, wurde bisher aber in Teilen übersehen oder ignoriert. Die Zentrale Mitgliederkartei der NSDAP im Bundesarchiv Berlin gibt Auskunft über eine Parteimitgliedschaft, die aussagekräftige Spruchkammerakte des Entnazifizierungsverfahrens befindet sich im Staatsarchiv Coburg. Unterlagen des Kriegsgefangenenlagers ›Camp 18 – Featherstone Park‹ mit Informationen zu Hans Max von Aufseß’ Zeit als ›Prisoner of War‹ (›PoW‹) lagern im National Archive im Londoner Stadtteil Kew. Im Fränkische-Schweiz-Museum Tüchersfeld befindet sich der Nachlass des Freiherrn mit Manuskripten, privaten Aufzeichnungen und Korrespondenzen. Schließlich sind auch die zahlreichen Publikationen, die Hans Max von Aufseß nach dem Krieg veröffentlicht hat, weitere Quellen zum Verständnis und zur Einordnung seiner Person. Viele im ›Jersey Archive‹ befindliche Unterlagen, die seine Tätigkeit auf den Inseln dokumentieren, wurden von britischen Autoren, vor allem von Paul Sanders, gehoben, akribisch gesichtet und in der schon erwähnten umfangreichen Literatur verarbeitet.

Hans Max Otto Hermann Karl Gustav Freiherr von und zu Aufseß wird am 4. August 1906 in Berchtesgaden geboren. Er ist Teil einer fränkischen Adelsfamilie, die sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Noch heute zeugen eine Burg, ein Schloss und ein Dorf in der Fränkischen Alb von der Geschichte der Familie von Aufseß. Seine Vorfahren waren Bischöfe, freie fränkische Ritter – Raub-, aber auch Ordensritter – Reichsfreiherren, Verwaltungsbeamte und Militärs. Zuletzt erlangte Markus von Aufseß, 1987 bis 1990 Fußballprofi beim Zweitligisten SpVgg Bayreuth, eine gewisse Bekanntheit. Das Haus Aufseß trennt sich im 18. Jahrhundert in die Linien ›Unteraufseß‹ und ›Oberaufseß‹. Hans Max Freiherr von Aufseß gehört zur Linie ›Oberaufseß‹. Sein bis heute bekanntester Vorfahr ist sein Großonkel Hans von Aufseß aus der Linie ›Unteraufseß‹, der Begründer des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Sein Vater Ernst Moritz Leopold, verheiratet mit Caroline Freiin von Hohenfels, ist zur Zeit der Geburt von Hans Max Leiter des Bezirksamts in Berchtesgaden.72 Bei seiner Geburt hat Hans Max bereits zwei Schwestern, Anna und Elisabeth, und 1925 folgt mit Bruder Albrecht noch ein ›Nachzügler‹. Der Freiherr wird in die festgefügte Provinzadelswelt des späten bayerischen König- und deutschen Kaiserreichs hineingeboren. In dieser Welt gibt es Privilegierte und Gesinde. Seine glückliche Kindheit auf Burg Aufseß schildert Hans Max 1930 als junger Mann in einem romantisch-naturbewegten Gedicht: »Der Hof lag groß und breit, leicht im Gefälle/Hinauf zum Schloß, hinunter in die Ställe/Lief ich wohl hundertmal in Knabenschnelle/Und als Jüngling wieder hundertmal. (…) Hell überflattert von den Wolkenfahnen:/Das Tal, der Wald und Flur und Burg der Ahnen./Ich war daheim, Du gütiges Geschick.«73 Schon in diesem Jugendwerk spiegeln sich eine schwärmerische Ader und eine virile Lebensbejahung, die auch im Tagebuch der Okkupationszeit immer wieder durchscheinen. Als der Erste Weltkrieg ausbricht und auch das Leben in der fränkischen Provinz berührt, ist Hans Max von Aufseß acht Jahre alt. Mit Rittmeister Otto-Walter von Aufseß, der im November 1914 fällt, und Major Siegfried von Aufseß, beide aus der Linie ›Unteraufseß‹, der 1917 an den Folgen einer Verwundung stirbt74, verliert, wie viele andere auch, diese Familie im Krieg Menschenleben. Bei Beginn der ersten deutschen Republik, welche 1919 die Standesprivilegien des deutschen Adels abschafft und so die Lebensverhältnisse der ganzen Familie verändert, ist Hans Max zwölf Jahre alt. Er gehört damit zu jener sogenannten ›Kriegsjugendgeneration‹75 der zwischen 1900 und 1912 Geborenen, die, zu jung für eine Bewährung im Fronteinsatz, das Ende von Kaiserreich und alter Ordnung sowie die schwierigen Anfangsjahre der deutschen Republik als Verlusterfahrung wahrnehmen, gegen die sie sich machtlos fühlen. Diese Generation radikalisiert sich und ihr entstammt ein Großteil der späteren nationalsozialistischen Funktionsträger, u. a. Heinrich Himmler, Reinhard Heydrich oder der schon erwähnte Werner Best. Auch der fast gleichaltrige Hans Werner von Aufseß aus der Linie ›Unteraufseß‹, der wie Hans Max in München Jura studiert, gehört zur ›Kriegsjugendgeneration‹. Mitglied in der SS und der NSDAP macht er Karriere als persönlicher Referent des Reichslandwirtschaftsministers Walter Darré. Bei den ›Nürnberger Prozessen‹ nach 1945 sagt Hans Werner von Aufseß als Zeuge aus.

Hans Max von Aufseß besucht die Volksschule sowie Gymnasien in Bayreuth und München. Anschließend studiert er Rechtswissenschaften und Forstwissenschaften in München, Erlangen, Wien, Hamburg und Paris.76 Im Wintersemester 1927/28 schließt er sich dem ›Verband der Vereine Deutscher Studenten – Kyffhäuserverband‹ in München an.77 Der Verband ist zu diesem Zeitpunkt zwar nichtschlagend, aber antisemitisch und antirepublikanisch eingestellt. Seit 1926 bestehen Kontakte des Verbands zum ›Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund‹. Der junge Student Hans Max von Aufseß bewegt sich damit in einem politisiert-antidemokratischen Umfeld.

Am 1. Mai 1933 tritt Hans Max Freiherr von und zu Aufseß mit der Mitgliedsnummer 2524705 in die NSDAP, Ortsgruppe Heiligenstadt, Gau Bayerische Ostmark, ein.78 Als Wohnort gibt er Oberaufseß, als Beruf »Assessor« an.79 An diesem 1. Mai 1933, dem im ganzen Reich aufwendig begangenen ›Tag der Nationalen Arbeit‹, treten überdurchschnittlich viele Deutsche in die NSDAP ein, um so noch knapp einer Aufnahmesperre der Partei entgehen zu können, die mit Wirkung dieses Datums gilt. Der Freiherr gehört damit der sehr großen Zahl von Neumitgliedern an, die nach der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ am 30. Januar 1933 und den unfreien Wahlen vom 5. März d. J. in die Partei eintreten und die der Volksmund spöttisch als ›Märzgefallene‹ bezeichnet. Hatte die Partei Ende 1932 719 446 Mitglieder, sind es im Mai 1933 bereits 2,5 Millionen.80 1,3 Millionen der 2,5 Millionen Mitglieder treten erst zwischen der Märzwahl 1933 und dem 1. Mai d. J. in die NSDAP ein.81 Altgedienten Nationalsozialisten sind diese Neumitglieder ein Ärgernis, werden doch hinter vielen Eintrittsgesuchen mit Recht Opportunisten und ›Glücksritter‹82 vermutet, wie das Oberste Parteigericht mit Blick auf die ›Märzgefallenen‹ urteilt: »Wer vor dem 30. 1. 1933 zu uns kam, war willens für die Bewegung zu opfern. Jetzt kamen nicht mehr nur Menschen, die für die Ziele des Führers kämpfen wollten, es ließen sich auch Leute aufnehmen, die nun an der Bewegung verdienen wollten.«83 Die Aufnahmesperre, die erst 1937 wieder aufgehoben wird, soll diese Entwicklung stoppen. Am Ende des ›Dritten Reichs‹ sind dennoch 8,5 Millionen Deutsche Parteimitglieder.84


