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Carl Ridder

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Hannes als Pennäler am Petrinum

Hannes kam auf das humanistische Gymnasium seiner Vaterstadt. Auf das Gymnasium Petrinum. Das Grün der Sextanermütze tauchte seine Sommersprossen in ein versöhnendes Licht. Die Farbe stand ihm gut. Es kam ihm vor, als habe eine neue Welt begonnen. Mit Eifer deklinierte er agricola: der Landmann. Er konnte es im Schlaf. Das Gymnasium war ein großer, aber nüchterner Bau. Die Nähe des Klostergartens wärmte seinen kalten Stein. Ein befreiender Blick aus seinen Westfenstern über das weite Land bis zu den Hardt Höhen gab dem Studium in diesen Räumen ein freundliches Gepräge. Des hohen Hauses Allgewaltiger war „Zeus“, der lebende Altgrieche. Lang aufgeschossen und hager, mit einem Gesicht, das an den leidenden Christus erinnerte, war er die ideale Verkörperung des Humanisten. In nachtwandlerischer Traumsicherheit schwebte er über den Gefilden Hellas, und sein Geist dehnte sich auf seinen Fluren bis an die „sonnenfingerige Eos“. Las Hannes’ Klasse mit ihm die Odyssee, geriet er jeweils in Verzückung. Er ließ die Sprache klingen und bei seiner wortgewaltigen Übersetzung zündete er bei seinen Schülern das Feuer und weckte in ihnen die innere Bereitschaft für dieses sein geliebtes Land. Er war einer der letzten großen Zeugen dieser seiner Welt. Was an Sonne und Schönheit und Größe und Sehnsucht von hier über die ganze Menschheit ausgestrahlt war, hatte er dürstend aufgefangen und wurde so der begnadete Mittler zwischen gestern, heute und morgen.

Nicht minder war dieser Schwabe ein Schwärmer für die deutsche Sprache. Meisterhaft, mit tiefstem innerem Nacherleben wusste er Gedichte von Hölderlin oder Mörike zu sprechen. „In ein freundlich’ Städtchen tret’ ich ein …“. Bis in sein hohes Alter hat dieser Schöngeist eine glühende Begeisterung für alles Edle und Große in sich wachsen und blühen lassen. Noch lange sah man ihn wie auf fernen Spuren wandelnd „makra bibas“ durch die Straßen der alten Stadt schreiten.

Des „Zeus“ engster Mitarbeiter war sein Pedell, der kleine Antonius Klingelberger. Er wird unvergessen bleiben. Er war Leichtgewicht und reichte dem „Alten“ bis an die Kniekehlen. Seine Füße stellte er stark nach außen, und als ehemals leichter Kürassier hatte er einen köstlich wippenden Gang. Daran waren die Pferde schuld. Sein riesiger Schnurrbart, etwas rötlich angehaucht, verdeckte die Hälfte seines schmalen Sergeanten Gesichts. Er war sein Prunkstück. Er hing an ihm und pflegte ihn mit Inbrunst. Pflichtbewusstsein und Pflichteifer saßen ihm tief in den Knochen. Er war peinlich gewissenhaft und ein Musterbeispiel dienender Treue. In die alte Stadt passte er haargenau hinein, und sein Bürgersinn trat lobend bei allen Volksfesten in Erscheinung.

Antonius wohnte in der Belvedere an der Stadtmauer. Heckenrosen und wilder Wein umrankten sie. Der nahe Patersgarten grenzte nach Norden an, und der Gesang der Vögel des heiligen Franziskus drang in jede ihrer Kammern. Wenn die Rosen blühten, war sie wie ein verwunschenes Schloss.

Die Ehehälfte des kleinen Pedells war Germanentyp und hatte viel Kraft und Molligkeit. Sie war eine üppige Frau. Beide passten nicht in diese träumende Burg mit ihren blühenden Rosen. Hochragend über die Stadtmauer hinweg, war sie ein Stück lebendiger Vergangenheit, und hinter ihren mit Holz verkleideten Wänden raunte die alte, behäbige und besinnliche Zeit. Hier stockte der laute Atem der Welt, hier hätte man Verse schreiben können. Die Ehe war nicht ohne Spannungen. Er fürchtete ihre Nähe und war in ihrer Reichweite mehr als untertänig. Nur beim Schwingen des Schulbesens fühlte er sich stark, aber auch nur dann, wenn beide ein Stockwerk auseinander waren. Ihre Liebe saß nicht tief.

Antonius war bösartig. Er war es geworden. Er lag ständig auf der Lauer, hinter allem vermutete er einen Schabernack. Schon ein leichtes Rappeln des Morgens mit der Klinke der großen, verschlossenen Schultür brachte ihn in Siedehitze. Er war im Grunde ein armer Kerl. Er fand keine Einstellung zur Jugend. Der Kasernenhof hatte ihn verdorben. Was er früher und auch jetzt noch mit „Hände an der Hosennaht“ einstecken musste, warf er in doppelter Auflage wieder auf die, die er beherrschte. Jene Warmherzigkeit eines väterlichen Freundes war seinem Wesen fremd, ohne Feierabendfreude schritt er seinen kleinen Pfad, gehetzt von dem „Alten“ und seinen Professoren und gequält von der Jugend, die seine Schwäche bald erkannt hatte. Alles Klingen in ihm, das er sicherlich einmal besaß, war verstummt. Vieles stritt er selbst durch. Oft in Schweiß gebadet. Wenn ihn aber seine Kräfte verließen, und er die Schuld nicht heimzahlen konnte, klagte er an. Wehe, wenn nun der klassisch-blaue Aktendeckel aus dem Zimmer des „Alten“ auf Wanderschaft ging. Wie ein König wippte Antonius dann triumphierend durch die Hallen und Klassenzimmer, allen Kummer und Ärger und Gram vergessend, rankten seine Schnurrbartspitzen gen Himmel, und durch seinen Mund floss es wie Honigwasser. Sein Freund und Gebieter, der mächtige „Zeus“ hatte zu seinen Gunsten entschieden.

