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Heike Wenig

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Wie Heiner und Anna nach Amerika kamen

1847 hatte Heiner schon länger keine Arbeit mehr. Wie sein Großvater und Vater hatte er das Handwerk des Seilers erlernt. In dem alten Städtchen Dorsten hatte es schon immer einige kleine Schiffswerften gegeben und zum Schiffbau wurden gute, starke Seile verwandt. Eine richtige Blütezeit hatte noch sein Vater erlebt, als die Lippe kanalisiert und Schleusen eingebaut wurden. Da nahm der Schiffbau in Dorsten einen Riesenaufschwung und das über seine Grenzen hinweg bekannte Schiff, die Dorstener Aak wurde in großer Stückzahl hergestellt. Es war eine Art Floß, das über die Lippe getreidelt wurde, d. h. an langen Tauen von Menschen oder Pferden den Fluss entlang gezogen wurde. Da wurden natürlich solche Handwerker wie Seiler gebraucht.

Sein Vater hatte es nicht mehr miterlebt, wie die Lippe anfing, zu versanden und wie es immer schwieriger wurde, die hergestellten Aaks dort hin zu transportieren, wo sie noch eingesetzt werden konnten.

Heiner war jung und versuchte sich, mit allerlei Aushilfsarbeiten über Wasser zu halten. Meist half er einer benachbarten Bäuerin, die frischen Lebensmittel nach Dorsten auf den Markt zu bringen. Und beim Verkaufen dieser Ware stellte er sich auch nicht schlecht an. Er sah gut aus. Wenn er am Verkaufsstand war, kamen auffällig viele junge Frauen an seinen Stand. Die Bäuerin sah es gern, weil sie dadurch fast immer ihre ganze Ware loswurde. Er machte die Arbeit gern, obwohl er tief in sich wusste, dass das keine Männerarbeit war. Aber er bekam einen kleinen Lohn und immer etwas zum Essen. Nur auf Dauer, das wusste er, musste sich sein Leben ändern.

Es gab viele Menschen so wie er, die zwar etwas Arbeit hatten, aber davon nicht leben konnten. Auf dem Marktplatz hörte er einige von ihnen erzählen, dass es in Amerika viel bessere Lebensbedingungen gäbe und dass man nach Amerika auswandern könne. Dieser Gedanke setzte sich in seinem Kopf fest und wo immer er etwas über Amerika erfahren konnte, saugte er dies Wissen auf.

Auf dem Markt kam sehr häufig ein junges Mädchen zu ihm und kaufte Eier und Fleisch ein. Sie war freundlich, offen und interessiert an allem, was um sie herum geschah. Sie kamen miteinander ins Gespräch und er erfuhr, dass sie die Tochter des Lehrers war. Sie war des Lesen und Schreiben kundig, hatte aber keine Vorbehalte, als er ihr sagte, dass er dies nie hätte lernen können. Schon früh habe er seinem Vater bei der Arbeit helfen müssen. Er wusste nicht, wieso, aber bald hatte sie ihn dazu gebracht, seine Lebensgeschichte zu erzählen und ihr auch seinen geheimen Traum von einem Leben in Amerika zu gestehen. Sie gefiel ihm sehr und bald schon musste er sich eingestehen, dass er sich in sie verliebt hatte. Aber dass diese Liebe keine Zukunft hatte, war ihm auch klar.

Sein Verhalten ihr gegenüber wurde abweisend, bis sie ihn schließlich fragte, ob sie ihm etwas getan habe. Sie wirkte traurig, als sie so vor ihm stand. Und so kam es, dass er ihr seine Liebe gestand und wie hoffnungslos das alles sei, sie eine Lehrerstochter und er ein armer Schlucker ohne richtiges Einkommen. Ihr Gesicht fing an zu strahlen und sie sagte, sie liebe ihn doch auch von ganzem Herzen und zusammen würden sie einen Ausweg finden, da sei sie sich ganz sicher.

Der Spätherbst war angebrochen und der Bauer beschied ihm, nun habe er keine Arbeit für ihn. Er solle sich doch wieder melden, wenn der Winter vorbei sei. Es kam eine Zeit, wo es ihm richtig schlecht ging. Von einigen Gelegenheits-arbeiten konnte er nicht leben. Seine Anna schmuggelte oft Brot und Wurst aus dem Haus und gab es ihm, wenn sie sich trafen. Auch das Treffen war schwieriger geworden, weil für sie die regelmäßigen Einkäufe auf dem Markt fort fielen.