Nachweis über die Mitgliedschaft in der NSDAP in der Berliner Zentralmitgliederkartei

Der Umstand, dass von Aufseß der NSDAP beitritt, bedeutet nicht zwingend, dass er ein von allen ideologischen Inhalten überzeugter Nationalsozialist ist. Vielmehr ist anzunehmen, dass der am Anfang einer möglichen Karriere stehende 26-jährige ›Assessor‹ für seine Pläne, sich als Jurist zu etablieren und eine Familie zu gründen, die Parteimitgliedschaft für hilfreich hält. Des Freiherrn Berufsstart fällt genau in die Zeit der Etablierung der nationalsozialistischen Diktatur und ähnlich wie z. B. für viele frisch examinierte und häufig arbeitslose Junglehrer ist auch für Juristen am Anfang der Laufbahn die Einfügung in das neue System Voraussetzung für Erfolg. Diese Argumentation bemüht von Aufseß 1947 dann auch in seinem späteren Entnazifizierungsverfahren. Es muss jedoch deutlich gesagt werden, dass auch nach dem Beginn des ›Führerstaats‹ ein Parteieintritt immer freiwillig ist und niemand gezwungen wird, sich aus Gründen beruflicher Opportunität der NSDAP anzuschließen.85 Es war im ›Dritten Reich‹ möglich, moralisch integer zu bleiben, wenn man bereit war, auf Vorteile des Systems zu verzichten. Ungeachtet der Frage, ob Hans Max von Aufseß beim Parteieintritt überzeugter Nationalsozialist ist, kann festgestellt werden, dass er nicht zögert, in eine aggressiv antisemitisch, rassistisch und demokratiefeindlich orientierte Organisation einzutreten, die im Mai 1933 ihre brutale Gewaltbereitschaft bereits hinlänglich nachgewiesen hat.

Im Jahr 1934 zieht von Aufseß in das 90 Kilometer von Oberaufseß entfernte oberfränkische Industriestädtchen Naila und lässt sich dort als Anwalt nieder.86 Im selben Jahr heiratet er Marie Luise (Marilies) von Klipstein; dem Paar werden 1936 und 1939 die Töchter Uta und Cordula geboren.87 Ein Sohn, Hans-Michael, folgt noch während der Zeit des Freiherrn auf den Kanalinseln. Von Aufseß tritt später noch dem ›Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps‹ (NSKK) und dem ›Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund‹ (NSRB) bei.88 Die Mitgliedschaft im NSRB ist für Juristen keine Zwangsmitgliedschaft, aber faktisch unerlässlich, will man im ›Dritten Reich‹ als Anwalt tätig sein.

Die ältere Tochter Uta erinnert sich im Rückblick an die Vorkriegszeit in Naila: »So begann er mit einer Anwaltskanzlei in Naila und zog mit seiner kleinen Familie dort hin. Hier gab es Industrie, und es lebten Freunde und Verwandte in der Umgebung. Als 1939 Cordula geboren wurde und die Eltern mittlerweile ein kleines Haus mit Garten gebaut und ihr Eigen nannten, schritten die Kriegsvorbereitungen immer weiter voran und die Eltern hielten das Leben in dieser Industriestadt mit kleinen Kindern für nicht mehr angebracht und sinnvoll. Außerdem wurde mein Vater auch gleich eingezogen, und wir zogen mit Sack und Pack nach Altaussee in Österreich zu Freunden der Eltern, die dort schon eine Wohnung in einem Bauernhof besorgt hatten.«89

Hans Max von Aufseß wird nach Kriegsausbruch zu einer FLAK-Abteilung der Luftwaffe eingezogen und an »verschiedenen Fronten im Osten und Westen eingesetzt.«90 Im Mai 1941 erhält er den Rang eines Unteroffiziers.91 Ab November 1941 wird er Stabsunteroffizier bei der Luftwaffe in Frankreich, jedoch wegen seiner guten Französischkenntnisse bei der Spionageabwehr in Paris eingesetzt.92 Als Kriegsverwaltungsrat kommt der Freiherr schließlich 1942 auf die Kanalinseln, zunächst als Stellvertreter Caspers. Diese Versetzung verdankt von Aufseß nun seinen Englischkenntnissen.93


Marilies von Aufseß. Bildunterschrift: »Die Reisebegleiterin / ›Wer will eine Reise tun / der muss mit der Liebsten fahren‹ Eichendorff«.

Seine Haltung zum Nationalsozialismus ist trotz der Parteimitgliedschaft bereits 1940 kritisch. In einem unveröffentlichten Essay aus dem Jahr 1940 mit dem Titel ›Die sanfte Gewalt‹ schreibt von Aufseß: »Wir Deutschen sind nach dem Weltkrieg lange genug durch eine Zeit der Schwäche geschritten, um uns nach einem starken Willen zu sehnen. Wir haben ihn bekommen. Das SA Gesicht auf dem Plakat hat in Reinform die Züge des Männlichen und Willensmässigen getragen. Wir Deutsche sind wie so oft in unserer Geschichte von einem Extrem in das andere gefallen. Vom uferlosen Liberalismus ging es über in die Begrenztheit des totalen Staates, von der Disziplinlosigkeit in die höchste Ausrichtung und von der Planlosigkeit in das doktrinäre Programm. (…) Das Preussisch-Nationalsozialistische Deutsche bricht über von Tatkraft, seine Sprache ist befehlsmässig abrupt, seine Meinungsäusserungen zu laut (…) Es fordert heraus, weil es einseitig den Kampf, den Willen und die Pflicht bejaht und anbetet, – weil es keine sanfte Gewalt ist.«94 Der Freiherr spricht einem sanften, christlich geprägten autoritären Staat das Wort: »Es ist der ganze wärmere Blutstrom des deutschen Südens auf den Plan zu rufen, damit das Unharmonische im Deutschen nicht beherrschend wird.«95

Diese vollzogene innere Distanz zum Nationalsozialismus hindert von Aufseß jedoch nicht an der Zusammenarbeit mit dem Regime. Nach dem Krieg schildert Hans Max von Aufseß seine Tätigkeit auf den Inseln allerdings auf günstigste Weise: »Es ist mir dort gelungen, alle Nazimethoden in der Verwaltung des Landes, auch alle Nazidienststellen fernzuhalten.«96 Folgt man dem Urteil von Paul Sanders, der die englischen Quellen am besten kennt, überzeichnet von Aufseß seine Rolle allerdings ein wenig: »Von Aufsess’ power (…) was limited to deploring and intervening in the cutting down of old trees. Von Aufsess clearly had too much time on his hands to have been part of the inner political circle. (…) devouring every genre of books and films that got into in his hands and criss-crossing the island, often on horseback, cultivating relationships with compatriots and a select few islanders alike.«97

In Briefen, die von Aufseß nach 1945 von den Kanalinseln erhält, wird aber deutlich, dass er sich durchaus im Rahmen seiner Möglichkeiten um die Bedürfnisse der Inselbewohner bemüht hat und dabei auch Erfolge erzielen konnte. In einem Brief einer Inselbewohnerin vom 2. Januar 1947 an den Freiherrn heißt es: »I shall never forget your great effort in 1945 in trying to give us civilians our vegetables when that detestable Nazi admiral did his best to starve us all.«98 Edward Le Quesne, Präsident des ›Committee of public health States of Jersey‹, schreibt an von Aufseß im November 1947: »As minister of Labour during the whole of the Occupation of the Islands I can bear witness to the moderation you showed in putting into operation the orders of your superiors.«99

