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Die Revolution wirkt in die Weite

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Ohne Entstellung, nur mit Weglassung der Hauptsache wird jetzt meistens geurteilt, von Geschäftsleuten und anderem Durchschnitt, sofern er sich vorgeschritten gibt: aus einer ursprünglich verrufenen Wirtschaftstheorie habe die Union das Bestmögliche gemacht. Noch weltklüger könnten Idealisten nicht vorgehn. Sie lassen verdienen, sie zahlen ungleich, aber das Ganze bleibt, um dem harten Wort nicht auszuweichen, Kommunismus. Andere meinen im Gegenteil, Kommunismus sei das nicht mehr.

Die weggelassene Hauptsache betrifft das Moralische. Den neueren Begriff der Freiheit im Volk zu verbreiten, war kein Luxus, kein geistiger Überbau. Sondern gewisse wirtschaftliche Maßnahmen konnten wirksam werden und dauern, unter der Bedingung, daß ein Volk seine Freiheit begriff. Solange ein anderes Volk dabei beharrt, der einzige Wertmesser des Lebens sei das Geld; es könne nie genug verdient werden von wem immer; dem Reichen etwas zu nehmen, schädige auch den Armen, denn er wolle reich werden: solange fehlt für wirtschaftliche Neuerungen der Raum, der seelische Raum.

Wo noch geglaubt wird, daß der geglückte Erwerb eine genügende Rechtfertigung der Macht über Menschen sei, da ist die leichtgläubige Menge ihrer Mächtigen wert. Reformen würden fehlschlagen, bevor nicht die Moral erleuchtet ist. Die Macht ist durch eine erleuchtete Moral manchmal wohltätig geworden. Der Wille zur Macht als Ausgang und als Ende war von jeher das Übel selbst. Die alte Weisheit der christlichen Kirche hat an die Spitze der sieben Todsünden (der Sünden, die den Geist töten) den Stolz gesetzt. Der Stolz ist die Macht, der Wille zur Macht.

Das eigentlich Lebenswichtige war schon längst, die Macht unschädlich zu machen. Die Demokratien haben es versucht, sie teilten die Macht auf, sie wollten die zahllosen Mitbeteiligten der Macht abhängig von all und jedem. Sie übersehen nur, auf welche, vorgeblich unpolitische Art man Macht über Menschen erlangt. Durch den Besitz der Produktionsmittel. »Ein Land, das Arme und Reiche hat, ist nicht frei.« Dieser Satz allein, die Erkenntnis, die er ausdrückt, die Hoffnung, die er anspornt, begründet alle Sympathien, die heute der Sowjetunion gelten.

Denn er sei frei geboren, ist die einzige bleibende Vorstellung, die der Mensch von sich hat. Der erste Satz des Contrat Social: »L'homme est né libre et partout il est dans les fers«, drückt keine soziale Wirklichkeit aus, wohl aber die psychologische Wahrheit über den Menschen. Die Freiheit tatsächlich zu besitzen, bleibt seine Forderung – an sich, an die Welt und das Schicksal. Sie haben unendliche Auskunftsmittel erfunden, Parlamente, Gewerkschaften und Freiheitslieder, um nur diese drei zu nennen, damit sie sagen könnten, sie seien frei. Sogar die unverbindliche Erlaubnis, viel Geld zu verdienen, soviel wie die wenigen, die es wirklich verdienen, nennen sie Freiheit.

Der menschliche Durchschnitt müßte allerdings bedenklich werden, erführe er, daß die Sowjetunion keine allgemeine Versklavung vornimmt, wie man meistens hörte. Er könnte hier und da zu überlegen anfangen, wie es um seine eigene Freiheit steht, da er arm ist und dem Dutzend künftiger Reicher desselben Lebensalters näher besehen wohl schwerlich angehören wird. Das berührt sogar den geistig knapp gehaltenen Durchschnitt. Hinzugerechnet sei, daß die militärischen Erfolge der Sowjetunion auch ihre staatlich-wirtschaftlichen Einrichtungen etwas weniger verdächtig machen werden. Viel abergläubische Vorurteile beseitigt der Sieg.

