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1 Einleitung: Wozu Theoretische Geographie?

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Geographie als empirische Wissenschaft

Die Geographie als wissenschaftliche Disziplin ist aus ihrem Selbstverständnis heraus eine stark empirisch geprägte und vorwiegend an Problemen orientierte Forschungsrichtung. Das hat auch historische Gründe, denn der klassische Auftrag der Geographie war es, etwas auf der Erde Gesehenes (etwa in fernen Ländern oder unbekannten Regionen) detailliert zu beschreiben und zu ordnen (Geographie nach griech. geographia = Erdbeschreibung). Heute hat sich der Auftrag der wissenschaftlichen Geographie selbstverständlich erweitert – es geht um Analyse und Interpretation, um Prognosen und Handlungsempfehlungen. Dennoch versteht sich die Geographie im Wesentlichen als „angewandte Wissenschaft“, aus ihrem Selbstverständnis heraus geht es ihr um die „reale“ Welt und um Probleme in dieser „realen“ Welt und damit weniger um ein Nachdenken über die Welt. Das mag der Grund dafür sein, warum wir uns in der Geographie nur selten fragen, was das eigentlich ist: die Welt, die Realität, mit der wir uns beschäftigen.

Realität?

Woher wissen wir, wann wir eine „wahre“ Aussage getroffen haben, wann wir etwas „richtig“ beschrieben oder „richtig“ analysiert haben? Die Messlatte zur Überprüfung der Richtigkeit von Ergebnissen oder Aussagen wäre die „Wirklichkeit“ selbst, aber woher wissen wir von ihr? Wann haben wir sie richtig getroffen, wann erreicht? Die Frage ist also: Welche Möglichkeiten des Zugangs zur Welt außerhalb unsers Bewusstseins haben wir?

Propädeutikum

Dies ist eine der Fragen, die in ein wissenschaftstheoretisches Propädeutikum (d.h. Einführung in unabdingbare Kenntnisse vor dem Studium) am Anfang jeglicher wissenschaftlicher Bildung und Ausbildung für Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften gehören. Für eine Einordnung der eigenen Erkenntnisse in einen größeren Kontext einerseits und andererseits für das Wissen um die Relativiertheit der eigenen Position ist es unabdingbar, sich mit Fragen der Ontologie (der Wissenschaft von den Grundstrukturen der Realität) und Fragen der Epistemologie (Erkenntnistheorie) zu konfrontieren. Warum tue ich das, was ich tue (z.B. die Anwendung einer bestimmten Methode oder Theorie)? Und warum tue ich es in dieser Weise? Welche anderen Möglichkeiten gibt es? Welche Erkenntnis ist mit meiner Vorgehensweise möglich? Wo liegen die Grenzen und worin bestehen die Potenziale? Das eigene Denken und die wissenschaftliche Arbeit bergen durchaus Überraschungen, die sich durch diese Fragen entdecken lassen.

Theoretische Geographie

Die starke Anwendungsorientierung der Geographie mag auch der Grund dafür sein, warum es bislang keine „Theoretische Geographie“ als Teildisziplin des geographischen Wissenschaftskanons gibt. Zwar werden theoretische Grundlagen des Faches in vielen Lehrveranstaltungen – meist als Gegenstand einer der ersten Sitzungen – behandelt, allerdings bleibt es vielfach allein bei einer Darstellung der historischen Entwicklung der Teildisziplinen. Teilweise werden auch in einer oder zwei Sitzungen Aspekte der Erkenntnistheorie und der „guten wissenschaftlichen Praxis“ angesprochen. Eine konzentrierte Beschäftigung mit grundlegenden Fragen jeder Wissenschaft findet sich (nach meiner Kenntnis) jedoch in kaum einem Curriculum, weder für das auslaufende Diplom- und Magisterstudium noch für die Bachelor- und Masterstudiengänge. Das vorliegende Einführungsbuch bildet eine Grundlage für diese Aspekte der Lehre und möchte dazu beitragen, dass (wissenschafts-)theoretische Grundlagen der Geographie zu einem festen Bestandteil geographischer Bildung und Ausbildung werden.

Was erwartet Sie und was nicht?