Doch ist Sanders’ Einschätzung ebenfalls zutreffend. In der Tat findet von Aufseß neben der mit begrenzten Kompetenzen versehenen Verwaltungstätigkeit viel Zeit für Gespräche, Frauenbekanntschaften, Ausritte oder entspannte Stunden am Strand. Im Auftrag der Feldkommandantur 515 gibt der Freiherr sogar einen Bildband mit dem Titel ›Bilderbogen‹100 über die Kanalinseln heraus. Die Texte und Bilder stammen vom Freiherrn, der dafür viele Stunden müßig über die Inseln gezogen sein muss. Das Buch erreicht drei Auflagen und wird in insgesamt 36 000 Exemplaren ausgeliefert. Nach Kriegsende ist es ein gesuchtes Souvenir englischer Soldaten. Sogar Adolf Hitler soll ein Exemplar erhalten haben, wie von Aufseß im Oktober 1943 berichtet: »Es wurde vom Chef des Fuehrerhauptquartiers, General Schmundt dem Fuehrer in den schweren Tagen vor Stalingrad im Januar 43 vorgelegt. Trotz des besonderen Interesses des Fuehrers für die Kanalinseln habe er begreiflicherweise keine Zeit dafuer gehabt, denn der Russe habe wider alle Regeln der Kriegskunst eine ungeheure Winteroffensive gestartet, stand woertlich gleich einem Eingestaendnis des Ueberraschtseins darin. (…) Die Engländer auf den Inseln haben es in grosser Menge gekauft und den oeffentlichen Bibliotheken eingereiht, wobei sie zugestanden haben, dass es das beste bisher erschienene illustrierte Buch der Inseln sei. Eine englische Uebersetzung des Textes ist hinzugefuegt worden.«101 Das Buch selbst ist eine unkritische Lobpreisung der Inseln und stellt dabei die deutsche Besatzung als freundliches Idyll dar.

Im Oktober 1943 beginnt von Aufseß mit den Eintragungen in seine Tagebücher. Vor seinen Mitarbeitern hält von Aufseß in diesem Jahr immer wieder programmatische Vorträge, in denen er sich für die schon aufgezeigte Mäßigung im Umgang mit den Inselbewohnern ausspricht, aber durchaus auch Identifikation mit den deutschen Zielen im Zweiten Weltkrieg beweist. So führt er am 15. Juli 1943 unter der Überschrift ›Vom Takt und Rücksichtnahme im Krieg‹ aus: »(…) denn zum totalen Krieg gehört nicht nur die Mobilisierung aller materiellen Güter der Nation, sondern ebensosehr der volle Einsatz aller geistigen, zu denen zweifelsohne als Tochter der Vernunft auch die echte Rücksichtnahme zählt. Wieviel in der Welt schon durch kluge Rücksichtnahme erreicht und wieviel durch ihr Fehlen zerstört wurde, darüber ließen sich Bände füllen. Wir Deutschen, die wir heute zur Lenkung und Verteidigung des Schicksals der europäischen Völker berufen sind, müssen uns dies besonders klar vor Augen halten. Denn so wenig die Waffen allein uns zum Siege bringen werden, so wenig wird uns die blosse Gewalt die Vormachtstellung in Europa sichern. (…) Wo es die Verteidigung und die höchste Ausnützung des Landes für den Krieg bedingt, gibt es natürlich keine persönliche Rücksichtnahme. Für wen soll es aber z. B. gut sein, dem Engländer sein Tennis- und Golfspielen zu verbieten, wenn er die ganze Woche für uns gearbeitet hat. (…) So muss sich die deutsche Geradheit mehr in Geschmeidigkeit wandeln (…). Es wird dann nicht mehr die Rede vom taktlosen oder rücksichtslosen Deutschen sein. Dem Augenblick nur immer richtig angepasst, müssten wir sogar mit unseren guten Grundeigenschaften allen wahrhaft überlegen sein.«102 Ähnliche Gedanken formuliert von Aufseß in einem Vortrag im August 1944. Der Vortrag trägt den Titel ›Die Kanalinseln im Belagerungszustand‹: »Wir handeln hier als Besatzungsmacht auf rechtlicher Grundlage. (…) Alles, was hier geschieht, steht unter der Glasglocke der Weltöffentlichkeit. Unser Handeln wird nicht nur als ein Verhalten der Deutschen in einem besetzten Staat schlechthin gewertet, es hat auch eine unmittelbare Auswirkung auf die weit grössere Anzahl von Deutschen, die unter englischer und amerikanischer Herrschaft lebt. Nicht dass wir deswegen in unserem Handeln vom Urteil der anderen abhängen (…). Aber es gibt eine Bindung an das Recht und eine Rücksichtnahme aus Vernunft, deren wir uns bei allen Handlungen bewusst sein müssen. (…) Als Grundsatz des Rechts einer Besatzungsmacht gilt die Erhaltung des fremden Volkes. Man muss die fremde Zivilbevölkerung leben lassen und ihr nicht das Letzte nehmen. Dieser Grundsatz wurde von Herrn General Schmundt bei seinem Besuch der Kanalinseln als ausdrücklicher Wunsch des Führers bestätigt. Der Militärbefehlshaber in Frankreich, General von Stülpnagel, der Befehlshaber Nordwestfrankreich, General Vierow und General von Mühlendorf vom AOK VIII haben endlich wiederholt der hiesigen Militärverwaltung zum Ausdruck gebracht, dass für die Bedürfnisse der englischen Zivilbevölkerung in ausreichendem Mass gesorgt werden müsse.«103

Bei allen Appellen zur Mäßigung scheint aber auch dieser angeblich so moderate Besatzer von Aufseß nicht frei von Herrenmenschenallüren gewesen zu sein. Joe Mière, damals 15 Jahre alt, berichtet von einer Begegnung und charakterisiert den Freiherrn ausgesprochen negativ. Mière arbeitet in einem Hotel, das deutschen Offizieren als Unterkunft dient. Er hat schwer zu tragen, als ihm von Aufseß begegnet: »We start to cart away the plates from the plant room which was at the back of the Hotel through a very narrow passage leading to the roadway. We had to wear gloves, because there was still acid dripping from the plates (…). On one trip I was half way down the long narrow passage when a German officer started to come in the passage from the roadway. He told me to go back so that he could pass up the passageway without the plates that were still dripping acid splashing his very highly polished boots. The plates were very heavy, so I did not feel like retreating back up the passage. I told him to pass me and I did try not to let the wet plates touch his boots but my hand slipped and one of the plates did touch his boots. He went mad, and like all the so-called master race, he started to shout in English, but mostly German. Curly came along (his mother was German so he spoke German like a native). He tried to calm the officer down who was still shouting and laying down the law to me. Curly translated what the officer was going on about. He told me that he would have me arrested the next time I caused any trouble and if his high boots were damaged I would have to pay for a new pair (…). Curly told me later (…) that the officer was Baron von Aufsess (…). I was only just over 15 years old at this date and thought what a bully this Baron was, and made a note in my mind to remember his face and keep out of his way.«104 Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte lässt sich heute nicht mehr überprüfen. Das Bild eines cholerischen Offiziers, der nicht zögert, einen Jugendlichen wegen einer Kleinigkeit mit seiner ungesetzlichen Machtfülle zu bedrohen, ist jedenfalls überaus unsympathisch und gegensätzlich zu dem Bild, um das von Aufseß nach 1945 so bemüht war. Die auch an anderer Stelle bezeugte Eitelkeit des Freiherrn wird in der Anekdote Mières allerdings deutlich illustriert. Auch eine weitere Begegnung Mières mit von Aufseß nimmt nicht für den Freiherrn ein: »The next time I saw this German baron was in January 1944 we were up Westmount and in passing helped an old couple to cut the branch off a pine tree. A German staff car pulled up and out came two officers, one of them was the German Baron von Aufsess. We made a run for it up towards the old football field. As we looked back we saw the Baron was taking the old couple’s identity cards away from them.«105