Ihre beständigen Erfolge, gesetzt es gäbe Erfolge, die nicht schwanken, verzeichnet die Revolution dieses Jahrhunderts bei den Intellektuellen. Es müßte verwundern, wenn es anders wäre. Die französische Parallele versagt auch hier nicht. Die Revolution von 1789 hat, solange sie eine innere Angelegenheit Frankreichs schien, in den anderen Ländern nur die erregbaren Geister berührt. Schiller, der nationale Dramatiker der Deutschen, und Klopstock, Dichter des Messias und unvergeßlicher Oden, wurden für ihre intellektuelle Mittäterschaft ausgezeichnet mit dem Namen französischer Bürger. Der Konvent hat die Abwesenden zu Mitgliedern erhoben.

Die Völker lernten die Revolution erst kennen, als die Heere Napoleons sie ihnen in leiblicher Gegenwart vorführten. So viel an Teilerfolgen der menschlichen und öffentlichen Freiheit im Verlauf eines Jahrhunderts auf dem Kontinent eingebürgert wurde, ohne die Episode Napoleon hätte man weder den Antrieb noch den Vollzug gesehen.

Wenn die Parallele nicht versagen soll, wären die Sowjetarmeen gehalten, sich über Europa zu ergießen. Es wird geschehen oder nicht. Weder Berlin noch Paris sahen russische Sieger das erste Mal. Nachher kämen außerhalb des Ursprungslandes ihre bekannten Teilerfolge. Vollständigkeit würden sie nirgends erreichen. Bestritten wären sie immer. Die sich Kommunisten nennen – und noch lange im abfälligen Sinn so heißen würden – wären nicht mehr und nicht weniger als Progressisten. Sie hätten den neueren Begriff der Freiheit anerkannt. Ein Land ohne tiefste Armut und unbeschränkten Reichtum wäre frei.

Bis der neuere Begriff der Freiheit sich überall durchgesetzt hätte, wären diesmal nicht hundert Jahre, vielleicht wären nur die übrigen fünfzig dieses Säkulums hingegangen – man ist schnellfüßiger. Dann bestände noch immer keine zweite Sowjetunion. Völker, die innerhalb einer plausiblen Frist ihren Sowjetstaat nicht erworben haben, brauchen ihn nicht, oder wagen ihn nicht: das gilt gleichviel. Der Satz Bismarcks: »Die Politik ist die Kunst des Möglichen« behält recht, und zuerst muß es möglich sein, eine Nation zu überzeugen.

Dagegen ist nicht wahrscheinlich, daß dort, wo nahezu die Gesamtheit von der Freiheit im heutigen Verstande schon überzeugt ist, eine Zurückführung in vorige Zustände irgend Erfolg verspricht. Für einige Augenblicke hat im Frankreich des 19. Jahrhunderts die Reaktion triumphiert. Die bürgerliche Freiheit hatte für sich den Glauben und die Gewohnheit, sie ist jedesmal wiedergekehrt.

Die Sowjetunion darf sich kein Zurück erlauben. Es wäre nicht, wie einst in Frankreich, die vorläufige Unterbrechung der Revolution, sondern ihr Ende. Die reprivatisierte Wirtschaft verstaatlicht man nicht noch einmal. Das kostet mehr, als wenn eine bürgerliche Presse bald geknebelt, bald freigegeben wird. Es wäre für das Land der sozialistischen Revolution der innere Krieg, ein höchst mörderischer Krieg, der nicht nur diesen, sondern jeden Staat zerstören müßte. Die Wirtschaft wäre inzwischen reprivatisiert, aber nicht zugunsten Einheimischer. Das Ende wäre eine Fremdherrschaft.