Man kann erwarten, dass Lehrbücher gesichertes Wissen einer wissenschaftlichen Disziplin vermitteln, und in diesem Sinne mag die Erwartung sein, dass es hier um die Vermittlung etablierter Fachtheorien (z.B. Standorttheorien, zentrale Orte oder Prozesstheorien der Geomorphologie usw.) gehen wird. Diese Erwartung wird bei dem vorliegenden Band enttäuscht werden und der Grund dafür liegt in der inhaltlichen Ausrichtung dieser „Theoretischen Geographie“. Es wird, vor allem in Kapitel 2, weniger um die detaillierte Darstellung von Fachtheorien gehen, als vielmehr um die erkenntnistheoretischen Grundlagen jeglicher wissenschaftlicher Arbeit und damit sozusagen um meta-theoretische (über den Fachtheorien liegende) Überlegungen, die die Basis für eine fundierte Anwendung und Weiterentwicklung von Fachtheorien bilden. Die Suche nach den Grenzen und Potenzialen wissenschaftlichen Erkennens steht einer Vermittlung von „gesichertem Wissen“ diametral gegenüber. Die Inhalte dieses Einführungsbandes sind gleichsam aller Auseinandersetzung mit Fachtheorien vorgeschaltet: Es geht um das, was man wissen sollte, um eine Fachtheorie in ihren Möglichkeiten und ihrer Tragweite einschätzen und somit begründet für das eigene Forschungsinteresse annehmen oder ablehnen zu können. In diesem Sinne ist diese „Theoretische Geographie“ zugleich eine „Geographie der Theorie“, da mit ihrer Hilfe eine Orientierung und Verortbarkeit des eigenen Standpunktes im Zusammenhang mit Theorien möglich wird.

Aufbau des Lehrbuches

Den Grundstein für eine Beobachtung des eigenen (wissenschaftlichen) Tuns legt Kapitel 2 mit den Ausführungen über die wissenschaftstheoretischen Grundlagen für die Geographie, mit Fragen nach den Möglichkeiten von Beobachtung, Wahrheit und Kausalität. Darüber hinaus bedarf es für ein Verständnis des eigenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns auch der Kenntnis der Strukturen der Wissenschaften. Denn nicht alles kann und darf zu jeder Zeit gedacht und erforscht werden. Für die eigene Verortung innerhalb des Faches ist es notwendig, die gültigen Paradigmen (d.h. wissenschaftlichen Strukturen und aktuellen Theorien) zu kennen und sich insbesondere des eigenen Paradigmas bewusst zu werden, in das man gleichsam „hineinsozialisiert“ (WEICHHART 2004, S. 14) wird. Gleichzeitig ist Wissenschaft weder losgelöst von Herrschaftsstrukturen, die sich vor allem über die Finanzierung von Forschung und Bildung ausdrücken, noch als unbeeinflusst von Ethik und Moral der Forschenden zu denken. Das ist das Thema von Kapitel 3, das zunächst in den theoretischen Rahmen von Paradigmen und Forschungsprogrammen einführt und dann den Fragen nachgeht, wem die Wissenschaft eigentlich dient und welchen Einfluss moralische Überlegungen in der Wissenschaft haben (oder haben dürfen, sollen?). Den Abschluss bildet ein genauerer Blick auf die Paradigmen in der Geographie.

Anschluss und Ausschluss mit anderen Lehrwerken

Entsprechend ihrem Selbstverständnis als empirische und vor allem als „angewandte“ Wissenschaft, ist die Geographie mit Einführungen in die Grundlagen der Wissenschaftstheorie nicht gerade reich gesegnet. Die letzte Einführung in die Wissenschaftstheorie für die Geographie, die in Buchform veröffentlicht wurde, stammt aus dem Jahr 1973 (HARD 1973). GERHARD HARD setzt sich darin (ganz zeitgemäß) kritisch und intensiv mit dem kurz zuvor (auf dem Kieler Geographentag 1969) zum Untergang verurteilten Landschaftskonzept auseinander (siehe auch Kap. 3.2) und blendet dabei bewusst eine Einführung in allgemeine wissenschaftstheoretische Überlegungen aus. Diese Lücke füllt HANS HEINRICH BLOTEVOGEL etwa ein Viertel Jahrhundert später mit einem eher informell zirkulierenden Diskussionspapier über „Konzepte der Wissenschaft und ihre Bedeutung für die Geographie“ (vgl. BLOTEVOGEL 1997). AXEL BORSDORF richtet in seinem gut etablierten Lehrbuch „Geographisch denken und wissenschaftlich arbeiten“ den Blick vor allem auf den inneren Aufbau der Geographie und bietet eine Einführung in die Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens (BORSDORF 1999). Darauf verzichtet der vorliegende Band vollständig, greift dafür das Thema „wissenschaftliches Denken“ deutlich intensiver auf und fokussiert die grundlegenden wissenschaftstheoretischen Überlegungen auf geographische Arbeits- und Themenfelder. Die beiden Bände werden sich in dieser Hinsicht sicherlich gut ergänzen.

„Theoretische Geographie“

Das erste Studienbuch mit dem Titel „Theoretische Geographie“ stammt von EUGEN WIRTH aus dem Jahr 1979 und ist der Versuch einer umfassenden kritischen Darstellung theoretischer Ansätze der damals als „angelsächsisch-schwedisch modern“ bezeichneten Geographie (vgl. WIRTH 1979, S. 7). Dass der Band von WIRTH bislang auch das einzige Lehrbuch zu diesem Thema geblieben ist, kann als ein deutliches Zeichen dafür gewertet werden, dass das Thema innerhalb der Geographie bislang keinen eigenen Stellenwert erlangen konnte. Daher kann man nach wie vor davon ausgehen, dass „bei der Theoretischen Geographie nichts zu einem irgendwie ,gesicherten Grundlagenwissen'“ (ebd., S. 8, Hervorhebung H.E.) gehört.