Manchmal muss der Freiherr einige Tage nach Paris reisen, um dort weitere Maßnahmen abzustimmen. In einem Brief berichtet er von einer neuntägigen Reise. Dieser undatierte und nicht namentlich markierte Brief zeigt ebenfalls eine inhaltliche Übereinstimmung mit Teilen der nationalsozialistischen Ideologie. Von Aufseß berichtet über die Tätigkeit der Résistance in Frankreich, aber auch von Treffen mit Kollaborateuren: »In verschiedenen groesseren Waldgebieten sind bereits Truppen gegen die von den Englaendern mit reichen Waffen ausgestatteten Banden eingesetzt. Die wenigen Mutigen unter den Franzosen, die sich in Tat und Wort fuer das neue Europa einsetzen, sehen ihr Leben vielfach von Terror bedroht. (…) Am letzten Tag vor der Rueckreise auf die Insel haben wir wieder die reizende Graefin du Cor (…) besucht, denn sie gehoert auch noch zu den wenigen, die an unsere Sache glauben und sich dafuer einsetzen.«106 Doch fern solcher Ausflüge nach Frankreich dominieren für von Aufseß Mangel und friedliche Abgelegenheit das Leben auf den Inseln: »Es gibt nichts, aber auch nichts zu kaufen. Die Insel wurde in der Anfangszeit der Besatzung völlig ausgepowert. Außer den Soldatenheimen kann man weder Cafés noch Restaurants besuchen. Die Zeitungen sind so alt, dass sie nicht mehr interessieren. Die Briefe brauchen je nach Schiff oft noch viel länger. Das Stückchen Wasser trennt wie zweitausend Kilometer. Die kleine Frontbuchhandlung ist am 1. Tag nach Ankunft einer Bücherkiste sofort ausverkauft. (…) Manchmal liegt tiefste Friedlichkeit und Krieg nebeneinander, wenn ich daran denke, wie in einem Gartenhäuslein mitten in einem blühenden Garten am Meer die ersparten Geldscheine eines Soldaten zum Trocknen ausgelegt wurden, der auf einem von den Engländern versenkten Urlauberschiff mit der gesamten Besatzung ertrunken war.«107

Trotz der Verschärfung der Situation im Jahr 1944 findet der Freiherr auch jetzt noch Zeit für Frauen und Ausritte. Wenige Wochen nach der Landung der Alliierten in der Normandie, die das Ende des ›Dritten Reichs‹ einläutet, schreibt er am 30. Juli 1944 an eine Verehrerin und gibt dabei einen Eindruck von der sich zuspitzenden Situation: »Auf dem Pferd allein ist man ein wilder Naturbursche und die boesen Naechte werden dann abgeschuettelt. Ich habe mich gestern ueber manches vergraemt gehabt, aber heute bin ich wieder frisch und wohl. Es ist ein Kampf ununterbrochen mit der Verschlagenheit der Englaender, dem Egoismus der Truppe, der Kurzsichtigkeit und Denkfaulheit der ueberall vorherrschenden Mittelmaessigkeit, der Unzuverlaessigkeit aller Statistiken und bestehenden Zahlenreihen, der Fatalitaet der immer mehr sich verringernden Vorraete und der Unberechenbarkeit der Zukunft. (…) Wir haben uns gestern einmal abends im kleinen Kreis ueber unser voraussichtliches Weihnachten hier unterhalten ohne Kohle, ohne Licht, ohne Brot ohne Nachrichten usw. und wir haben dabei einen schaurigen Humor entwickelt. Der Krieg ist ja ein Feld fuer den Zynismus und was wir so am Rande der grossen Schlacht drueben alles hoeren beweist es taeglich.«108 Als von Aufseß diesen Brief schreibt, befindet sich seine Frau bereits im Gefängnis. Am 19. August 1944 wird Marilies von Aufseß wegen regimekritischer Äußerungen in Altaussee festgenommen.109 Nach dem Krieg wurde Marilies von Aufseß als ›politisch Verfolgte‹110 eingestuft. In der Chronik der Familie erinnert sich erneut Tochter Uta: »Meine etwas unvorsichtige Mutter hatte bald erkannt, was Hitler vorhatte und sprach mit allen Freunden und Bekannten recht unverblümt davon. Sie erzählte von den Briefen, die mein Vater von den englischen Kanalinseln sandte. Das sprach sich schnell herum. Eines Tages (…) tauchten zwei Gestapomänner in Ledermänteln auf und durchsuchten unser Haus. Meine Mutter versuchte noch in aller Eile, die Briefe aus England zu verstecken, was leider nicht gelang. Ich versteckte in meinem Eifer noch ½ Pfund Butter unter meinem Kopfkissen … wussten wir doch nicht, was diese Männer eigentlich wollten. Diese fackelten nicht lange, nahmen unsere Mutter in ihre Mitte und führten sie so durch das ganze Dorf ab. (…) 9 Monate saß unsere Mutter in Salzburg in einem Frauengefängnis. (…) Für uns Kinder war das keine schöne Zeit, da Mutter uns schon sehr früh beigebracht hatte, dass wir in der Schule nicht Heil-Hitler sagen müssten und die Nazis sowieso alles Ganoven wären. (…) Wir hörten nichts von ihr, bis in den letzten Kriegstagen die Gefängnisse geöffnet wurden und sie (…) nach Altaussee gebracht wurde.«111

Nicht mehr beweisbar ist die im Zuge des späteren Entnazifizierungsverfahrens aufgestellte Behauptung, Hans Max von Aufseß sei vom sogenannten »Volksgerichtshof« wegen der bei seiner Frau gefundenen regimekritischen Briefe angeklagt worden. Lediglich die abgeschnittene Lage der Kanalinseln habe ihm dabei das Leben gerettet. Eine gewisse Skepsis ist aber bei den so präzisen Erinnerungen einer bei Festnahme der Mutter Achtjährigen genauso angebracht wie bei den vielen, nach Kriegsende ähnlich erzählten Geschichten von vermeintlichem Widerstand und NS-Opposition.112

Im März 1945 enthebt Hüffmeier den ihm zu kritischen von Aufseß und versetzt ihn zur Nebenstelle nach Guernsey. Das Kriegsende und die Übergabe der Inseln an die englischen Sieger lässt die militärische Führung durch von Aufseß und damit durch den Leiter der Zivilverwaltung verkünden. In einer von zwei Versionen des letzten Bandes der Tagebücher reflektiert der Freiherr über die Jahre auf den Kanalinseln und die düstere Zukunft: »Über allem lag ein gnädiger Segen, auf den ich dankbar zurücksehe. (…) Fast trostlos sieht die Zukunft der Liebsten, der Heimat und der eigenen Person aus. Dennoch will ich mich nicht danieder beugen lassen, denn wenn mich schon der Krieg so gesund bewahrt hat, so werde ich schon langsam in Friedenzeiten (sic!) die Heimat die Liebsten und mich wieder hochbringen. Das ist die grosse Verpflichtung aus diesem wohlüberstandenen Krieg.«113

Nach der Befreiung der Kanalinseln gerät von Aufseß in Kriegsgefangenschaft. Folgt man Madeleine Bunting, die allerdings keinen Beleg für die Behauptung nennt, steht sein Name sogar auf der ›Central Registry of War Criminals and Security Suspects‹-Liste (CROWCASS) für Kriegsverbrecher, welche die Vereinten Nationen führen: »The Bailiffs of both Guernsey and Jersey were anxious that a small number of German officers in the islands’ military governments should be brought to trial for war crimes committed against islanders. They claimed there had been two war crimes: the deportation of islanders to German internment camps and the cutting back of civilian rations during the last year of Occupation. Evidence was collected, detailed physical descriptions of the alleged culprits were taken, and a list of about half a dozen names, including Baron von Aufsess and Oberst Knackfuss, was drawn up and registered with CROWCASS (…).«114 Die Ausbeutung der ausländischen Zwangsarbeiter scheinen die Bailiffs allerdings nicht als Kriegsverbrechen betrachtet zu haben. Auch die Verfolgung, Entrechtung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, zu der die Inselbehörden Beihilfe geleistet haben, wird von ihnen nicht als Kriegsverbrechen angesehen.

