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Die deutsche Okkupation der Kanalinseln

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Am 4. Juni 1940, wenige Wochen nach seinem Amtsantritt und kurz nach der gefährlichen Evakuierung der ›British Expeditionary Forces‹ aus Dünkirchen, formuliert der Premierminister Winston Churchill berühmte Worte, die den Widerstandswillen seiner Bevölkerung stärken sollen: »Wir werden kämpfen bis zum Ende. Wir werden in Frankreich kämpfen, wir werden auf den Meeren und Ozeanen kämpfen (…). Wir werden auf den Stränden kämpfen, wir werden an den Landungsabschnitten kämpfen, wir werden auf den Straßen kämpfen, wir werden in den Bergen kämpfen (…).«29 John Nettles fügt in seinem Buch mit trocken-britischer Ironie hinzu: »(…) außer auf den Kanalinseln«.30 In der Tat sind die Kanalinseln Churchill und den britischen Militärführern 1940 zunächst keinen Schuss wert. Der Großteil der eigenen Truppen konnte unter legendären Umständen gerettet werden – wovon mit ›Dunkirk‹ (2017) einer der eindrucksvollsten und innovativsten Kriegsfilme der jüngeren Filmgeschichte erzählt –, und Großbritannien steht im Sommer 1940 nach dem Zusammenbruch Frankreichs allein im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht. Die westlich der Normandie gelegenen, strategisch bedeutungslosen Kanalinseln werden ihrem Schicksal überlassen. Doch bei der Evakuierung weiterer britischer Truppen, die bei St. Malo, in der nördlichen Bretagne, von der Wehrmacht eingeschlossen sind, müssen die Bewohner der Kanalinseln trotzdem zuvor helfen. Am 16. und 17. Juni werden die britischen Truppen mit Hilfe eilig auf den Inseln organisierter Fischkutter und Jachten nach dem Vorbild von Dünkirchen aus St. Malo evakuiert und auf größeren Schiffen Richtung Südengland gebracht. Am 19. Juni werden die Kanalinseln entmilitarisiert und die letzten dort zur eventuellen Verteidigung verbliebenen Soldaten ebenfalls nach England verschifft. Die lokale Miliz wird aufgelöst. Die Kanalinseln sind damit seit dem 20. Juni 1940 wehrlos. Allerdings informieren die Briten die deutschen Aggressoren nicht von diesem Zustand. Aus welchen Gründen eine lebensrettende Information der deutschen Behörden unterbleibt, ist bis heute ungeklärt. In den Folgetagen fliehen Zehntausende Inselbewohner in Panik nach England.31 Die Insel Alderney wird bis auf 19 Einwohner entvölkert, von Guernsey fliehen 17 000 der 42 000 Einwohner, von Jersey 6600 Einwohner.32 Wehrfähige junge Männer verlassen fast komplett die Inseln. Am 28. Juni greifen deutsche Flieger mit Heinkel He 111-Mittelstreckenbombern die Häfen von Jersey, St. Helier, und Guernsey, St. Peter Port, an. Bei diesem Angriff der Deutschen, die davon ausgehen, dass die Inseln verteidigt würden, sterben 44 Menschen, viele werden verwundet.33 Die Angriffe treffen Guernsey mit 33 Toten stärker als Jersey. Nettles schildert die Dramatik des Tages mit Augenzeugenberichten. Auf Guernsey werden Fahrer von mit Tomaten beladenen Lastwagen angegriffen: »Sie warfen sich unter ihre Fahrzeuge, in der Hoffnung, sich so vor dem deutschen Terror zu retten. Aber natürlich boten diese minderwertig konstruierten, größtenteils aus Holz bestehenden Lastwagen keinerlei Schutz. Ein Bombenhagel ging nieder. Mörderischer Beschuss folgte. Die vollen Tanks explodierten. Die Männer starben auf grausame Weise, ihr Blut mischte sich mit dem Saft der Tomaten, der über den Hafendamm rann und Pfützen bildete.«34 McLoughlin lässt einen Krankenhausarzt auf Jersey berichten: »(…) und ging durch das Krankenhaus zur Notaufnahme. Als ich dort ankam, wurde gerade der erste Verwundete eingeliefert. In seiner Brust klaffte ein großes Loch, und er starb schon wenige Augenblicke später. Fünfzig Prozent der Verwundeten, die im Krankenhaus starben, wurden durch Bomben getötet. Die andere Hälfte fiel Maschinengewehrkugeln zum Opfer.«35 Nach den Bombenangriffen besetzen die Deutschen schließlich Ende Juni/Anfang Juli 1940 die Kanalinseln. Am 9. August wird in St. Helier auf Jersey die Feldkommandantur 515 eingerichtet, die dem Militärbefehlshaber in Frankreich – erst General Otto von Stülpnagel, ab 1942 dessen entferntem Verwandten General Carl-Heinrich von Stülpnagel – unterstellt ist. Guernsey erhält eine Nebenstelle der Feldkommandantur. Diese ist eine militärische Einrichtung, hat aber vor allem die Funktion der deutschen Zivilverwaltung für die gesamten Inseln. Sie ist zuständig für die Feldpolizei, Propaganda, Zensur, Arbeitsverwaltung, medizinische und tierärztliche Versorgung, Lebensmittel-, Strom- wie Treibstoffversorgung auf den Inseln. Passkontrolle, Landwirtschaft, Textilproduktion und Viehzucht werden ebenfalls von ihr kontrolliert und koordiniert. Für jede Aufgabe gibt es eigene Abteilungen mit eigenen Sachbearbeitern, die wiederum alle dem Leiter der Zivilverwaltung innerhalb der Feldkommandantur unterstellt sind. Die Feldkommandantur 515 ist die Schnittstelle zwischen deutschem Militär und den britischen Behörden auf den Inseln. Sie ist direkt an die Befehle aus Paris und indirekt des ›Oberkommandos der Wehrmacht‹ gebunden und nur in begrenztem Rahmen zu eigenständigen Entscheidungen befähigt. Eine reine Konzentration auf zivile Angelegenheiten ist in einer solchen Konstruktion allerdings grundsätzlich eine Fiktion, da die militärischen Bedürfnisse, z. B. Bau und Unterhalt von Straßen, Beschaffung von Treibstoffen, häufig nur mit Hilfe der zivilen Besatzungsstellen durchgeführt werden können. Auf jeden Fall ist die Feldkommandantur Bestandteil der Umsetzung eines Angriffskrieges und der verbrecherischen nationalsozialistischen Ideologie. Ihre Mitarbeiter tragen zwar Uniform, sind aber mehrheitlich keine Berufsmilitärs, sondern einberufene Zivilisten mit bürgerlichen Berufen. Es ist davon auszugehen, dass auf diesem für die nationalsozialistische Führung in Berlin sehr prestigeträchtigen, kleinen britannischen Besatzungsteil nur Personen zur Verwaltung herangezogen werden, die im Sinne von Staat und Partei als zuverlässig gelten bzw. von denen zumindest kein Widerstand zu erwarten ist.