Es ist lächerlich, an dergleichen unsinnige Kombinationen auch nur einen Gedanken und wenige Schriftzüge zu wenden – in dieser Zeit der leidenschaftlichen Verteidigung der Sowjetunion. Sie verteidigt sich gut, weil sie ihre Völker überzeugt hatte von der Güte der sozialistischen Freiheit. Ihre Völker verteidigen sie mit völliger Hingabe, weil sie ihr Land frei wollen und die Sowjets gleichsetzen dem Land und seiner Freiheit. Hier kämpfen die Erfahrungen eines Vierteljahrhunderts.

(Die Deutschen verteidigen – oder verteidigten bis gegen das schlimme Ende hin – gar nichts. Niemand hatte sie und ihr Land bedroht. Sie selbst waren die Angreifer jedes anderen Landes, und waren es einzig und allein, weil ihr Führer »immer recht hat«. Die Niederlage gibt ihm sichtbar Unrecht, da bleibt nur übrig, in heller Verzweiflung weiterzukämpfen.)

Die Völker der Sowjetunion sind überzeugt, nicht daß ein Mann »immer recht hat«, sondern ihr Land, ihre Idee, seine Einrichtungen haben heilig recht: daher die unwahrscheinlichen Arbeiten, die Opfer von schauriger Phantastik, aber so einfach dargebracht. Auf hoher Ebene verteidigt sich nur das Volk, das seine Revolution verteidigt. Ein innerer Krieg muß gewonnen und überstanden sein, damit die Nation es mit ganzer Seele verdient, einen verhaßten Eindringling aus dem Land zu jagen. Auch der noch? Auf ihn!

Vor diesem neuen Einbruch eines Schädlings haben sie es, gleich zu Anfang ihrer Revolution, mit ihren ersten Feinden zu tun gehabt, aufständischen Generälen des alten Regimes, verbündet mit fremden Expeditionsarmeen. Alle Mächte Europas waren, wie einst die Heilige Allianz, willens, den Herd der Revolution auszuräumen, bevor es zu spät wäre. Das sind haltbare Erinnerungen, weniger für die Mächte, die das Unliebsame schnell vergessen, als für die Leute der Sowjetunion. Sie sprechen: »Alle Schrecken des heutigen Krieges beiseite, in der größeren Gefahr waren wir damals, an unserem noch ungefestigten Beginn.«

Sie sind fertiggeworden mit den frühesten Feinden, die aus Furcht vor einer Weltrevolution die Oktoberrevolution ungeschehen zu machen dachten. Hiernach allein war in jedem Augenblick vorauszusehen, daß der Staat der Arbeiter und Bauern von einem späteren, zu späten Angreifer nicht mehr zu fassen sein werde. Er konnte schon längst nicht mehr sie, sie mußten ihn überkommen – wie furchtbar er übrigens wäre an Gewalt und List.

Von ihrer Entschlossenheit hatten die Sowjets vor aller Augen das Maß gegeben, – als sie den Verräter Tuchatschewski hinrichteten. Es gehört für jeden Staat etwas dazu, einen militärischen Befehlshaber mit tatsächlicher Macht nach dem Gesetz über Spionage öffentlich zu exekutieren. Eine moralische Autorität oberhalb der materiellen muß ihrer selbst außerordentlich sicher sein. (Hitler hat Generäle, die er haßte, heimlich beseitigt. Einer erlag während des Massenmordes vom 30. Juni 1934 einem Unbekannten. Der Gefürchtetste fiel an der Front, als der Feind nicht schoß.)

Ein Sowjetmarschall, der verrät, kann nichts anderes sein als Handlanger der Fremden, die wie er die Sowjets stürzen wollen. Über die böse Lust des Verräters hinaus und jenseits der Absichten von 1920 will dieser Feind das Land nehmen, ja, die Nation von ihrem Boden verdrängen. An die Stelle der Sowjets würde er keinen anderen setzen als sich selbst. Jeden Angreifer, nur diesen nicht, hätte der Tod des Marschalls gewarnt.

Ein Zeitalter wird besichtig

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