Hans Max von Aufseß kommt am 10. Juni 1945 in das bekannte ›Camp 18 – Featherstone Park‹, das unweit des römerzeitlichen Hadrianswalls im nordenglischen Northumberland liegt.115 ›Camp 18‹ ist mit fast 5000 Inhaftierten, die große Mehrzahl davon Offiziere, eines der größten Kriegsgefangenenlager auf der britischen Insel. In diesem Lager werden überwiegend besonders überzeugte Nationalsozialisten gefangen gehalten. Eine Verfolgung wegen der von den Bailiffs geschilderten Kriegsverbrechen unterbleibt laut Bunting aber aus heute unbekannten Gründen: »No documents survive as to why the prosecutions were abandoned.«116

Von Aufseß schildert die Zeit der Kriegsgefangenschaft 1985 im Nachwort seiner englischen Tagebuchausgabe als behagliche Anekdote. Mit dem Bus fährt er täglich in das Örtchen Bardon Mill nahe der römischen Grenzfestung, kehrt in den Pub ›Fox and Hounds‹ ein, bevor er sich freiwillig seiner Arbeit in einem Landschaftsgarten widmet und dabei die Bekanntschaft eines singenden Postboten macht, die gänzlich ohne Worte auskommt. Der Freiherr hat das Talent, auch in schwierigen Momenten, das Sentiment zu entdecken und zu literarisieren: »But even this difficult period had in retrospect its humorous moments and compensating memories, such as my encounter with the local postman, a tough character. (…) At last my date of repatriation was announced and I caught the early bus to the village for the last time. My good hosts at the Fox and Hounds loaded me with gifts. There was also a packet of cigarettes left there for me by the postman! This time, I was resolved, I would certainly speak to him. But the postman was too clever for me. Why spoil a friendship with unnecessary talk? Instead he made a long and laborious detour. I saw him pass the distance but heard no song. What the words had been I shall never know, but perhaps after all the were meant to cheer me with some consolatory allusion to the hard lot of the soldier in a foreign land.«117

Das ›Featherstone Park‹-Lager ist bekannt für sein ambitioniertes demokratisches Umerziehungsprogramm, das bei Hans Max von Aufseß erfolgreich gewesen zu sein scheint.118 Im Lager gibt es eine eigene Form der ›Lageruniversität‹, in der die Insassen in akademischen Kursen mit den Prinzipien der freiheitlichen Demokratie vertraut gemacht werden. Sogar Berufsabschlüsse können im Rahmen dieser ›Universität‹ erlangt werden.119 Zum Teil werden die Gefangenen von Briten unterrichtet, zum Teil unterrichten sie sich wechselseitig selbst, sobald ihre freiheitliche Gesinnung gesichert ist. Die Leitung des Lagers hat unter britischer Kontrolle der deutsche Generalleutnant Ferdinand Heim, der sich engagiert mit der Aufgabe der Demokratisierung der Gefangenen identifiziert. Hans Max von Aufseß nimmt an der ›Politischen Arbeitsgemeinschaft‹ im Lager teil und hält dort Vorträge und Vorlesungen. Vor seiner Entlassung aus Kriegsgefangenschaft ist der Freiherr sogar Leiter der Arbeitsgemeinschaft.120

Besonders zuverlässigen Gefangenen erlaubt die Lagerleitung Arbeiten außerhalb des Lagers, meist auf Bauernhöfen.121 Dass von Aufseß eine solche Arbeit in Bardon Mill erlaubt wird, zeigt, dass die Lagerleitung ihn als erfolgreich demokratisiert einschätzt. Am 10. Mai 1946 hält Hans Max von Aufseß vor der ›Politischen Arbeitsgemeinschaft‹ einen Vortrag über ›Die Überschätzung des Gebildeten‹, in dem er ein christlich grundiertes Programm von Schlichtheit und Herzensgüte zur Überwindung des vergifteten nationalsozialistischen Erbes entwirft: »Was unsere Lage schon hier und erst recht in der Heimat erfordert, ist nicht der sogenannte Gebildete. Wir werden ihn weniger gebrauchen denn je. Was wir brauchen ist die Schlichtheit und Echtheit guter Gedanken (…).«122 Am 1. August 1946 hält er einen Vortrag über ›Europa als Nation von Nationen‹ und bekennt sich dabei nun ganz anders als während der Besatzungszeit, als er noch eine deutsche Hegemonie in Europa wünschte, zur europäischen Idee: »Ich möchte von Mensch zu Mensch wirken und nur die Richtung eines Gedankens befördern, der von dem übertriebenen Nationalismus weg zu einem weiteren europäischen Denken führt. Wenn jeder in seinem Kreis weiter wirkt, auf seine Kameraden, auf seine Gemeinde, auf seine Partei, dass nichts gegen diesen guten Gedanken geschähe, so betreiben wir die [unleserlich] und fördern etwas, was mir die gesunde Entwicklung unserer deutschen Nation innerhalb der grösseren europäischen zu sein scheint.«123 Von Aufseß besucht im Lager Vorlesungen und hält dann sogar selbst Vorträge zum Thema ›Völkerrecht‹, in die er seine Erfahrungen als Jurist und Inselverwalter einfließen lässt.124

Die sehr engagiert um die politische Bildung ihrer Insassen bemühten Lagerleiter um Generalleutnant Heim ermöglichen den deutschen Gefangenen auch die Gestaltung einer Lagerzeitung, die den Titel ›Die Zeit am Tyne – Stimme Kriegsgefangener Deutscher‹ trägt.125 Hier erscheint in Ausgabe Nr. 5 vom 15. Oktober 1946 ein Beitrag des Freiherrn von Aufseß mit dem Titel ›Widersprueche unserer Zeit‹. Darin äußert er sich in einer Mischung aus grundsätzlich konservativ-christlichem Menschenbild und einem kommunitär verstandenem Sozialismus: »Allen Widersprüchen liegt wohl der Hauptwiderspruch zugrunde, dass die Menschheit im Genusse des technischen Fortschritts entscheidend gehindert ist durch das Zurückbleiben des menschlichen und völkerverbindenden Fortschrittes, also durch die Unfähigkeit der Lösung durch einen aufbauenden Weltsozialismus und eine überstaatliche Lösung. (…) Der Mensch muss (…) zurückfinden aus dem technisierten Massenmenschen in das, was er immer war. Wenn er sich in dem Neuen zurechtfinden will, muss er im echten und wahren Menschentum verbleiben.«126

Im Gefangenenlager erscheint 1946 ein ›Leitfaden Staatsbürgerkunde‹127, an dem von Aufseß nach eigener Aussage mitgearbeitet hat. Allerdings sind die Beiträge nicht namentlich gekennzeichnet, sodass der Anteil des Freiherrn nicht genau benannt werden kann. Im Vorwort stehen aber Auffassungen, die inhaltlich und stilistisch durchaus von ihm stammen könnten. Über die Absicht des Leitfadens ist dort zu lesen: »(…) das Vakuum auszufüllen, das in unserer Erziehung dadurch entstanden war, dass man den jungen Menschen wohl Trigonometrie und griechische Prosa lehrte, nicht aber die Gleichungen seiner Stellung innerhalb der Gesellschaft.«128

In einem Visitationsbericht des Lagers vom 20. Dezember 1946 heißt es über den Freiherrn: »The leading spirit in political work is Aufsess.«129 Seine Wandlung und seine große prodemokratische Aktivität in englischer Kriegsgefangenschaft steht damit außer jedem Zweifel.