An der Spitze der Feldkommandantur steht zunächst mit Oberst Friedrich Schumacher als Inselkommandant ein gelernter Soldat. Auch Schumachers Nachfolger sind Militärs. Schumacher wird 1941 von Oberst Friedrich Knackfuß36, dieser 1944 von Major Dr. Wilhelm Heider, dann als Platzkommandant der verkleinerten Feldkommandantur, abgelöst. Die Außenstelle der Feldkommandantur leitet bis 1943 Eugen Fürst zu Oettingen-Wallerstein, dem Dr. Jacob Kratzer nachfolgt.37 Militärischer Ansprechpartner für die Feldkommandantur ist Oberst Rudolf Graf von Schmettow, der Befehlshaber auf den Inseln und damit ranghöchster Wehrmachtsoffizier ist. Schmettow wird 1942 zum Generalmajor befördert. Gegen Kriegsende wird von Schmettow, mittlerweile Generalleutnant, abgelöst und durch Vizeadmiral Friedrich Hüffmeier ersetzt. Leiter der zivilen Verwaltungsgruppe der Feldkommandantur wird zunächst Oberkriegsverwaltungsrat Dr. Gottfried Stein von Kaminski, ihm folgt im August 1941 der schon erwähnte Oberkriegsverwaltungsrat Dr. Casper.38 Auf britischer Seite sind die jeweiligen Insel-Bailiffs – für Jersey Alexander Moncrieff Coutanche, für Guernsey Victor Carey – die wichtigen Gesprächspartner. Für Guernsey sind noch die Vorsitzenden des dortigen sogenannten »Kontrollrats«, des ›States Controlling Committees‹, Ansprechpartner. Das ist zunächst Ambrose Sherwill und nach dessen Deportation John Leale. Coutanche ist auf Jersey ebenfalls noch Vorsitzender des ›Supreme Courts‹. Bedeutsam ist weiterhin noch die Rolle von Charles Duret Aubin, des Generalstaatsanwalts auf Jersey, auf dessen Mithilfe bei der Durchsetzung ihrer Verordnungen die deutschen Invasoren angewiesen sind. Auf Alderney gibt es für die Feldkommandantur 515 keine direkten britischen Ansprechpartner, befindet sich die entvölkerte Insel doch komplett in der Hand von Wehrmacht und SS. Die Interessen von Sark hingegen vertritt die selbstbewusste Lady Sibyl Hathaway, die ›Dame of Sark‹, die gern deutsche Offiziere auf ihrem Anwesen empfängt und mit ihnen geistvolle Gespräche führt. Sark und Alderney gehören zum Verwaltungsbereich von Guernsey und liegen so auch noch im Einflussbereich Victor Careys und der Vorsitzenden des dortigen Kontrollrats.

