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2.1.2 Theorien, Hypothesen, Modelle, Begriffe

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Wie unterscheiden sich Theorien von Hypothesen oder Modellen? Und warum sind „Begriffe“ so wichtig in der Wissenschaft?

Begriffe

Beginnen wir mit den Begriffen, da sowohl Theorien als auch Hypothesen und Modelle in der Regel mit ihnen operieren und auf ihnen basieren. Begriffe sind daher gleichsam die kleinste Einheit wissenschaftlichen Arbeitens. Aussagen in der Wissenschaft hängen in ganz entscheidendem Maße von der Art und Weise der Begriffsbildung ab. Denken Sie beispielsweise an einen intuitiv recht einfach zu fassenden Begriff wie „Armut“ – wann ist davon auszugehen, dass eine Person arm ist? In der Regel ist mit dem Begriff eine wirtschaftliche Armut angesprochen und kein anderer Mangelzustand, den eine Person auch noch haben könnte. Aber geht es dann konkret (a) um relative Armut (bei der das zur Verfügung stehende Einkommen deutlich unter dem Durchschnitt eines Staates liegt – und was heißt dabei „deutlich unter dem Durchschnitt“?), (b) um absolute Armut (bei der laut Weltbank weniger als 1,25 US-$ pro Tag zur Verfügung stehen) oder (c) um gefühlte Armut (auch: sozio-kulturelle Armut, die diejenigen betrifft, die sich aufgrund ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Ausgrenzung als „arm“ betrachten; oder meint sie diejenigen, die Angst vor einer schlechteren wirtschaftlichen Lage haben und in ständiger Angst vor Armut leben, vgl. DIFA 2009)? Daher gründen in der empirischen Sozialforschung die Begriffe auf einer Übereinkunft der Forschenden, „die in jedem einzelnen Fall darüber befinden müssen, ob diese Begriffe theoretisch sinnvoll und empirisch praktikabel sind“ (ATTESLANDER 2006, S. 36). Weder Definitionen noch die Dimensionen oder die Verwendung von Begriffen sind eindeutig von einer Theorie ableitbar. Sie ergeben sich auch nicht aus der Wirklichkeit, sondern müssen tatsächlich in jedem spezifischen Fall definiert und hergeleitet werden. Ohne Begriffe können weder der Gegenstandsbereich der Forschung benannt noch Theorien, Hypothesen oder Modelle formuliert werden.

Theorie versus Hypthese

Nimmt man die oben genannte sehr basale Definition von Theorien als Annahmen über kausale Zusammenhänge als Grundlage, dann gibt es auf den ersten Blick keinen Unterschied zu dem Begriff der Hypothese, denn auch Hypothesen formulieren einen kausalen Zusammenhang von beobachtbaren Phänomenen. Sie sind zentraler Bestandteil jeglicher empirisch orientierter Fachdisziplinen. Alltagssprachlich werden Hypothesen auch mit „Vermutung“ oder „Meinung“ gleichgesetzt, was in gewisser Weise richtig ist, denn ein Zusammenhang wird ja nur vermutet, gleichzeitig greift dieses Verständnis zu kurz.

Kriterien für Hypothesen

Eine wissenschaftliche Hypothese muss zahlreiche Kriterien erfüllen, sie „ist ein mit Begriffen formulierter Satz, der empirisch falsifizierbar ist“ (ATTESLANDER 2006, S. 37, zu dem Prinzip der Falsifikation siehe Kap. 2.2.2). Nehmen wir ein Beispiel für eine Hypothese: „Der Begriff der Heimat ist bei Menschen mit Migrationshintergrund mit mehr Dimensionen gefüllt als bei Menschen, die ihre Herkunftsregion nie verlassen haben.“

Daran lassen sich folgende Kriterien skizzieren:

1 Eine Hypothese ist eine Aussage (weder eine Frage noch ein Befehl). Diese Aussage muss zudem eine allgemeingültige, d.h. über den Einzelfall oder ein singuläres Ereignis hinausgehende Behauptung (All-Satz) sein.

2 Die Aussage der Hypothese enthält (mindestens) zwei semantisch gehaltvolle Begriffe: „Heimat“ und „Migration“.

3 Der Satz muss (zumindest implizit) die Formalstruktur eines sinnvollen Konditionalsatzes aufweisen, d.h. die Begriffe sind durch einen logischen Operator verbunden. In dem Beispiel ist das „wenn – dann“: Wenn Migration – dann ausgeprägter Heimatbegriff. Ein anderer logischer Operator wäre „je – desto“.

4 Die Aussage darf nicht tautologisch sein. Das wäre der Fall, wenn ein Begriff den anderen inhaltlich abdecken würde.

5 Die Aussage ist widerspruchsfrei, d.h. der eine Begriff schließt den anderen semantisch nicht aus.

6 Die Begriffe sind hinsichtlich Wirklichkeitsphänomenen operationalisierbar, d.h. sie lassen sich mit einer empirischen Realität konfrontieren.

7 Die Aussage ist potenziell falsifizierbar, d.h. es müssen empirische Befunde denkbar sein, die der Hypothese widersprechen.

Hypothesen sind im Vergleich zu Theorien „kleinere“ Sätze über vermutete Zusammenhänge, die sich konkret empirisch überprüfen lassen müssen. Theorien, vor allem solche mit einem hohen Abstraktionsgrad, lassen sich selten direkt für eine empirische Überprüfung operationalisieren. Daher werden Hypothesen eingesetzt, um einzelne Aspekte einer Theorie empirisch handhabbar und überprüfbar zu machen.