Ziele des Buches

Im Gegensatz zu EUGEN WIRTH, der mit seinem Studienbuch eine „Theoretische Kulturgeographie“ begründen und damit einen Beitrag zur „Abgrenzung und Ordnung einer geographisch relevanten Wirklichkeit“ (ebd., S. 12) leisten wollte, hat das vorliegende Einführungsbuch einen völlig anderen Anspruch. Es soll weder eine eigene Teildisziplin begründet noch soll eine umfassende Darstellung aller in der historischen Entwicklung der Geographie wichtigen Ansätze geliefert werden. Vielmehr liegt der Fokus und Anspruch auf einer Einführung in theoretisches Denken für die Geographie. Der Band richtet sich dezidiert an die gesamte Geographie (in einem weiten Sinne können sich auch LandschaftsökologInnen, KartographInnen und jegliche andere RaumforscherInnen angesprochen fühlen). Das vorliegende Buch soll

 eine Handreichung für Studierende und Lehrende sein, die sich mit den wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Geographie intensiver befassen möchten. Sollten Sie sich bislang noch überhaupt nicht mit erkenntnistheoretischen Fragen auseinandergesetzt haben, interessiert Sie vielleicht ein Vorher-Nachher-Bild Ihrer erkenntnistheoretischen Positionierung. Wenn das der Fall ist, dann nutzen Sie bitte das Erkenntnistheoretische Profil (siehe Kap. 2.2.2, Tab. 1, S. 27).

 als eine Hinführung an theoretisches Denken in der Geographie dienen. Damit ist es gleichermaßen für naturwissenschaftlich und sozial- oder geisteswissenschaftlich arbeitende Geographinnen und Geographen geeignet. Denn die Grundfragen der Wissenschaftstheorie bilden die Basis für jegliche wissenschaftliche Arbeit in der Geographie. Die Beispiele für die verschiedenen Aspekte wurden daher mit Bedacht sowohl aus human- als auch aus physiogeographischen Kontexten gewählt.

 als eine Einladung verstanden werden, sich durch die Auseinandersetzung mit Theorie (und den damit verbundenen Kontingenzen, d.h. Möglichkeiten und Alternativen) inspirieren zu lassen, das eigene Denken zu hinterfragen und vielleicht versuchsweise in andere Kontexte zu stellen. Das ist ein Abenteuer, für das man keine Reisen unternehmen muss.

Ich möchte Ihnen mit diesem Lehrbuch das Werkzeug an die Hand geben, selbst theoretisch zu denken und mit Theorien informiert und profund umgehen zu können, ganz im Sinne HEINZ VON FOERSTERS ethischem Imperativ: „Handle stets so, dass sich die Zahl der Wahlmöglichkeiten erhöht“ (FOERSTER 2002, S. 303). Nach dem Lesen dieses Bandes sollten sich Ihre Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit Geographie und auf die Arbeit an und mit Theorien erhöht haben – das ist das Ziel.

Danksagung

Ein derartiges Buch schreibt sich nicht von alleine. Mein Dank gilt Hans-Dieter Haas, dem Herausgeber der Reihe, für sein Vertrauen, seine Unterstützung und hilfreichen Hinweise. Der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft danke ich für den Mut, einen „Theorietitel“ für ihre Reihe GeoWissen kompakt in Auftrag gegeben zu haben, sowie für das genaue und kenntnisreiche Lektorat. Teile vorab gelesen und mit Kommentaren und Kritik nicht gespart haben Kirsten von Elverfeldt, Tanja Stein, Ute Wardenga sowie Peter Weichhart, dem ich darüber hinaus für seine unerschöpfliche Diskussionsfreude und kritisch-offene Haltung mir gegenüber danken möchte, die mich immer wieder dazu zwingt, meine Argumentation im Hinblick auf Theorie und Geographie, die „Wahrheit“ als strukturgebendes Element der Wissenschaft sowie einer konstruktivistischen erkenntnistheoretischen Position zu schärfen. Anton Escher danke ich für seine große Bereitschaft, mit mir die Auseinandersetzung über ungewöhnliche Themen zu suchen, was meine wissenschaftliche Entwicklung nachhaltig geprägt hat. Mein Dank gilt außerdem Peter Strunck – für alles, aber insbesondere für sein feines Gespür gegenüber jeglicher Nachlässigkeit. Es gilt jedoch selbstverständlich: Alle Fehler und Inkonsistenzen in der Darstellung sind allein von mir zu verantworten.

Und nun: Theorie und Geographie – lassen Sie sich auf das Abenteuer ein!

Theoretische Geographie

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