Rasch machen sich die Mitarbeiter an die Errichtung eines deutschen Besatzungsregimes. Vermutlich auf Anordnung Hitlers, der auf britischem Gebiet eine Art zivilisiertes ›Vorzeigebesatzungsregime‹ einrichten möchte39, verhalten sich die Deutschen gegenüber den Inselbewohnern zunächst so zurückhaltend wie möglich. Allerdings gilt dies nicht für die kleine Gruppe jüdischer Inselbewohner, mit deren Verfolgung die Feldkommandantur schon im Herbst 1940 beginnt. Im Oktober werden die ersten Verordnungen gegen die jüdischen Einwohner erlassen. Die englischen Inselbehörden rufen die jüdischen Mitbürger auf, sich registrieren zu lassen. Die Inselparlamente von Jersey und Guernsey bestätigen im November die antisemitischen Maßnahmen.40 Die Inselbewohner müssen im November ihre Funk- und Radiogeräte abgeben. Außerdem müssen sich die Bewohner registrieren lassen. Die dabei entstandenen ›Occupation Registration Cards‹ sind überliefert und bis heute eine wichtige Quelle zur Erforschung der Besatzungszeit.

Die Deutschen reagieren mit den Registrierungen auf ein gescheitertes britisches Kommandounternehmen, in dessen Verlauf einige englische Soldaten als Spione auf den Inseln landen wollten. Widerstand gegen die Verordnung bestrafen die Deutschen mit Haft und im schlimmsten Fall mit Deportation ins ›Reich‹.41 Die ›Geheime Feldpolizei‹ durchsucht die Inseln nach oppositioneller Literatur und beweist auch in diesem Detail, dass die Besetzung der Inseln keine skurrile Posse der Weltgeschichte, sondern durchaus Akt nationalsozialistischer Gewalt und Unterdrückung ist.