Theorie versus Modell

Modelle waren lange Zeit Stiefkinder in der wissenschaftstheoretischen Behandlung, die sich stark auf Theorien und ihre Erklärungsdimensionen konzentrierte. Das hat sich zwischenzeitlich geändert. Zahlreiche WissenschaftsphilosophInnen sprechen gerade Modellen, im Gegensatz zu Theorien, eine zentrale Bedeutung im Beschreiben und Analysieren von Phänomen zu, insbesondere wenn es sich um naturwissenschaftliche Phänomene handelt (vgl. BAILER-JONES 2005). Modelle „vermitteln“ gleichsam zwischen Theorie und den empirischen Befunden der Beobachtung, da sich Theorien in der Regel nur in einer ausgesprochen allgemein gehaltenen Weise auf die empirisch erfahrbare Welt beziehen. Einer der Hauptunterschiede zwischen Theorie und Modell besteht darin, dass Theorien zwar das Potenzial haben, auf empirische Phänomene angewendet zu werden, aber das eigentliche Anwenden von Theorien auf empirische Phänomene im Rahmen von Modellen stattfindet (vgl. BAILER-JONES 2004, S. 140).

Merkmale von Modellen

Laut der Allgemeinen Modelltheorie ist ein Modell eine für bestimmte Zwecke vereinfachende Darstellung der Wirklichkeit und verfügt über folgende zentrale Merkmale (vgl. STACHOWIAK 1973, S. 23f.):

1 Abbildung: Ein Modell ist ein Abbild von etwas, eine Repräsentation natürlicher oder künstlicher Originale, die selbst wieder Modelle sein können.

2 Verkürzung: Ein Modell erfasst nicht alle Attribute des Originals, sondern nur diejenigen, die relevant erscheinen (relevant für diejenigen, die das Modell erzeugen, oder für diejenigen, die es nutzen sollen).

3 Pragmatismus (Orientierung am Nützlichen): Ein Modell ist einem Original nicht von sich aus zugeordnet. Die Zuordnung wird vielmehr durch die Fragen: „Für wen? Warum? Wozu?“ bestimmt. Ein Modell wird innerhalb einer bestimmten Zeitspanne und zu einem bestimmten Zweck eingesetzt. Das Modell ist somit interpretiert und zweckgerichtet.

Modell ein Abbild der Realität?

Diese Beschreibung der Merkmale von Modellen verdeutlicht, dass es einen „Bruch“ zwischen der Wirklichkeit und dem Modell gibt. Dieser Bruch erfolgt bereits durch die Auswahl der Attribute, die zur Modellbildung herangezogen werden, und setzt sich in der Absicht oder der Funktion fort, die ein Modell verfolgt oder erfüllen soll. Dass Modelle in den Sozialwissenschaften (und damit in der Humangeographie) keineswegs ein „Abbild der Realität“ sind und auch nicht sein können, ist vermutlich leichter nachvollziehbar. In den Naturwissenschaften (und damit in der Physiogeographie) dagegen findet sich eher der Anspruch, dass Theorien und (im obigen Sinne insbesondere) Modelle die empirische Wirklichkeit beschreiben sollen, „so wie sie ist“ (zu den erkenntnistheoretischen Positionen des Realismus siehe Kap. 2.2.2).

Modelle als Repräsentation

Somit stellt sich die generelle Frage nach der Repräsentationsleistung von Modellen: Beziehen sich Modelle in einer Weise auf empirische Phänomene, dass sie auch „tatsächlich“ realistisch interpretiert werden können? Betrachtet man naturwissenschaftliche Modelle genauer, dann zeigt sich schnell, dass sie „nicht gerade Traumkandidaten“ (BAILER-JONES 2004, S. 142) für eine realistische Beschreibungsform naturwissenschaftlichen Wissens sind. Denn sie zeichnen sich häufig durch Ungenauigkeit, Inkonsistenz und Aspekthaftigkeit aus. BAILER-JONES fasst die zentralen Aspekte von Modellen zusammen, die naturwissenschaftliche Phänomene repräsentieren sollen (vgl. ebd., S. 152), und zeigt, dass auch naturwissenschaftliche Modelle interessenabhängig sind, etwas, worauf auch der Modelltheoretiker STACHOWIAK (1979) hingewiesen hat. Modelle werden vielmehr unter pragmatischen Erwägungen entwickelt; sie sollen eine bestimmte Funktion erfüllen und können daher ein Phänomen nicht in allen seinen Eigenschaften beschreiben, vielmehr werden bestimmte Aspekte selektiert. Die Funktionsabhängigkeit und Aspekthaftigkeit von Modellen verdeutlichen, dass erst entschieden werden kann, ob ein Modell ein Phänomen repräsentiert, wenn es jemanden gibt, der die Entscheidung trifft, für welchen Aspekt eines Phänomens ein Modell verwendet werden soll und in welcher Funktion (vgl. BAILER-JONES 2004, S. 157f.). Zwar könnte man eine Repräsentationsbeziehung zwischen Modell und empirischer Wirklichkeit behaupten, auch wenn die Modellverwendung entfällt (es also bspw. keine Wissenschaftler gibt, die das Interesse an dem Phänomen vertreten). Doch wozu sollten diese Modelle dann da sein, ohne Fragestellung und Interessenvertreter wären sie schlicht uninteressant. Diese Überlegungen werfen zugleich die Frage nach der Existenz bewusstseinsunabhängiger Strukturen in der Wirklichkeit auf. Das ist das Thema in Kapitel 2.2.

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