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2 „Wahrheit und Methode“ – Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Geographie

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Ziele der Wissenschaft

Die Wissenschaft ist ein eigenes Teilsystem in der funktional differenzierten Gesellschaft und einem hohen Ziel verpflichtet: „Das oberste Erkenntnisziel der Wissenschaft besteht in der Findung von möglichst wahren und gehaltvollen Aussagen, Gesetzen oder Theorien, über einen bestimmten Gegenstandsbereich“ (SCHURZ 2006, S. 23, Hervorhebungen im Original). Als „gehaltvoll“ gilt dabei ein Satz, wenn sich daraus zahlreiche logische und empirische Konsequenzen ableiten lassen. Die Frage nach der Wahrheit einer Aussage ist dagegen nicht so einfach zu beantworten.

„Wahrheit“

Wann ist eine Aussage „wahr“? Das hängt vor allem davon ab, welcher Wahrheitsbegriff der wissenschaftlichen Suche zugrunde liegt – die absolute Wahrheit, eine relative Wahrheit (relativ wozu?) oder die Wahrheit als struktureller Korrespondenzbegriff (vgl. SCHURZ 2006, S. 26)? Die Wahrheit (und damit implizit die Frage nach der Wissenschaft selbst) wird uns im Laufe dieses Kapitels noch öfter begegnen, denn ihr Inhalt wandelt sich in Abhängigkeit der erkenntnistheoretischen Position (siehe auch Kap. 2.2.5).

Theorien als „Anleitung“ wissenschaftlichen Arbeitens

Wissenschaftliches Denken und Arbeiten ohne Theorien ist undenkbar. Auf der Suche nach „möglichst wahren und gehaltvollen Aussagen“ benutzen wir Theorien, Hypothesen und Modelle, um uns den Problemen und Fragestellungen überhaupt nähern zu können und um eine Art Anleitung zu haben, wie wir bei der Datensammlung und der Analyse vorgehen können. Solches oder Ähnliches kann man in jeder Handreichung zum wissenschaftlichen Arbeiten finden.

Geographische Praxis

In der Praxis entstehen geographische (Qualifikations-)Arbeiten jedoch oftmals ganz anders, darauf hatte schon GERHARD HARD vor gut dreißig Jahren hingewiesen (HARD 2003, S. 39ff., 315 ff.). Die Geographin oder der Geograph zieht los (oder wird von der betreuenden Person der Arbeit losgeschickt), um sich „im Gelände“ oder „im Feld“ zu orientieren und zu schauen, was das Thema dort so „hergibt“ oder ganz allgemein: „was da so los ist“. Dabei kann es sich um Hangrutschungen in einer bestimmten Region handeln, um eine spezifische Tourismusform in einem „exotischen“ Land, um Gletscherformen in einem Hochgebirge, um Strategien von Migranten aus der „unterentwickelten“ Region X im „Hochentwicklungsland“ Y usw. Die bearbeitende Person kommt mit einer mehr oder minder großen Zahl an Beobachtungen und Daten zurück und beginnt, die Arbeit „zusammenzuschreiben. Zu irgendeinem Zeitpunkt vor der Abgabe der Arbeit kommt dann in der Regel der Hinweis von der betreuenden Person, dass der empirischen Arbeit ein theoretisches Kapitel vorangestellt sein muss, in dem die gewählten theoretischen Ansätze und die daraus resultierenden Methoden benannt und beschrieben werden. Bei fortgeschrittenen Arbeiten (Dissertationen oder anderes) entfällt dieser Hinweis, da diese Vorgehensweise als „gelernt“ vorausgesetzt werden kann.

Notwendigkeit von Theorie?

Diese Praxis impliziert, dass in der Geographie weder für die Formulierung der Fragestellung noch für die Operationalisierung (also für die Umsetzung der Fragestellung in ein Forschungsdesign und die Wahl der Methoden) oder die Datensammlung Theorie notwendig ist. Das Resultat sind Arbeiten, die ein mehr oder minder akribisch und detailliertes empirisches Fallbeispiel beinhalten, aber mit dem vorangestellten „Theorieteil“ wenig bis gar nichts zu tun haben. Dass dies nichts Neues ist, zeigt folgendes Zitat:

„Die Geographie ist lange der Stein des Anstoßes und des Aergernisses für viele Schulen und Schulmänner gewesen, weil man nicht recht wusste, was man aus ihr machen sollte. Da man dies hier und dort bis jetzt noch nicht weiß, so musst die Geographie noch oft mit Recht und Unrecht, je nachdem sie getrieben wird, den Vorwurf des rohen Materialismus, des geistlosen Realismus hinnehmen. Zwar ließe sich dieser Tadel, der namentlich von den Gymnasien ausgeht, auf diese selbst zurückwerfen, […]; aber dennoch ist […] die Geographie von einer Vorliebe für Gedächtniskram nicht ganz frei zu sprechen, weshalb in ihr gerade eine Reform nöthig ist. […].

Etwas Geographie sollte jeder Gebildete verstehen, er soll mehr oder weniger in der Welt Bescheid wissen, soll eine Zeitung lesen und erzählen können, was es hier und dort Sehenswertes giebt. Die Geographie wird somit ein Ragout aus allen Wissenschaften, die es auf Gottes Erdboden giebt. Was nirgends Unterkommen findet, wird in der Geographie unter das Dach und Fach irgend eines Paragraphen gebracht; denn hier ist von Sonne und Mond, von Käfern und Sonnensystemen, von Thermometern und Buddaismus, von Kamschadalen und venetianischen Gondelführern, vom Indigo und vom Porzellanthurm, von Luft und Gesteinen, von Fabriken und Mosquitos die Rede; von Pyramiden und Termiten, vom Walfischfange und Lederbereitung, von Göthe und Vitzliputzli wird in bunter Reihe unterrichtet, wie es die zufällige Aufeinanderfolge des Raumes gerade mit sich bringt. Keine Hanswurstjacke kann aus bunteren Flicken bestehen, als das Aeußere der Geographie“ (KÖRNER 1847, S. 54, Hervorhebungen H.E., hier zitiert aus SCHULTZ 2003a, S. 81).

Pointiert gesagt, hat sich seit dem Jahr 1847, in dem FRIEDRICH KÖRNER dies über die Geographie als Unterrichtsfach publizierte, nur geändert, dass wir nun wissen, dass auch in der Geographie zu einer wissenschaftlichen Arbeit ein theoretisches Kapitel vorangestellt gehört. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wozu in der Geographie überhaupt Theorien notwendig sein sollen, wenn wissenschaftliche Arbeiten offensichtlich ohne theoretische Vorüberlegungen und Entscheidungen geschrieben werden können. Das folgende Kapitel stellt daher zunächst die Frage „Wozu Theorie?“ und soll dazu beitragen, zu einem frühen Zeitpunkt der wissenschaftlichen Arbeit eine begründete Wahl für (oder gegen) bestimmte Theorien treffen zu können.

Theoretische Geographie

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