Im Verlauf des Jahres 1941 werden weitere Zwangsmaßnahmen durchgesetzt. Die britische Inselverwaltung hilft bei der Verfolgung des jüdischen Bevölkerungsteils, indem sie den Deutschen Namenslisten jüdischer oder auch vermeintlich jüdischer Mitbürger vorlegt. Mit Übereifer werden auch strittige Fälle, bei denen sich die Inselbehörden über den Status der Betreffenden unsicher sind, übermittelt – eine Form der Kollaboration oder Kooperation42, wie sie ähnlich auch im besetzten Frankreich und im von der Vichy-Regierung kontrollierten unbesetzten Frankreich zu beobachten ist. Die wenigen jüdischen Geschäfte werden nach dem bereits im ›Deutschen Reich‹ seit 1933 erprobten Muster ›arisiert‹, also zu einem lediglich symbolischen Preis an nichtjüdische Käufer veräußert.43 Dass die englischen Inselbehörden nicht mehr oder weniger antisemitisch waren als der britische Bevölkerungsdurchschnitt, darf angenommen werden. Zumindest kann ihnen kein besonderes Interesse nachgewiesen werden, ihren jüdischen Inselbewohnern gegen die deutschen Repressionen zu helfen. Selbst vergleichsweise zaghafte Formen des Widerstands werden durch die Inselbehörden unterdrückt. Als Unbekannte auf Guernsey Churchills berühmtes ›V‹ für ›Victory‹ auf Gebäude malen, lobt Bailiff Carey 25 Pfund für die Ergreifung der Täter aus.44

Das britische Narrativ vom heroischen Kampf gegen ›Nazideutschland‹ will auf die Zeit der Inselbesatzung nicht recht passen, wie auch Madeleine Bunting feststellt: »What has always made the Channel Islands’ record so important is that it punctures that British complacent assumption of a national immunity to this combination of amoral bureaucracy and anti-semitism.«45

Im September 1941 verlangt der ›Führer‹ Adolf Hitler die Deportation von Inselbewohnern, allerdings unterbleiben die Deportationen aus ungeklärten Gründen zunächst. Ob hier die Feldkommandantur oder die britischen Behörden den Befehl hintertrieben haben, wie später immer wieder behauptet wurde, bleibt unklar. Eventuell hat auch ein Brand im Führerhauptquartier die Weitergabe des Befehls verhindert.46 Ab November 1941 arbeiten dann 16 00047 Zwangsarbeiter der ›Organisation Todt‹, viele davon aus Russland, aber auch Franzosen, Spanier, Nordafrikaner, unter menschenunwürdigen Bedingungen am Bau von Festungsanlagen, mit denen Hitler die ganze französische Westküste zubetonieren lassen möchte. Die Betonburgen und ihre Geschütze sollen die Inseln in uneinnehmbare Festungen verwandeln.


Therese Steiner, Opfer der antijüdischen Maßnahmen. Sie wird ebenso wie Marianne Grünfeld und Auguste Spitz deportiert und stirbt im Vernichtungslager Auschwitz.

Im Jahr 1942 befinden sich 35 000 Deutsche auf den Inseln, womit auf zwei Inselbewohner ein deutscher Wehrmachtsangehöriger kommt.48 Kinos, Buchhandlungen mit NS-Propaganda, Bordelle, Theateraufführungen und eine deutschsprachige Inselzeitung dienen zur Zerstreuung für die kaum beschäftigten Landser. Für viele Deutsche erscheint der Aufenthalt auf Jersey und Guernsey weniger Krieg als vielmehr Urlaub zu sein.

Anders sieht es dagegen auf Alderney und auf den Festungsbaustellen aus. Die SS richtet auf Alderney mehrere Konzentrationslager ein, denen sie zynischerweise die Namen der deutschen Ferieninseln Norderney, Helgoland, Borkum und Sylt gibt. In diesen Lagern werden Zwangsarbeiter, Oppositionelle und Juden gefangen gehalten und misshandelt. Bei unzureichender Ernährung müssen die Gefangenen 12 Stunden am Tag an den Festungsbauten arbeiten. Die SS-Wachmannschaften prügeln wahllos Insassen zu Tode. Gefangene, die an Tuberkulose erkranken, werden erschossen. Viele Lagerinsassen sterben an Unterernährung und Auszehrung.49