Hans Max von Aufseß wird am 14. Februar 1947 aus ›Camp 18 – Featherstone Park‹ entlassen und kommt so nach fast zwei Jahren wieder zurück in die Heimat.130 Zuvor bescheinigt ihm die Lagerleitung in Person noch einmal seine großen Leistungen bei der politischen Bildungsarbeit im Lager: »(…) he assisted very successfully by his willingness especially to help young and still hesitating Ps.o.W. [Prisoners of War] (…) His influence on denazification in this camp was very great.«131

Als von Aufseß im März 1947 auf der Rückreise in den Bunkern des zerstörten Bahnhofs von Hannover erschütternde Bilder der von Krieg, Flucht und Bomben verwirrten, traumatisierten Menschen sieht, bestärkt ihn das in seinen guten Absichten, am Aufbau eines besseren Deutschlands mitwirken zu wollen: »Es ist eine Trift von Vertriebenen und ein grosser Schmelztiegel erschütterter und durcheinandergeworfener Menschen. Aber gerade darin liegt auch etwas Hoffnungsfrohes in dieser Herausgerissenheit der Menschen (…) Als Künstler möchte man diesen selben Menschen einen ergreifenden, ja, einen erschütternden Film drehen, als Missionar (…) möchte man seinen Glauben frisch auspflanzen. Aber auch als politisch verantwortlich eingestellter Mensch möchte man glauben, dass aus diesem Schmelztiegel Deutschland endlich etwas besseres Neues geschmiedet werden kann, indem man die Hoffnungslosen wegführt aus dem Verfolgungswahn der letzten Jahrzehnte und sie bereit macht für das Denken in einer friedlichen europäischen Gemeinschaft.«132

Nach der Rückkehr aus Kriegsgefangenschaft gelingt Hans Max Freiherr von Aufseß wie vielen ehemaligen Funktionsträgern des ›Dritten Reichs‹ die Integration in die junge bundesrepublikanische Gesellschaft. Er ist zunächst bis 1960 Anwalt am Oberlandesgericht Bamberg, verwaltet die heimatlichen Güter, engagiert sich im Gemeinderat von Oberaufseß und im Kreistag von Ebermannstadt, bevor er 1960 Generaldirektor der Herzoglich Coburg’schen Güter wird.133 Diese Stellung hat Hans Max von Aufseß bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1975 inne. Abschließend widmet er sich der Verwaltung der von Aufseß’schen Güter und der schon früher begonnenen Schriftstellerei. Er beschäftigt sich dabei in zahlreichen Aufsätzen und Büchern vor allem mit der fränkischen Heimat, die in einem zuweilen altväterlichen, meist aber nonchalant-eleganten Ton, dem immer wieder antimodernistisch-gegenwartskritische Nebenbemerkungen beigefügt werden, gepriesen und gespiegelt wird.

Konkrete politische Aussagen stehen hinter allgemeinen Betrachtungen und einem Schwelgen in unproblematischeren deutschen Vergangenheiten zurück. So veröffentlicht er z. B. 1966 eine Kurzbiographie Ulrich von Huttens, den er anerkennend einen ›Publizisten und Partisan‹ nennt, nachdem er nur elf Jahre vorher jeden ›Partisanen‹ auf den Kanalinseln bekämpft hätte.134 Wenn sich von Aufseß an wenigen Stellen über die Zeit des Nationalsozialismus äußert, tut er dies im typischen widersprüchlichen Gestus seiner Generation – er war zwar dabei, aber für nichts verantwortlich. In einem 1986 erschienenen Essay ›Der Konformismus‹ bemüht von Aufseß millionenfach wiederholte deutsche Entschuldigungsmuster: »Auch mit dem Mitläufertum aus der Nazizeit hat er [der Konformismus, d. Vf.] nichts gemein, denn diese Einstellung kam unter dem massiven Druck eines totalitären Regimes zustande. Es gab nur die Alternative, Mitläufer zu sein oder in das Konzentrationslager zu kommen.«135 In einem mit leichter Hand ansprechend illustrierten Bildband über das alte und neue Nürnberg des Jahres 1963 formuliert von Aufseß über den Nationalsozialismus, seinen ehemaligen Parteivorsitzenden Hitler und die Nürnberger Reichsparteitage Sätze, die aus der Feder eines ehemaligen NSDAP-Mitglieds erstaunen: »So kann es nur als einer der vielen Irrtümer Hitlers bedauert werden, daß dieser fatale Halbgebildete und größte Scharlatan aller Zeiten, in Schändung des Gastrechts, das einst den deutschen Kaisern dort gewährt worden ist, und in Verkennung des fürsichtigen Altnürnberger Stadtgeistes der Mäßigung, seine Paraden und Mammutgebäude der überschwänglichen Hybris dorthin verlegte. Er hat aus Nürnberg, dem einstigen Hort der segensreichen Kleinodien einen Ort des unseligen Drittreichsgrößenwahns gemacht. Nürnberg mußte als Stadt der Reichsparteitage mit der tiefsten Demütigung seiner Geschichte am Ende des Krieges dafür bezahlen.«136 Um 1965 veröffentlicht von Aufseß ein Büchlein über die Stadt Coburg, die bereits 1929 von der NSDAP regiert wurde und daher im ›Dritten Reich‹ den Titel ›Erste Stadt des Nationalsozialismus‹ tragen durfte.137 Die Jahre 1933 bis 1945 finden in diesem Buch mit keinem Wort Erwähnung.

Seine eigene ambivalente Vergangenheit thematisiert von Aufseß in seinen literarischen Werken mit einer bemerkenswerten Mischung aus Offenheit und Verharmlosung. Einerseits hat er den Mut, im Jahr 1985 das Tagebuch eines Besatzungsoffiziers der englischen Öffentlichkeit vorzustellen, andererseits steht er nur ansatzweise zu seiner Rolle als Diener einer menschenverachtenden Diktatur. Im Vorwort schildert er sich vielmehr als fairen Vermittler zwischen ›guten‹ Besatzern und ›guten‹ Besetzten, die gemeinsam alle unvermeidbaren Schwierigkeiten des Krieges meistern konnten. Gewisse Härten der Deutschen, 1945 noch als Kriegsverbrechen verurteilt, verschweigt er dabei nicht: »Food and fuel reserves for the troops and the civilian population were sufficient for only a limited period, which could be prolonged only by the small gains from intensified agriculture and ever more frequent reductions in rations. This created tensions and gave rise to special problems, inherent in the situation between occupiers and occupied, of a magnitude which could not have been for[e]seen and which seemed impossible to overcome. Yet, they were overcome, by agreement between the occupying forces and the island governments. In these small islands agreement between nations was actually put into practice.«138 Kritische Nachfragen, die nach der Veröffentlichung der ›Diaries‹ aus England an ihn gestellt werden, beantwortet von Aufseß nicht, wie Joe Mière mit deutlicher Verbitterung berichtet: »The diary starts in August 1944 when at this date the Germans were on the way out. I did write to him but he never had the decency to reply. I wrote again asking him to publish his diary from 1939 when the Germans were on the top. Again no reply. I think he would not dare publish a diary from 1939 because, like a lot of top German officers, they were all for their beloved Fuehrer in those days when he was winning the war. But as the end was in sight, they changed horses.«139


Aufseß’ »Kleine Fibel der Politik«, 1949

In einem weiteren Essay berichtet von Aufseß, wie er nach 33 Jahren 1978 erneut die Kanalinseln besucht. Er verschweigt dabei seine Funktion als ehemaliger Besatzer nicht, verweigert aber auch hier eine offene Auseinandersetzung mit den Schattenseiten der Zeit, sondern flüchtet in eine unbelastete vorgeschichtliche Vergangenheit. Er besucht die Museen zur Besatzungszeit: »Da ich es weder erhebend noch schaurig empfand, in den häßlichen unterirdischen Betonbunkern Hitler, Göring etc., Wachspuppen von zwei deutschen Landsern, Uniformstücke, Waffen, vergilbte Dokumente und Urkunden, also die eigene Vergangenheit der Besatzungsjahre gegen Eintrittsgeld zu besichtigen, habe ich mich umso intensiver dem Glanzstück der vorgeschichtlichen Dolmenbauer zugewendet.«140 Anschaulicher könnten die Verdrängungsmuster der deutschen Kriegsgeneration nicht formuliert werden!