Er wohnte auf einem kleinen Dorf ganz in der Nähe von Dorsten. Im Dorf und auch in dem Städtchen herrschte eine zunehmende Unzufriedenheit über die schlechten Lebens-bedingungen. Überall kam Unruhe auf. Als im Frühjahr 1848 Kunde von den Berliner Märzereignissen im Kreis Recklinghausen eintraf, zogen am Abend des 24. März in Dorsten etwa 30 bis 40 junge Menschen, hauptsächlich Handwerksgesellen, vor das Gerichtsgebäude, das Haus des Steuerempfängers, die Wohnungen einiger Gerichts- und Polizeibeamten und anderer Privatpersonen, um zu protestieren. Sie verlangten eine Änderung der bestehenden Verhältnisse und sozialen Schutz. Auch Heiner hatte sich den Menschen angeschlossen, aber beim Steinewerfen machte er nicht mit. Geholfen hatte ihnen das Protestieren nicht. Als die Unruhen am nächsten Tag weiter gingen, bildeten die Dorstener Bürger eine Bürgerwehr von drei Kompanien mit je 80 Mann und beendeten den Aufstand. Heiner konnte entfliehen. Andere wurden ins Gefängnis geworfen.

Als er seine Anna beim nächsten Treffen am verabredeten Ort sah, nahm sie ihn in die Arme und sagte, was für eine Angst habe sie um ihn gehabt. Und zuhause sei richtig viel Ärger mit dem Vater. Dieser habe von ihrer Freundschaft Wind bekommen, habe drei Tage getobt und sie mit seinem Kollegen, der nicht viel Jünger sei als er, verlobt. Jetzt plane die Mutter schon die Hochzeit. Nun, so sagte Anna, sei die Zeit gekommen, wo sie beide zusammen nach Amerika auswandern würden. Sie habe sich auch schon erkundigt und erfahren, dass in der nächsten Woche ein Treck von Auswanderwilligen in Recklinghausen aufbrechen würde. Und wenn er nicht wolle, dann würde sie allein auswandern. Heiner konnte fast nicht glauben, was sie da zu ihm gesagt hatte. Sie wollte mit ihm zusammen nach Amerika. Ja, dann schaffen wir das, rief er und wirbelte sie durch die Luft, bis sie in seinen Armen landete.

Wie verabredet, trafen sie sich nach einer Woche am Rande der Stadt. Jeder hatte einen Reisesack gepackt, nur mit dem Notwendigsten. Anna hatte aus dem Sekretär ihres Vater die Goldtaler, die ihr die Großmutter vererbt hatte und die laut Vater ihre Mitgift seien, heimlich an sich genommen. Das sei ihr beider Startkapital in Amerika, so sagte sie und hatte die Münzen gut an ihrem Körper verborgen. Sie schlossen sich dem Treck in Recklinghausen an, der fast nur aus jungen Leuten oder kinderreichen Familien bestand. Das Ziel war Bremen. Von dort aus konnten sie dann mit dem Schiff nach Amerika reisen.

Es war ein langer, beschwerlicher Weg. Schlafplätze und Essen mussten sie sich bei Bauern erbetteln. Einige aus dem Treck hatte etwas Geld und nahmen einen Planwagen für die weitere Reise. Heiner wollte das auch für seine Anna tun, aber Anna weigerte sich beharrlich. Das Geld ist für Amerika und nicht für hier. Dass sie einen festen Willen hatte, seine Anna, den sie dann auch eisern durch setzte, das hatte Heiner schnell gemerkt.

Nach vielen, vielen Wochen Wanderschaft unter schweren Bedingungen erreichten sie Bremen, von wo aus, wie sie wussten, regelmäßig ein Paketschiff nach Amerika fuhr. Sie blieben im Hafen, wo Heiner mit dem Kapitän des eintreffenden Schiffes aushandelte, dass er die Überfahrt abarbeitete. Dies wurde durch einen mündlichen Vertrag besiegelt. Für Anna bezahlte er die Reise. Den Preis dafür handelte er geschickt herunter, da er sie als seine Frau ausgab und sich mit einer engen Kabine für sie beide begnügte.

Was aber nun. Sie waren ja nicht verheiratet, wären es aber gern. Da machte er unter den auf die Überfahrt wartenden Menschen einen jungen Priester ausfindig und trug ihm seinen Wunsch, noch vor Abfahrt des Schiffes seine Anna zu heiraten, vor. Der Priester hatte in seinem kurzen Priesterdasein bereits vieles erlebt, war oft mit der Kirche nicht einverstanden gewesen und hatte auch mehrere Mischehen mit dem kirchlichen Segen versehen, was seinen Vorgesetzten gar nicht behagte. Deshalb war in ihm der Entschluss gereift, auszuwandern. Gott wird überall von den Menschen gebraucht, dachte er. So betrachtete er mit Wohlwollen das junge Paar und führte die Trauung in der kleinen Hafenkirche aus, ganz ohne Feierlichkeiten, aber mit einem Brautpaar, dessen Freude übermächtig war.

Die Überfahrt von Bremen nach New York dauerte 6 Wochen und Henner war durch die schwere Arbeit dünn und zäh geworden. Anna war oft seekrank. Das starke Schaukeln des Schiffes machte ihr sehr zu schaffen. Als aber das Schiff in den Hafen von New York einlief, standen sie beide an der Reling, er noch ganz verschmiert vom Öl der Maschinen, nahmen sich in die Arme, küssten sich und schauten auf ihr neues gemeinsames, Leben.

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