Hans Max Freiherr von Aufseß ist als Kriegsverwaltungsrat seit Januar 1942 Stellvertreter Caspers in der Feldkommandantur 515. Im September des Jahres werden doch noch die ersten Inselbewohner in die deutschen Internierungslager Biberach, Laufen, Dorsten und Wurzach deportiert.50 Die Behandlung in den deutschen Lagern, welche die britischen Deportierten erfahren, ist allerdings wesentlich rücksichtsvoller als jene, wie sie die von der NS-Propaganda als ›slawische Untermenschen‹ bezeichneten russischen Kriegsgefangenen oder gar Juden erleiden müssen. In der kruden nationalsozialistischen Ideologie sind die britischen Gefangenen zwar Feinde, aber zumindest ›rassisch‹ nicht ›minderwertig‹. Dennoch sterben knapp 50 Inselbewohner in den deutschen Lagern.51 Weitere Deportationen folgen im Dezember 1942. Am 21. April 1942 werden die drei jüdischen Ausländerinnen Auguste Spitz, Marianne Grünfeld und Therese Steiner – Grünfeld ist Polin, Spitz und Steiner stammen aus Österreich – deportiert. Sie sterben später im Vernichtungslager Auschwitz.52


Marianne Grünfeld

Im Jahr 1943 verschärfen sich die deutschen Zwangsmaßnahmen. Bei einem Schiffsunglück im Januar lassen zahlreiche Zwangsarbeiter, die ins französische Cherbourg gebracht werden sollen, ihr Leben. Weitere Inselbewohner werden deportiert. Insgesamt werden während der gesamten Besatzung Hunderte britischer Staatsbürger verschleppt.53 Bürger, die noch immer eigene Radiogeräte besitzen, werden verhaftet und zu Haftstrafen verurteilt. Unter der britischen Bevölkerung wächst der Ärger über die Besetzung. Im November werden auf Guernsey englische Matrosen bestattet, die bei einem erfolglosen Angriff auf einen deutschen Konvoi durch U-Boot-Torpedos ums Leben gekommen sind. Dabei versammeln sich 5000 Inselbewohner und verwandeln die Beerdigung in eine Demonstration des Protestes.54 Vereinzelte Protestaktionen, z. B. wirft eine Frau Pferdemist auf deutsche Armeeangehörige, werden mit Haftstrafen verfolgt. Von einem kämpferischen Widerstand gegen die deutsche Besetzung, wie ihn die Partisanen Titos in Jugoslawien oder die Résistance in Frankreich leisten, kann allerdings für die Kanalinseln zu keinem Zeitpunkt der Jahre 1940 bis 1945 gesprochen werden. Die jungen Männer, die einen solchen Widerstand hätten tragen können, sind 1940 überwiegend geflohen und kämpfen nun an den Fronten des Krieges, die älteren Einwohner arrangieren sich und versuchen, die Besetzung ›auszusitzen‹. Zwar werden vereinzelt Sabotageakte verübt, z. B. Einbrüche in Geschützstellungen, und besonders mutige Inselbewohner verstecken geflüchtete Zwangsarbeiter und Juden, doch wie in jeder vergleichbaren Situation sind auch auf den Kanalinseln die ›Helden‹ in der Minderheit.55 Die wohl häufigste Form von Widerstand ist das Hören von sogenannten ›Feindsendern‹, also BBC. Die Suche nach Radios beschäftigt die deutschen Besatzer daher die ganzen Jahre der Okkupation.

Einen vollkommenen Gegensatz zu Widerstandsaktionen stellen die zahlreichen Liebesbeziehungen zwischen deutschen Männern und Inselbewohnerinnen dar.56 Vielen jungen Frauen auf den Inseln fehlen mögliche britische Partner.57 Sexuelle Not, Abenteuerlust, ein Überangebot an attraktiven, wenig beschäftigten jungen Männern in Uniform58, in denen viele nicht den Feind, sondern einen Menschen sehen, führen zu intimen Verhältnissen, von denen auch Freiherr von Aufseß in seinen Tagebüchern ausführlich berichtet. Manche Frauen werden aber auch aus purer Not und aus Überlebenswillen Beziehungen zu deutschen Landsern eingegangen sein. Aus dieser Art von Liebesverhältnissen oder, wie Sanders formuliert, »horizontal collaboration«59 gehen ca. 470 uneheliche Kinder hervor.60 Die meisten Menschen hoffen aber einfach nur auf ein baldiges Kriegsende, werden in dieser Hoffnung jedoch enttäuscht. Frauen, die sich mit Deutschen einlassen, werden von den Inselbewohnern verächtlich als ›Jerrybags‹61 bezeichnet.