Von Aufseß ist nach dem Krieg eine wichtige und bundesweit gut vernetzte Persönlichkeit in Franken, die ihre Beziehungen auch einsetzt. So entwirft er 1949 eine ›Kleine Fibel der Politik‹, die bei der ›Bundeszentrale für Heimatdienst‹ – der heutigen ›Bundeszentrale für politische Bildung‹ – erscheinen soll, von deren Leiter aber, dem im Nationalsozialismus verfolgten Dr. Paul Franken, abgelehnt wird. Der Freiherr will mit der Fibel in wohl aufrichtiger Weise einen Beitrag zur politischen Bildung leisten. Doch ist die Schrift in Diktion und Inhalt stellenweise diskussionswürdig, z. B. wenn er Opfer und Täter in eine Reihe stellt: »Wenn wir schreien, die Kapitalisten, die Freimaurer, die Juden oder die Nazis sind an allem schuld, sind wir nicht anders als die Primitiven, die das Wasser peitschen, wenn der Sturm ihre zu schwachen Boote verschlang.«141 Insgesamt ist die Fibel aber von den Werten der freiheitlich-westlichen Demokratie durchdrungen. Grundrechte wie Freiheit, Versammlungsrecht, freie Meinungsäußerung, Rechtsstaatlichkeit werden vom Autor besonders betont. Hans Max von Aufseß ist in ›Camp 18‹ glaubwürdig zum Demokraten bekehrt worden. So äußert er sich z. B. deutlich zum Einparteienstaat und Totalitarismus: »Die Einpartei kann sich nur durch Liquidierung der Gegner und Intoleranz aufrechterhalten.«142

Die Kritik Frankens ist dennoch deutlich: »(…) der Text ist an vielen Stellen inhaltlich und sprachlich so wenig treffsicher, dass vermutlich auch durch umfassende Reparaturen das Ganze nicht mehr zu retten ist.«143 Die Ablehnung seiner Fibel ist dem verärgerten von Aufseß allerdings Grund, sich an den Bundesjustizminister Dr. Thomas Dehler (FDP) zu wenden, den ehemaligen Leiter des Oberlandesgerichts Bamberg und daher ein alter Bekannter des Freiherrn. Von Aufseß gibt dem Minister sein Antwortschreiben an Franken zur Kenntnis. Er schreibt in selbstbewusstem Duktus am 26. Januar 1953 an Franken: »Der Autor wäre wohl nicht dazu gekommen die Fibel zu schreiben, wenn nicht sein lehrbuchartiger ›Leitfaden der Politik‹ in 30 000 Exemplaren für die Kriegsgefangenen in England gedruckt worden wäre, weil er für besonders verständlich und klar formuliert angesehen wurde. (…).«144 Dehler antwortet am 28. Januar 1953 an von Aufseß: »Ihr Schreiben an Herrn Direktor Franken hat mir große Freude gemacht. Es ist köstlich, wie diese Bürokraten immer daneben greifen. Ich verspreche Ihnen, niemals dieser Krankheit zu erliegen.«145 Die Zeichnungen in der Fibel, die immerhin auch Frankens Anerkennung finden, stammen von Günther Behnisch, dem später mit der Gestaltung des Münchner Olympiageländes berühmt gewordenen Architekten. Behnisch war auch Kriegsgefangener in England und möglicherweise daher mit von Aufseß bekannt.

Bevor Hans Max von Aufseß allerdings seine schon skizzierte Rolle als anerkanntes Mitglied der westdeutschen Gesellschaft und landesweit bekannter Heimatschriftsteller einnehmen kann, muss er, wie jedes ehemalige NSDAP-Mitglied und trotz seiner schon im Kriegsgefangenenlager hinlänglich nachgewiesenen politischen Wandlung, im Rahmen der ›Entnazifizierung‹ von Mai bis November 1947 ein Spruchkammerverfahren durchlaufen. Sein Verfahren findet vor der Spruchkammer Naila in der amerikanischen Besatzungszone statt. Aufgrund der Aktenlage wird von Aufseß als ›Minderbelasteter‹ angeklagt.146 Wie Millionen anderen ehemaligen Parteimitgliedern auch gelingt es von Aufseß jedoch mit Hilfe sogenannter ›Persilscheine‹ – eidesstattlicher Erklärungen von Freunden und Kollegen über die Unbedenklichkeit des Angeklagten –, als ›Entlasteter‹ eingestuft zu werden. Die Begründung des Urteils folgt vollständig den Aussagen der Zeugen und des Freiherrn, der als Jurist seine Verteidigungsschrift selbst erstellt.147 Darüber, dass ›Persilscheine‹ zum gegenseitigen Nutzen der Beteiligten ausgestellt wurden und man in ihnen nur selten die reine Wahrheit finden kann, herrscht in der historischen Forschung heute Konsens.148 Das bedeutet keineswegs, dass von Aufseß zu Unrecht freigesprochen wurde, aber eine vollständige Entlastung nach heutigen juristischen Maßstäben ist das Urteil der Spruchkammer auch nicht. So sind deren Mitglieder nicht immer juristisch vorgebildet und vor allem sind sie in hohem Maße auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der Aussagen der Angeklagten und ihrer Zeugen angewiesen. Viele Behauptungen lassen sich in den Wirren der Zeit nach Kriegsende nicht überprüfen. Seine Tätigkeit bei der Spionageabwehr in Paris z. B. verschweigt von Aufseß und es liegen keine Dokumente vor, die dieses Verschweigen genauer erklären könnten. Wie glaubhaft die Aussagen des Freiherrn über seinen Parteieintritt sind, die er in der Verteidigungsschrift vom 5. Mai 1947 anführt, können die Mitglieder der Spruchkammer schlichtweg nicht überprüfen. Es ähnelt allerdings zahllosen vergleichbaren Erklärungen anderer ehemaliger ›Parteigenossen‹. Betrachtet man die private wie berufliche Situation des Freiherrn im Jahr 1933, sind seine Ausführungen zumindest nicht unplausibel: »Im Frühjahr 1933 habe ich das grosse juristische Staatsexamen gemacht und mich zu gleicher Zeit verlobt. Ich stand also gerade vor dem Aufbau meiner Existenz. Um Politik hatte ich mich bis dahin (…) nicht gekümmert. Ich wurde daher von der Entwicklung überrumpelt. Ich liess mich daher mit mehreren anderen Kameraden zusammen von einem Herrn des Prüfungsausschusses überzeugen, dass wir als zukünftige Staatsbeamte (…), die Pflicht hätten, in die Partei einzutreten. (…) Meine Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus beruhte damals weder auf eigenem Urteil noch auf Kenntnis des Ideengutes (…). Mit den Millionen anderen im In- und Ausland erlag ich einer gewissen initialen Verführung teils durch die geschickte damals noch nicht durchschaute propagandistische Aufmachung, teils durch den allgemeinen Überdruss an dem unerfreulichen Parteigehader.«149 Sein Schuldeingeständnis am Ende der Verteidigungsschrift wirkt allerdings vor dem Hintergrund seiner Mitarbeit bei der ›Politischen Arbeitsgemeinschaft‹ im Lager aufrichtig: »Ich empfinde es heute als Schuld, nicht dass ich zur Partei eingetreten bin, denn damit wollte ich nichts Schlechtes fördern. Meine Schuld sehe ich vielmehr darin, dass ich mich früher nicht um Politik gekümmert habe und damit mitgeholfen habe, das Feld den Verantwortungslosen zu räumen.«150


Das Ehepaar Aufseß in den 50er-Jahren.