Würdevoll im Geiste, im äußeren Bild ein wenig abgeschabt und ohne Glanz, mit Pelerine und Bratenrock, mit schimmerndem Koks und Regenschirm, mit Hosen wie Ziehharmoniken und ewig rutschenden, amüsierlichen Röllchen, die in der Stunde wie trojanische Wächter das Katheder zierten, so schritten allmorgendlich die ehrwürdigen Professorengestalten über die Schwelle der kleinen Universitas der alten Stadt. Hannes kannte sie alle. Ihre Höhen und Tiefen. Er wusste von ihren Eigenheiten, von ihren menschlichen Schwächen, von ihrer Reizbarkeit, aber auch von ihrem Zorn. Wenn bei „Stoppen“ die Nasenflügel wie die Nüstern eines dampfenden Pferdes bebten, hielt jeder den Atem an, denn „Ungeheuerliches“ musste nunmehr geschehen. Er hatte einen Feuerkopf. Er war ein großer Lehrmeister und unter seinem Havelock schlug ohne Rast ein edles Wollen.

Der „Dicke“ hatte es nicht leicht. Seine Gichtknoten und Willi Strutmann machten ihm das Leben sauer. Er konnte bis zur Rührseligkeit sanft sein. Am Stammtisch vergaß er allen Kummer. „Lupus“ war eine Pfundsrübe. Sie hatten ihn alle gern. Seine Witze gingen in einen Wäschekorb nicht hinein. Er wusste die Stunden zu würzen. Das war nötig. Wie oft lief der lateinische Nachen bei „Seppel“ auf Sand. Das knirschte nur so. Er liebte die Trockenheit und war ohne Salz. Doch war er peinlich gerecht und säte reiches Wissen.

Auch „Brüsserken“, Hohenpriester und Schriftgelehrter, war ohne Saft. Das kam wohl, weil er unmusikalisch war. Für sein „Ite missa est“ gab es keine Noten. Tinte und Kreide strich er mit Vorliebe in seinen schwarzen Rock. Der glänzte wie ein Spiegel. Spritzig war der „Kleine“. Er hatte draußen wie drinnen immer eine gute Naht drauf. Er war der Obermaat im Ruderverein. Wer bei ihm die Aufsätze „gut“ schrieb, konnte Dichter werden. Immer gut angezogen war „Ohm Paul“. Wenn er stolz sein gepflegtes Haupt in den Nacken warf, hatte er etwas Aristokratisches an sich. Die Mathematik war sein Steckenpferd. Sie wurde vielen zum Verhängnis. „Spen“ war Turnlehrer. Wäre er General gewesen, hätte Deutschland den Weltkrieg gewonnen. Der Truthahn und „Bossel“ waren verwandte Seelen. Was für den einen das rote Tuch, war für den anderen jede hüstelnde Regung. Er konnte das Echo seiner „Pompom“ nicht vertragen. Sonst steckten in seinem Germanenleib Herz und Gemüt eines Kindes. Er liebte die Jagd und seinen Jagdhund „Rollo“. Beide waren unzertrennliche Freunde, aber – schlechte Jäger. „Bossel“ schoss immer zu weit, und „Rollo“ sprang immer zu kurz. Wenn sie müde Feld und Flur verließen, war der Rucksack leer.

„Ballon“ machte eifrig in vaterländische Geschichte und schrieb Heimatgeschichte. Er kannte alle Königreiche der Erde. Er wusste ganz genau, wann „Isabella die Neugierige“ geboren und „Karl der Herausforderer“ gestorben war. Es war erstaunlich. Seine Freizeit opferte er der großen Politik. Sie war für ihn Dienst am Vaterland. Ein hohes und ein lustiges Lied konnte man von jedem singen. Keiner glich dem anderen. Und doch konnte man alle über einen Leisten schlagen. Alle waren Paladine der Wissenschaft. Die letzten einer sterbenden Zeit, die in ihrem engen Raum mit ihrem Trödel an der Wand verstaubte. Sie besaßen die Freiheit des Geistes, aber der Geist knebelte ihre Sicht. Die innere Besessenheit formte ihr äußeres Bild. Ohne dass sie es wussten, steckten sie voll Humor. Überall blitzten goldene Angriffsflächen. Man musste danach greifen.

Wehe nur, wenn im Scherz nicht maßgehalten und die Schalous und ewigen Taugenichtse den Bogen überspannten. Dann fiel die klassische Ruhe dieser sonst gutmütigen Humanisten wie Kalk von der Wand, und in der Nacktheit ihres bürgerlichen Gewandes vergaßen sie ihre hohe Bildung und Haltung. O du unvergessene Penne. Aus dem Auf und Ab der alten Stadt bist du nicht wegzudenken. Du warst ihr geistiges Herzstück. Du standst wie eine brennende Fackel am Aufgang zum Leben. Zum großen leuchtenden Leben. Aus deiner Schatzkammer streutest du in überreicher Fülle goldbestaubte Samenkörner, die hundertfältige Frucht in sich bargen. Alles war an dir Licht. Deine Professoren, deine Hallen und Klassenzimmer, ja sogar der kleine Pedell Antonius Klingelberger hatte mehr Sonne als Schatten. Nur Hand in Hand mit seiner Getreuen war er mehr Schatten als Sonne. Vivant sequentes.

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