Im Juli 1943 sinkt ein Schiff, das Sklavenarbeiter und französische Prostituierte auf die Inseln bringen soll, wobei erneut 250 Menschen sterben. Freiherr von Aufseß wird im November als Nachfolger von Wilhelm Casper Leiter der Zivilverwaltung in der Feldkommandantur 515. Casper wechselt in das Besatzungsregime nach Dänemark, wo er in den Stab des ›Reichsbevollmächtigten‹ und Kriegsverbrechers Werner Best eintritt.62

1944 ist das Jahr einer rasanten Verschärfung der Umstände. Die Inseln werden zu ›Festungen‹ erklärt, die im Falle englischer Angriffe entschlossen zu verteidigen sind. Von englischer Seite werden zunehmend erfolgreich deutsche Konvois, die Lebensmittel und Treibstoff zu den Inseln bringen sollen, angegriffen. Durch diese Attacken verschärfen sich die Lebensbedingungen der Inselbewohner. Die Feldkommandantur wird verkleinert und in ›Platzkommandantur‹ umbenannt. Ihre kampffähigen Mitarbeiter werden zur Wehrmacht eingezogen. Nach der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944 kommt es keineswegs zu einem von den deutschen Militärs erwarteten Angriff auf die Inseln. Die Channel Islands werden einfach ›links liegen gelassen‹ und stattdessen ausgehungert. Zu diesem Zeitpunkt sitzen 26 000 deutsche Soldaten untätig auf den Inseln herum, benötigen aber wie die Inselbewohner Nahrung, Medikamente, Treibstoff.63 Nach der Eroberung der normannischen Häfen durch die Alliierten bricht der Versorgungsnachschub für die Inseln völlig zusammen. Deutsche Soldaten, die in den Kämpfen in der Normandie verwundet wurden und auf die Inseln gebracht werden konnten, finden in den dortigen Lazaretten keine angemessene Versorgung mehr.


Hans Max Freiherr von Aufseß

In der allmählich unhaltbar werdenden Lage informieren die Deutschen im September 1944 das Rote Kreuz der neutralen Schweiz über das absehbare Ende der Nahrungsvorräte. Viele Inselbewohner hungern bereits. Die Deutschen bieten die Evakuierung der Zivilbevölkerung an, wären aber auch mit der Hilfe des Roten Kreuzes einverstanden. Premierminister Churchill lehnt beide Vorschläge zunächst ab. In sicherer Erwartung der abweisenden deutschen Antwort verlangt er stattdessen die Kapitulation der Besatzer. Gas- und Stromleitungen zu den Inseln werden von den Alliierten gekappt. Die Deutschen beginnen nun unter der Zivilbevölkerung nach verbliebenen Nahrungsmitteln zu suchen und gefundene Nahrung einzuziehen, um die eigenen Soldaten ernähren zu können. Dieser Bruch des Völkerrechts erzürnt die zunehmend verzweifelten Insulaner. Deutschen Landsern wird Zwangsruhe verordnet, um Kalorien zu sparen. Die Truppe ist kaum noch kampffähig. Im November erlaubt das britische Kriegskabinett doch noch Hilfslieferungen durch das Rote Kreuz. Das schwedische Rot-Kreuz-Schiff ›Vega‹ erreicht allerdings erst im Dezember 1944 die Inseln. Im Februar und März 1945 bringt die ›Vega‹ noch einmal dringend benötigte Nahrungsmittel auf die Inseln.64 Einerseits bleibt die Mehrheit der Menschen auf den Inseln, Briten wie Deutsche, von Krieg und Tod verschont – anders als Millionen Europäer auf dem Festland während des erfolgreichen Vorstoßes der Alliierten auf das ›Deutsche Reich‹ –, andererseits müssen die Menschen hungern und große Ungewissheiten ertragen.