Die Äußerungen der Zeugen schildern von Aufseß übereinstimmend als Gegner des Nationalsozialismus, der nach bestem Gewissen und im Rahmen seiner Mittel versucht hat, das Schicksal der Inselbewohner günstig zu gestalten. Es kann nicht erstaunen, dass weder die Zwangsarbeit noch die Deportationen oder das Schicksal der jüdischen Bevölkerung thematisiert werden. Manche Behauptungen sind sicherlich zutreffend, andere vor dem Hintergrund des schon Gesagten aber auch unaufrichtig oder beschönigend. Angesichts der deutlichen antisemitischen Tendenzen in seinen Tagebüchern ist z. B. das Zeugnis, das der Notar Albert Bauer aus Hof (Saale) von Aufseß ausstellt, eher unglaubwürdig: »Betonen möchte ich, daß Herr von Aufseß den Kampf gegen die Kirche und das Judentum stets scharf abgelehnt hat.«151 Von Aufseß hat den Nationalsozialismus nach anfänglicher Zustimmung vor allem habituell aus adeliger Perspektive und in gewisser Weise ästhetisch abgelehnt. Eine durchdachte politische Überzeugung, die eine wirkliche Ablehnung des Nationalsozialismus hätte begründen können, ist in seinen Vorträgen und Tagebuchnotizen nicht zu erkennen. Vielmehr hat von Aufseß im Krieg zumindest einige der Ziele des Nationalsozialismus geteilt und auch prinzipiell keine Einwände gegen die Besetzung und Ausbeutung der Insel erhoben. Seine Redemanuskripte aus der Inselzeit zeigen das deutlich. Wenn von Aufseß in seinen Vorträgen und Briefen noch 1944 vom ›neuen Europa‹ spricht, ist damit ein Europa unter deutscher Führung gemeint. An der nationalsozialistischen Ideologie mag ihn alles Brutale und Vulgäre abgestoßen haben. Die Ablehnung von Demokratie und Liberalismus hingegen teilte er mit dem Nationalsozialismus ebenso wie den gesteigerten Nationalismus. Wenn daher ein Rechtsanwalt Dr. Walter Pätzel von Aufseß in seiner eidesstattlichen Erklärung zum »Feind des nationalsozialistischen Hitlerregimes«152 erklärt, ist das eine typische, so vielfach wiederholte ›Persilschein‹-Gefälligkeit. Derartig unglaubwürdige Erklärungen sind der Grund dafür, dass das Verfahren der Entnazifizierung heute im Ganzen als gescheitert betrachtet wird. Vielleicht kann die Aussage von Brunhilde Krauss, Angestellte im Rechtsanwaltsbüro des Freiherrn, als die aufrichtigste betrachtet werden. Sie schildert Hans Max von Aufseß so, wie er dem Leser auch an vielen Stellen in den Tagebüchern begegnet: »Herr v. Aufsess war vorwiegend künstlerisch tätig und unpolitisch eingestellt und trat seinem Wesen nach überall für Mässigung und Ausgleich ein.«153 An seinem für die britische Inselbevölkerung in gewissem Rahmen mäßigenden Einfluss kann insgesamt trotz seiner begrenzten Kompetenzen kein Zweifel bestehen. Dass seine Ablehnung des Nationalsozialismus aber eher unpolitischen Überlegungen und keinen tatsächlichen demokratischen oder humanitären Prinzipien folgte, ist ebenso gewiss. An keiner Stelle äußert er Abscheu über die Behandlung der Zwangsarbeiter oder die Deportationen der jüdischen Inselbevölkerung. Joe Mière kommt aufgrund seiner persönlichen Erfahrung zu einem harten Urteil über von Aufseß, den er für einen typischen ›Wendehals‹ hält. Er vergleicht die Tagebücher des Freiherrn und reiht sie in die zahlreichen weiteren apologetischen Schriften ehemaliger Wehrmachtsoffiziere ein: »You read their diaries and memories since the war end and they write as if they were on our side and against Hitler. Well, if that is the case, who the hell were our people fighting against? Give me every time a German who states that he was in those days a Nazi.«154 Bei aller Kritik an von Aufseß muss aber auch festgestellt werden, dass er im Verfahren vor der Spruchkammer seine NSDAP-Mitgliedschaft immerhin nicht leugnet, sondern sie als Fehler eingesteht. Mières Urteil wirkt daher sehr harsch.

Dass die Familie von Aufseß sich aber zu Unrecht durch das Verfahren verfolgt fühlt, zeigt ein unveröffentlichter Essay Marilies’ von Aufseß zum Thema. Unter der Frage ›Wo bleibt die Gnade?‹ schreibt die Freifrau: »Es ist selbstverständlich, dass alle wirklich Schuldigen strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen werden (…). Es bedeutet aber eine grosse Gefahr, die Ueberzahl der kritiklos einem Wahn Verfallenen ihrer Existenzgrundlage zu berauben und sie verletzend aus der Gemeinschaft auszuschliessen. (…) Das Fragebogen- und Massenverfolgungssystem übersieht, dass sich die menschliche Entwicklung nicht in den Daten eines Fragebogens rubrizieren lässt, weil sie sich auf Grund persönlicher Erlebnisse und Einsichten bildet und wandelt. Sie verkennt vor allem das lautere und reine Evangelium Christi, das nicht rechnet und rechtet, sondern an die Stelle der Verfolgung die Gnade setzt. (…) Ich möchte mir wünschen, dass an Stelle der Fragebogen und der ›Reinigung‹ mehr die Worte Einsicht und Gnade kämen.«155

Den alten Freiherrn von Aufseß schildert eine ironisch-freche Reportage der ebenfalls blaublütigen Journalistin Charlotte von Saurma über den fränkischen Adel: »›Angst vor der Berührung mit dem gemeinen Volk, Herr Baron?‹ ›Da haben sie schon gestanden und gebrüllt: Enteignen sollte man Euch!‹ Ach nein, nur schlicht rechts denkt der 80jährige Baron Aufseß nicht. Aufrechten Ganges kommt er das Tor öffnen, hellwach bis in die wasserblauen Augen. Alles ist groß an ihm, Kopf, Körper, Bildung, seine Vorfahren sollen gut zugeschlagen haben. Sie dienen ihm noch immer als Chefideologen seiner Alltagsphilosophie. Jenem Leben nach mâze [kursiv im Original], mittelhochdeutsch für Maß. Also gibt’s zum Empfang nur den zweitbesten Cognac (…). Seit seiner Pensionierung lebt Hans Max von Aufseß gut von seinen Essays und Büchern, der schriftgelehrte Rittersmann hält Lesungen, Festreden. In altmodischer Lust am Umgang mit Sprache plaudert er daher, was sein Fundus an Wirtschafts-, Sozial-, Regional- und Familiengeschichte hergibt. (…) Adelige sind Hobby-Historiker, und jedes Weltgeschehen ist immer nur ein Familienhistörchen.«156 Als charakteristisch kann die Reaktion des in seiner Eitelkeit gekränkten Freiherrn auf diese etwas respektlose Schilderung bezeichnet werden. Wie schon bei der Ablehnung seiner Fibel Jahrzehnte zuvor, zögert er nicht, seine vielfältigen Beziehungen spielen zu lassen. Die vorlaute Journalistin wird anschließend gerügt.157

Hans Max von Aufseß stirbt drei Jahre nach seiner Frau Marilies am 22. November 1993 im Alter von 87 Jahren. Er hinterlässt eine kaum überschaubare Zahl an Publikationen. Heute würdigt ihn eine ›Hans-Max-von-Aufseß-Kammer‹ im Fränkische-Schweiz-Museum Tüchersfeld. Charakteristisch für die Bedeutung des Freiherrn nach 1945 und seine lange Zeit ausschließlich unkritische Rezeption ist ein Beitrag zu seinem 80. Geburtstag in der Süddeutschen Zeitung. Dort heißt es bewundernd im Titel nur: »Eine Stimme Frankens«.158

Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln

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