Oberst von Schmettow wird im Januar 1945 durch den überzeugten Nationalsozialisten und kampfwilligen Admiral Friedrich Hüffmeier abgelöst. Dieser hält markige Durchhaltereden und unternimmt am 8. und 9. März 1945 einen erfolg- wie verlustreichen Angriff auf die Hafenstadt Granville, die am Westufer der normannischen Halbinsel Cotentin liegt. Es gelingt den Deutschen, Kohle zu erbeuten und einige Amerikaner gefangen zu nehmen. Am 9. Mai kapitulieren die Deutschen aber schließlich trotzdem kampflos. Selbst Hüffmeier muss einsehen, dass seine Truppe keinen Widerstand mehr leisten kann und ein Gemetzel nach dem Selbstmord des ›geliebten Führers‹ und der einen Tag zuvor erfolgten Kapitulation der Wehrmacht ebenso lächerlich wie tragisch wäre. Nach fünf Jahren endet die Zeit der deutschen Besatzung auf den Kanalinseln nicht in einem dramatischen Finale, sondern in einer banalen Übergabe auf einem englischen Kriegsschiff. Die deutschen Besatzer gehen in Kriegsgefangenschaft, während gleichzeitig englische Truppen die Inseln wieder in Besitz nehmen.

Das Verhalten der Inselbewohner während der fünfjährigen Okkupation ist ein heute umstrittenes Thema in der britischen Öffentlichkeit. Unmittelbar nach dem Krieg wird über die Kollaboration oder zumindest Kooperation vieler Insulaner, wie sie auch die Tagebücher des Freiherrn von Aufseß deutlich dokumentieren, zunächst lange Zeit der Mantel eines gnädigen Schweigens gebreitet. Frauen allerdings, die sich mit Deutschen ›eingelassen‹ haben, werden von vielen Insulanern, vor allem von jenen, die den Krieg in England verbracht haben, geächtet.65 Auch dieses Muster ist mit den Vorgängen in Frankreich vergleichbar. Dort werden Frauen nach der Befreiung stellvertretend für den Abgrund an Kollaboration, dessen sich große Teile der französischen Gesellschaft schuldig gemacht haben, gedemütigt und geschlagen.66 Auch die Kinder aus diesen Verhältnissen werden ausgegrenzt. Männer wie Carey oder Coutanche aber, deren Verhalten mindestens diskussionswürdig war, können nach 1945 als geachtete Mitglieder der Inselgemeinschaft weiterleben.

Auf den Kanalinseln gibt es keine Massenerschießungen von Geiseln, und selbst die Repressalien sind im Vergleich zu den Menschheitsverbrechen von SS und Wehrmacht in anderen Teilen Europas weniger dramatisch, dabei aber keineswegs harmlos. Auch auf den britischen Kanalinseln werden zwischen 1940 und 1945 Juden verfolgt, Einwohner deportiert und sterben Hunderte Zwangsarbeiter67. Die Deutschen verwickeln biedere und mit der Situation überforderte Beamte, aber auch viele Inselbewohner in einen Zwiespalt zwischen Widerstand und Überlebenswillen, der manche, aber keineswegs alle Insulaner in die Grauzonen von Kollaboration und Kooperation führt. Der Mikrokosmos der deutschen Okkupation der Channel Islands im großen Makrokosmos des Zweiten Weltkriegs verdient es, auch in Deutschland, im Land der Täter und ihrer Nachfahren, genauer betrachtet zu werden. Es gibt dabei vielleicht aus englischer, ganz gewiss aber aus deutscher Sicht keinen Grund, sich die Jahre 1940 bis 1945 auf Jersey, Guernsey, Sark und Alderney ›schönzureden‹.

Tagebuch aus der Okkupationszeit der britischen Kanalinseln

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